13. SIMEON UND HANNA „Aus der Sehnsucht der Raupe, als Schmetterling ihre Flügel ausbreiten zu dürfen, aus der Sehnsucht des Vogels im Käfig, im Urwald von Ast zu Ast zu hüpfen, aus der Sehnsucht der Eisdecke als Welle tanzen zu dürfen, aus der Sehnsucht der erloschenen Sterne, noch einmal leuchten zu dürfen, aus der Sehnsucht des Blinden, sehen zu können, aus der Sehnsucht des Verfolgten, Frieden zu finden, aus der Sehnsucht, nur aus Sehnsucht ist das Weltall aufgebaut“ schreibt der Priester und Schriftsteller Martin Gutl. Sehnsucht – dieses Ziehen im Herzen – wer könnte da nicht mitreden? Sehnsucht nach der Ferne oder nach Nähe, nach Frieden und Gerechtigkeit, nach einem glücklichen Leben: darunter tut es die Sehnsucht nicht. Sie überholt die kleinen und großen Wünsche des Alltags und geht „aufs Ganze“. Ja, die Sehnsucht ist sehr anspruchsvoll, und darum bleibt sie in der Regel unerfüllt. Aber sie setzt uns in Bewegung, macht uns unruhig, lässt uns suchen und alles Mögliche ausprobieren – doch dann müssen wir immer wieder feststellen: Nein, das ist es nicht, noch nicht – es muss doch mehr als alles das geben! Endstation Sehnsucht? Vielleicht ist es das, was die Advents- und Weihnachtszeit für uns so wichtig, so anziehend macht. Sie lässt uns jedes Jahr wieder neu mit unserer Sehnsucht in Berührung kommen – eine Ur-Sehnsucht, die wir in uns tragen: Sehnsucht nach Liebe; danach, vom Ganzen, vom Leben, von allem zutiefst angenommen und bejaht zu sein. Sehnsucht danach, dass einer sich einfühlt in mich, dass einer meinen Weg, mein Leben, meine Ängste und Hoffnungen, Wünsche und Begierden kennt. Kaum einer hat das so tief durchlebt wie der große Heilige Augustinus vor 1600 Jahren. Seine vielen Schriften zeugen von einer leidenschaftlichen, nicht kleinzukriegenden Sehnsucht. Und er bringt diese Sehnsucht auf einen Punkt und nennt sie beim Namen: GOTT. Das Psalmwort „Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Nach dir schmachtet mein Leib wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser“ (Ps 63,2) ist ihm auf den Leib und in die Seele geschrieben. Sehnsucht nach Gott! Woher kommt das nur? Augustinus sagt: „Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch!“ Eine unerhörte Vorstellung! Dann ist die menschliche Sehnsucht so etwas wie ein „Lockruf“ des unsichtbaren Gottes, der den Menschen suchen lässt. Bewusst in seinen Fragen, seinen Gebeten, Schriftlesungen und Gesprächen. Unbewusst in der Unruhe seines Herzens, im Umgetriebensein seiner Sehnsüchte, im Hunger nach „mehr“. Was ist es mit der Kraft der Sehnsucht in uns? Nehmen wir den Advent als Einladung, uns dieser Frage zu stellen. Mit dabei sind zwei Menschen aus dem Lukas-Evangelium. Sie gehören nicht zum „Stamm-Personal“ an der Krippe. Die beiden „Neuen“ sind SIMEON und HANNA. Warum sie dabei sind? Das wollen sie uns persönlich erzählen. Simeon beginnt: „Den Menschen meines Volkes Israel ging es schlecht. Das Leben war hart und mühsam. Ich sah die Tränen derer, die an Leib und Seele Gewalt erlitten. Und niemand tröstete sie, denn die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig. So redeten die Leute hinter vorgehaltener Hand: ‚Die Römer müssten vertrieben werden. Wir möchten frei sein.‘ Viele dachten: Gott hat uns verlassen. Sie fragten: ‚Wo ist dieser Retter, der Messias, den uns die Propheten versprochen haben, mit dem alles neu, besser werden sollte?‘ Was mich am Leben hielt? Es war die Sehnsucht nach dem Gott, der sich vor langer Zeit unserem Volk als der ‚Ich-bin-da-für-euch! geoffenbart hatte. Ihm wollte ich auf der Spur bleiben. Darüber bin ich alt geworden. Immer noch drängte es mich – wie seit vielen Jahren – jeden Tag in den Tempel zum Gebet. Ich sprach mit Gott, dankte, klagte, weinte, vertraute – wartete. Eines Tages kam eine junge Familie in den Tempel – mit einem Kind auf dem Arm. Es waren Maria und Josef mit dem kleinen Jesus. Zunächst war da nichts Außergewöhnliches. Das Kind trug keinen Heiligenschein. Ein kleiner Säugling, wie tausend andere Neugeborene auch. Die Eltern kamen, damit Gott es freundlich anschaut und es segnet. Doch plötzlich spürte ich: Dieses Kind, das war es, worauf ich jahrelang gewartet hatte. Meine Sehnsucht war an ihr Ziel gekommen. Ich ging auf Maria zu, bat um das Kind und schloss es in meine Arme: klein, unscheinbar, ohnmächtig – aber so vertraut. Und dann betete ich, wie ich noch nie gebetet hatte: ‚Gott, nun hast du erfüllt, was du mir versprochen hast. Jetzt kann ich in Frieden sterben, denn meine Augen haben den Messias, den Heiland gesehen, das Licht aller Völker, den Trost deines Volkes Israel‘ (Lk 2,29-32).“ Innerlich bewegt und erschöpft hält Simeon inne. Da tritt aus dem Schatten der Dunkelheit eine alte Frau. Ihre Haltung ist aufrecht, doch sie geht mühsam und stützt sich auf einen Stock. Ihre Augen sind jung und hellwach. Es ist Hanna. Sie holt tief Luft und beginnt laut zu sprechen: „Bitte, habt noch ein bisschen Geduld! Auch ich muss euch etwas erzählen. Ich kann nicht schweigen über dass, was ich gesehen und erlebt habe. 84 Jahre bin ich jetzt. Ich war noch jung, als mein Mann starb, noch keine 25 Jahre alt. Er starb, ohne dass ich einen Sohn geboren hatte. Mein Leben schien zu Ende. Mir blieb die Wahl, bitter zu werden, griesgrämig gegenüber jedermann, oder mich in mein Schicksal zu fügen und das Beste aus allem zu machen. Ich begann, intensiv auf Gottes Stimme zu hören und zu fragen, was er mir in dieser Situation sagen wollte. Schon meine Eltern hatten mich dies gelehrt. So füllte ich meine Tage mit Fasten und Beten. Wie die anderen Frauen und Männer um mich herum, erwartete ich den Messias. Gott würde ihn bald schicken – dessen war ich ganz gewiss. Es war doch sicher nicht von Gott gewollt, dass schon Jahrzehnte lang die Römer uns knebelten und knechteten. Ich wünschte es mir so sehnlichst, dass der Messias erscheinen würde – sichtbar und spürbar. So oft ich nur konnte – Zeit hatte ich genug – setzte ich mich in den Tempel. Dort – wo sonst? – würde ich den Messias sehen. Ja, und dann geschah es. Eines Tages betrat ein Paar das Heiligtum. Auf dem Arm der jungen Frau ein kleines Kind. Eines von unzähligen Paaren, die ihren Sohn in den Tempel brachten, um ihn von Gott segnen zu lassen. Doch da war etwas Helles, Lichtes, Strahlendes um sie und mit den Augen des Glaubens sah ich: ER war es – das Kind in dem Arm seiner Mutter war der von Gott gesandte Heiland der Welt. Trotz meiner müden Beine sprang ich auf, tanzte quer durch die Tempelhalle auf die kleine Gruppe zu und begann zu singen: ‚Endlich, alle Sehnsucht, alles Warten ist zu Ende. Christus, der Retter ist da! Heute ist er gekommen: Für Arme und Reiche, für Juden und Heiden, Gesunde und Kranke, für die ganze Welt. Gelobt sei Gott, Halleluja!‘“ Simeon und Hanna – zwei Urgestalten menschlicher Sehnsucht und Gottsuche. Simeon und Hanna – zwei Leitbilder für adventliche Lebenspraxis. Sie ermutigen uns, - daran zu glauben, dass Gottes Sehnsucht allen Menschen gilt – jedem und jeder von uns; - unsere Sehnsucht und unseren Glauben wach zu halten und auszuhalten – im Vertrauen auf Gott; - mit langem Atem dem Geheimnis Gott auf der Spur zu bleiben – auch in Situationen der Gottesferne, der Fremdheit Gottes und der damit verbundenen Zweifel und Anfechtungen; - unsere Sehnsucht, unsere Hoffnung, unser Vertrauen münden zu lassen in das Leben dieses Kindes in der Krippe – diesem großen Gott im unscheinbaren Anfang. Barbara Kynast 2006 1. Maria und Josef 2. Johannes der Täufer 3. Die (leere) Krippe 2008 2007 4. Der Stern 5. Sterndeuter 6. Kamel 7. Ochs und Esel 2009 8. Engel 9. Hirten 10. Schafe 11. Das Kind 12. Der Prophet Jesaja 13. Simeon und Hanna 14. Stephanus 15. Der Staunende WAS DIE KRIPPENFIGUREN ADVENT UND WEIHNACHTEN UNS ÜBER ERZÄHLEN
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