Morbus Menière? So sichern Sie die Diagnose

cme der mmw
zertifizierte fortbildung– folge 280
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Priv.-Doz. Dr. med. Leif Erik Walther
HNO-Gemeinschaftspraxis, Main-Taunus Zentrum, Sulzbach (Taunus)
Koautoren: Dr. med. I. Repik, Prof. Dr. med. K. Hörmann, UniversitätsHNO-Klinik Mannheim der Ruprecht-Karls-Univ. Heidelberg; Dr. med.
J. Löhler, Wissenschaftl. Institut für HNO-Heilkunde, Bad Bramstedt
In Zusammenarbeit mit der
Bayerischen Landesärztekammer
Direkt online teilnehmen unter www. cme-punkt. de
Schwindel, Hörbeschwerden, Tinnitus
Morbus Menière? So sichern Sie
die Diagnose
Den meisten Kollegen fällt beim Stichwort „Morbus Menière“ spontan die Symptomtrias Schwindel – Hörminderung – Tinnitus ein.
Allerdings liegt dieser Konstella­tion bei weitem nicht immer ein
Morbus Menière zugrunde. Einengen lässt sich der Verdacht durch
eine ausführliche Anamnese und eine gezielte Stufendiagnostik.
Kopfschmerzen einer der häufigsten
Grün­de für eine ambulante Konsulta­tion.
Geben die Patienten zusätzlich eine Hör­
störung und Tinnitus an, führt dies oft
zur Verdachtsdiagnose eines „Morbus
Me­­nière“. Die Auffassung, welche Er­
krankung sich hinter diesem Symptomen­
komplex verbirgt, hat sich in den letzten
Jahrzehnten entscheidend gewandelt. So
galt „Morbus Menière” früher als Sam­
melbezeichnung für Krankheiten mit der
Symp­tomtrias Schwindelbeschwerden –
Tinnitus – Hörstörung, die ätiologisch
nicht eindeutig zuzuordnen waren [7].
Im Laufe der Zeit sind mehrere Diffe­
renzialdiagnosen bekannt geworden, die
klar vom Morbus Menière abgegrenzt
wer­den können. Trotzdem treten auf­
grund der unterschiedlichen zeitlichen
Reihenfolge des Einsetzens der Sympto­
me sowie aufgrund „atypischer“, monooder bisymptomatischer Verläufe nicht
selten differen­zialdiagnostische Schwie­
rigkeiten auf. Ein „Morbus Menière”
wird daher deutlich öfter vermutet als es
gerechtfertigt wäre. Folge können un­
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güns­tige Auswirkungen auf die Krank­
heitsverarbeitung sein [12, 15].
Anamnese liefert die wichtigsten
Informationen
Schwindel ist das führende Symptom.
Der Patient schildert typischerweise ei­
nen „Schwindelanfall“, der mit oder oh­
ne Prodromi auftreten kann. Prodromi
sind meist eine Verstärkung eines vorbe­
stehenden Tinnitus, Ohrdrucks oder ei­
ner Hörminderung. Die Dauer dieses
Anfalls ist unterschiedlich lang (20 Mi­
nuten bis zu zwei Tagen).
Typischerweise wird über „einen sich
drehenden Raum“, das Unvermögen, die
Augen ruhig zu halten, eine einseitige
Hörminderung mit „Völlegefühl“ auf
dem betroffenen Ohr sowie nach dem
Anfall über tief dröhnende Ohrgeräusche
berichtet. Schwindel und Tinnitus bilden
sich nach 20 Minuten bis mehreren Stun­
den zurück, während sich das Hörvermö­
gen oft erst nach einem längeren zeit­
lichen Intervall von Stunden/Tagen nor­
malisiert. Wichtig für die Diagnosestel­
lung ist v. a. der Wiederholungscharakter.
© Dr. H. Schaaf
– Schwindelerkrankungen sind neben
Illustration eines Betroffenen: „Herausgerissen aus der Sicherheit des Gleich­
gewichtssystems.“
Achten Sie auf Nystagmen
Simultan mit dem Schwindel treten in
der Akutphase Nystagmen auf. Auf diese
sollte beim „Blick in die Augen“ geachtet
werden, der im Rahmen der Notfall­dia­
gnostik bei Schwindel immer in erster Li­
nie erfolgen sollte. Es handelt sich um ei­
nen horizontalschlagenden, rotatorischen,
richtungsbestimmten spontanen Nystag­
mus, der im engen zeitlichen Intervall zu
Beginn der Schwindelsensa­tionen nahezu
immer gesehen werden kann und doku­
mentiert werden muss. Während der At­
MMW-Fortschr. Med. Nr. 5 / 2011 (153. Jg.)
fortbildung –übersicht
tacke schlägt der Ny­stag­mus meist erst
zum betroffenen Ohr („Reiz­nystagmus“),
dann zum nicht betroffenen Ohr („Erho­
lungsnystagmus“). Ein Nystagmus ist ge­
meinsam mit dem Hörbefund (einseitige
tieffrequente Hörstörung) beweisend für
das auf das Innenohr beschränkte peri­
phervestibuläre Geschehen.
Die meist schnelle Normalisierung
von Schwindel und Hörvermögen füh­
ren dazu, dass bei einer ambulanten
Konsultation keine richtungsweisenden
Befunde erhoben werden können als die
Tatsache eines stattgefundenen Anfalls
selbst. Umso bedeutender ist der Stellen­
wert der Anamnese. Die Früh­dia­gno­se
eines Morbus Menière ist nicht einfach,
da initial nur etwa 20% der Patien­ten
die klassische Trias aus Schwindel, Tin­
nitus und Hörminderung aufweisen.
In 40% sind monosymptomatische
Verläufe wie rezidivierende Tieftonhör­
verluste erstes Zeichen eines Morbus
Menière. Tieftonschwankungen allein
reichen nicht für eine Diagnose aus
[13]. In weiteren 40% besteht initial
ein isolierter (Dreh-)Schwindel.
Unter Verdachtsdiagnosen leiden die
betroffenen Patienten oft mehr als unter
der erlebten Höreinschränkung [10,11].
Auch bei der vestibulären Migräne
kann die typische Trias des Morbus Me­
nière auftreten. Eine Abgrenzung ist oft
nicht einfach. Die vestibuläre Migräne ist
durch rezidivierende, Minuten bis Stun­
den anhaltende Schwindelattacken, meist
in Form eines Drehschwindels, gekenn­
zeichnet. Typisch sind simultan auftre­
tende Kopfschmerzen, Licht- und Lärm­
empfindlichkeit, mit oder ohne Aura so­
wie eine Verstärkung des Schwindels
durch Kopfbewegungen. Gelingt die Ab­
grenzung nicht, ist eine probatorische Be­
handlung mit Betablockern, Valproinsäu­
re oder Topiramat möglich [6].
Bakterielle oder virale Infektionen mit
Innenohrbeteiligung (Otitis media,
„Grippeotitis“) lassen sich mit dem Leit­
symptom Ohrenschmerzen abgrenzen.
Seltener ist die sog. Vestibularis­par­
oxys­­mie: Akute, nur Sekunden bis Minu­
ten dauernde Schwindelepisoden, bei de­
nen es sehr selten zu einseitigem Tinnitus
oder Hörminderung während der Atta­
cken oder im Verlauf kommen kann, her­
vorgerufen durch eine neurovaskuläre
Kompression nach Kontakt des N. ves­
tibulocochlearis mit einer Gefäßschlin­ge,
z. B. der A. cerebelli anterior inferior.
Differenzialdiagnostik
Der Morbus Menière ist definiert als rezi­
divierende idiopathische Erkrankung des
Innenohrs, die mit einem Endolymph­
hydrops einhergeht und zu Drehschwin­
delanfällen, Attacken von Schallempfin­
dungsschwerhörigkeit sowie typischer­
Im Rahmen der Anamnese sollten weitere
Differenzialdiagnosen abgegrenzt werden.
Ein Sekundenschwindel spricht mehr für
eine vaskuläre Genese, Lage- oder Lage­
rungsabhängigkeiten spielen bei der Ab­
grenzung eine wesentliche Rolle:
Eine orthostatische Dysregulation
geht neben Drehschwindel auch mit
einem „Schwarzwerden vor Augen“ ein­
her und dauert nur wenige Sekunden.
Beim sog. benignen paroxysmalen La­
gerungsschwindel (BPLS) tritt ebenfalls
ein plötzlicher, heftiger Drehschwindel
auf, der jedoch nie länger als eine Minute
andauert und immer lagerungsabhängig
ist. Meist ereignet sich ein BPLS beim
Drehen im Bett oder beim Bücken und
Wiederaufrichten. Tinnitus und Hörstö­
rung treten hierbei nicht auf, Probleme
können aber entstehen, wenn diese be­
reits einseitig vorbestehen oder ein thera­
pieresistenter oder rezidivierender Lage­
rungsschwindel vorliegt.
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Diagnostik-Kriterien des M. Menière
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weise tieffrequentem Tinnitus führt. Die
Anfälle sind nicht vorhersehbar [1].
Ein Menièreanfall ist nicht auslös­
bar, etwa durch Lage- oder Lagerungs­
änderungen, nicht zentral bedingt (ves­
tibuläre Migräne) und auch keine Er­
krankung des Mittelohrs.
Anfallsweise auftretende Schwindel­
attacken sind neben der langsam fort­
schreitenden Hör­störung und dem Ohr­
geräusch das Leitsymptom des Morbus
Menière; sie stellen die größte Beeinträch­
tigung der Lebensqualität dar. Der sub­
jektive Charakter der Schwindelempfin­
dung kann sich im Verlauf der meist über
Jahre anhaltenden Erkrankung ändern.
Sekundär können sich psychogene Folge­
erscheinungen (reaktiv-psychogener
Schwindel mit depressiven Ver­läufen und
Angsterkrankungen) entwickeln. Diese
Tatsache erfordert eine besondere Heran­
gehensweise im Rahmen der Differenzial­
diagnostik und Therapie [12].
Die amerikanische Fachgesellschaft der
HNO-Ärzte hat 1995 folgende Kriterien für
eine sichere Menière-Erkrankung definiert:
Zwei oder mehr Schwindelanfälle von
mindestens 20 Minuten Dauer,
nachgewiesene Hörminderung bei
mindestens einer Untersuchung,
Tinnitus und Ohrdruck auf dem be­
troffenen Ohr sowie
Ausschluss anderer Ursachen.
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Diagnostik beim Facharzt
Audiologische und Gleichgewichtsunter­
suchungen sind beim Morbus Menière
– Tabelle 1
Differenzialdiagnosen beim Morbus Menière
Differenzialdiagnosen Abgrenzung zum Morbus Menière
1. Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
Lagerungsabhängigkeit, Schwindel nicht länger als
eine Minute, kein Tinnitus, keine Hörstörung oder weitere Ohrsymptome (Ohrdruck, Völlegefühl)
2. Vestibuläre Migräne
Kopfschmerzen, Licht-/Lärmempfindlichkeit, im Zweifelsfall zur Abgrenzung Therapieversuch mit Betablockern, Valproinsäure oder Topiramat
3. Otitis media, Grippeotitis Ohrenschmerzen, ggf. Ohrsekretion, Fieber, Entz.
zeichen, Allgemeininfekt, Rötung des Trommelfells
4. Vestibularisparoxysmie
Pulsierendes Ohrgeräusch, Induktion durch Änderung
der Kopfposition, Besserung nach Carbamazepingabe
(niedrige Dosis), Nachweis eines Gefäß-NervenKontakts im Bereich des N. vestibulocochlearis
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fortbildung –übersicht
unverzichtbar. Das Ausmaß der Hörmin­
derung wird mittels Tonschwellenaudio­
metrie gemessen. Der Funktionszustand
der Bogengänge kann mit Verfahren wie
Kopfimpulstest, thermischer Prüfung mit
video­nystagmografischer Analyse qualita­
tiv und z. T. quantitativ bestimmt wer­
den. Mittels vestibulär evozierter myo­
gener Potenziale (VEMP) ist neuerdings
auch eine Analyse der Otolithenorgane
Sacculus und Utriculus möglich.
Die Psyche spielt eine wichtige Rolle
Bezogen auf alle Erkrankungen, die mit
dem Primärsymptom „Schwindel und
Gleichgewichtsstörungen“ einhergehen,
zeigen 30–50% der Patienten eine rele­
vante psychogene Mitbeteiligung; dies gilt
v. a. für rezidivierende organische Schwin­
delerkrankungen wie den Morbus Meniè­
re. Dem Patienten stellt sich das Unvor­
hersehbare, der heftige Drehschwindel mit
seinen vegetativen Be­gleiterscheinungen
als Herausgerissenwerden aus der ver­
meintlichen Sicherheit ihres Gleich­ge­
wichtssystems dar. Zudem droht sich dies,
anders als beim Vestibularisausfall, unab­
sehbar zu wiederholen [3, 8, 11, 12].
Dabei sind die Erlebnisse des Pa­tien­
ten und seine subjektiven Schilderungen
durch die vorausgegangenen Schwindel­
anfälle geprägt, obwohl sich das Gesche­
hen auch ohne organische Manifestation
bis dahin reaktiv verfestigt hat. Das heißt
konkret, dass auch ein Drehschwindel
empfunden und mit Hörverlusterlebnis­
sen und Tinnitus verbunden sein kann.
Es ist für die Medikation und den wei­
teren therapeutischen Verlauf wichtig,
dass die Betroffenen lernen, wie sich der
psychogene Schwindel von einem innen­
ohrbedingten Schwindel, aber auch von
anderen hinzugekommenen Schwindel­
formen (etwa kardial bedingte Schwin­
delformen, Lagerungsschwindel etc.) un­
terscheidet. Dazu wird dem Patienten ge­
raten, sich vor dem Schwindelereignis ei­
nen unverrückbaren Punkt (z. B. Türrah­
men) auszusuchen. So kann er überprü­
fen, ob sich „die Welt um ihn herum
bewegt“ (innenohrbedingter Anfall) oder
der Gegenstand sich mit dem Blick „fest­
halten“ lässt (psychogener Schwindel).
Ein weiteres selbstständig durchführ­
bares Unterscheidungskriterium besteht
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– Tabelle 2
Morbus Menière –
Stufentherapie
1. Medikamentöse Therapie
Anfallstherapie (6–12 Monate)
_ Dimenhydrinat
_ Lorazepam (sublingual)
Anfallsprophylaxe
_ Betahistin
3 x 12 mg oder höher
dosiert (Off-label use), cave:
Asthma, Phäochromozytom
_ Diuretika
(z. B. Hydrochlorothia­
zid, Azetacolamid)
2. Chirurgische Therapie
Funktionserhaltende Verfahren
_ Paukendrainage
_ Endolymphatische
Shunt-OP
Destruierende Verfahren
_ Intratympanale
Gentamicin­
applikation
_ Neurektomie
N. vestibularis
Therapieoptionen
In den vergangenen Jahrzehnten ist eine
Vielzahl von Therapiemethoden entwi­
ckelt worden [4, 15, 16]. Diese umfassen
die systemische medikamentöse The­
rapie (Glukokortikoide, Betahistin),
die lokale intratympanale Applikation
von Medikamenten zur Beeinflussung
der Innenohrfunktion (Glukokortiko­
ide, Gentamicin, Lidocain),
die Beeinflussung von Mittelohrdruck
und -mechanik sowie
funktionserhaltende und destruieren­
de chirurgische Verfahren.
Problematisch für eine individuelle
Therapieentscheidung sind die unklare
Ätiologie, der phasenhafte Verlauf der
Erkrankung und das niedrige Evidenz­
niveau vieler Behandlungsmethoden.
Wesentliche Faktoren für Zeitpunkt
und Wahl der Therapie sind
Alter und Zustand des Patienten,
berufliche Tätigkeit,
Anfallshäufigkeit,
Lebensqualität,
Dauer der Erkrankung,
Erfolg einer medikamentösen Thera­
pie und
Rezeptorstatus (Hörvermögen,
Grad der Funktionsstörung der fünf
Gleichgewichtsrezeptoren).
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für den Patienten darin, bei Schwindel
aufzustehen, fest aufzustampfen und zu
überprüfen, ob sich mit Geh- und Tret­
versuchen Standfestigkeit erlangen lässt
und ob dabei gar der Schwindel im Kopf
nachlässt. Damit kann auch der sich
meist unbewusst vollziehenden psycho­
genen Ausweitung des Schwindelerlebens
entgegengewirkt werden [10–13].
Endolymphatischer Hydrops als
pathophysiologisches Korrelat
Das pathophysiologische Korrelat des
Morbus Menière ist der endolympha­
tische Hydrops, also eine Zunahme der
Endolymphflüssigkeit. Eine Ursache wird
in einer verminderten Resorption der ka­
liumreichen Endolymphe im Ductus en­
dolymphaticus sowie v. a. im Saccus en­
dolymphaticus gesehen. Sicher ist auch,
dass der endolymphatische Hydrops
nicht alleinige Ursache für die attacken­
weise progrediente Funktionsminderung
der Cochlea und des Labyrinths darstellt.
So werden Hydropsereignisse auch ohne
Schwindelattacken beobachtet, und nicht
alle attackenweise auftretenden progre­
dienten Funktionseinschränkungen des
Innenohrs gehen mit Hydropsereignissen
einher. Im Gegensatz zur Pathogenese ist
die Ätiologie der Erkrankung jedoch bis
heute nicht geklärt [15, 16].
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Stufentherapie
In der Praxis hat sich eine Stufenthera­
pie bewährt (Tab. 2):
1 In einer ersten Stufe (6–12 Monate) ist
eine systemische medikamentöse The­
rapie (Anfallstherapie und Anfalls­pro­
phylaxe) indiziert.
2 Bei Fortdauer der Erkrankung oder
auch in einem kürzeren Zeit­intervall, z. B.
bei Häufung der Anfälle unter medika­
mentöser Behandlung, sind in Abhängig­
keit von den o. g. Faktoren zunächst funk­
tionserhaltende chirurgische Verfahren
(z. B. Legen einer Paukendrainage, endo­
lymphatische Shuntoperation) angezeigt.
Tritt der therapeutische Effekt nicht ein,
kommen wei­tere, die Funktion beein­
trächtigende Methoden zum Einsatz (in­
tratympanale Gentamicinapplikation,
Neurektomie des N. vestibularis). Heute
wird der intratympanalen Gentamicin­
applikation, die ambulant erfolgen kann,
der Vorzug gegeben.
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fortbildung –übersicht
Anfallstherapie
Die Anfallstherapie kann mit einem An­
tivertiginosum (z. B. Dimenhydrinat) er­
folgen. Falls anfallsartige Schwindelbe­
schwerden mit Prodromi vorliegen, be­
steht so die Möglichkeit einer Selbstbe­
handlung; der Wirkeintritt erfolgt relativ
schnell. Sind keine Prodromi vorhanden,
hat sich Lorazepam (sublingual in gerin­
ger Dosierung) bewährt. Bei rezidivie­
renden Anfällen muss jedoch das Abhän­
gigkeitspotenzial abgewogen werden.
Anfallsprophylaxe
Betahistin ist gekennzeichnet durch einen
H1-Agonismus und einen H3-Antagonis­
mus. H2-Rezeptoren gegenüber ist es na­
hezu inaktiv. Effekte auf die Steigerung der
Mikrozirkulation im Innenohr und Ein­
flüsse auf zentrale vestibuläre Neuro­nen
sind beschrieben. Der Beleg einer Evi­denz
steht jedoch aus. Alternativ ist ein Thera­
pieversuch mit Diuretika (z. B. Hy­dro­
chlorothiazid, Triamteren) möglich.
Was ist evidenzbasiert?
Zur medikamentösen und chirurgischen
Therapie finden sich in der Cochrane
Library aktuelle Studien [2, 3, 5, 14, 17]:
1 Zum therapeutischen Effekt von Be­
tahistin existieren bislang keine kontrol­
lierten, plazebokontrollierten Studien. In
einer offenen Anwendungsbeobachtung
an 112 Patienten war eine höhere Beta­
histin-Dosierung (3 x 48 mg/d) einer
niedrigeren Dosierung (3 x 16 bis 3 x 24
mg/d) signifikant überlegen.
2 Es gibt Hinweise für die Effektivität
der fixen Kombination von Cinnarizin
und Dimenhydrinat [19].
3 Diuretika sind bisher nicht evidenz­
basiert.
4 Die chirurgische Therapie (Chirurgie
des Saccus endolymphaticus) ist nach
evidenbasierten Kriterien bisher strittig,
hinsichtlich der Schwindel­symp­tomatik
gibt es Hinweise für eine Effektivität
bei Erst- und Zweiteingriffen vor de­
struierenden Eingriffen am Labyrinth
[20, 21].
5 Eine lokale medikamentöse Behand­
lung (intratympanale Gentamicinapplika­
tion) ist hinsichtlich Besserung bzw. Sis­
tieren der Schwindelattacken evidenzba­
siert. Eine mögliche Nebenwirkung ist
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die Ototoxizität mit Schädigung kochle­
ärer Haarzellen und persistierender Hör­
störung. Der Effekt einer Schwindelre­
duktion tritt nach der lokalen Gentami­
cin­applikation mit Verzögerung ein, so­
dass sich die Einmalgabe durchgesetzt
hat. Nach aktuellen Erkenntnissen rei­
chert sich Gentamicin v. a. in den vestibu­
lären Haarzellen Typ 1 an. Die fünf Re­
zeptoren des Gleichgewichtsorgans (drei
Bogengänge und die beiden Otolithenor­
gane Utriculus und Sacculus) können
durch diese Therapie dosisabhängig in ih­
rer Funktion gemindert werden. Nicht in
jedem Fall erfolgt jedoch eine „Ausschal­
tung“ der Gleichgewichtsfunktion. Eine
Restfunktion der Rezeptoren kann die
vestibuläre Kompensation fördern. Auf­
grund möglicher Hörschäden ist die The­
rapie auch von der Hörfunk­tion abhängig
zu machen; die Entscheidung wird bei
höhergradiger Hörminderung erleichtert.
Vorgehen bei psychogenem
Schwindel und Begleiterkrankungen
Bei Entwicklung von Angst und Depres­
sion sowie beim reaktiv psychogenen
Schwindel sollte zunächst eine intensive
Aufklärung des Patienten erfolgen, ggf. in
Kombination mit einer systematischen
Eigendesensibilisierung, die durch phy­
sio­therapeutische Maßnahmen unter­
stützt werden kann. Ggf. ist eine ergän­
zende kognitive Verhaltenstherapie sinn­
voll. Auch eine medikamentöse antide­
pressive Therapie kann begleitend durch­
aus indiziert sein. Diese sollte vom ärzt­
lichen Psychotherapeuten oder Psychiater
auf die spezielle Situation angepasst wer­
den. Wegen ihres Suchtpotenzials sind
Sedative und Tranquilizer, abgesehen von
der Notfallbehandlung, nicht indiziert.
Günstig ist das Einbeziehen von
Selbst­hilfegruppen (Kontakt über www.
tinnitus-liga.de und www.kimm-ev.de).
Bei der psychogenen Komponente
zeigt schon die Aufklärung über das
mögliche Wirkgeschehen, auch hin­
sichtlich der Konditionierungsvorgänge
und der Reizgeneralisierung, angstredu­
zierende Effekte [2, 10].
Verlauf und Prognose
Eine prognostische Aussage kann wegen
des phasenhaften Verlaufs gerade im
–
Frühstadium nicht getroffen werden.
Prinzipiell besteht bei einseitiger Lokali­
sation die Gefahr der späteren Entwick­
lung einer bilateralen Erkrankung.
Die Schwindelanfälle können bis
zum vollständigen Funktionsverlust der
fünf Rezeptororgane der Gleichge­
wichtsorgane auf einer Seite (Bogen­
gänge und Otolithenorgane) fortschrei­
ten. Nach Sistieren der Schwindelanfäl­
le verbleiben bei noch erhaltenem Hör­
vermögen ausschließlich als Druckge­
fühl wahrnehmbare kochleäre Anfälle.
Die Schallempfindungsschwerhörig­
keit zeigt im Verlauf der Erkrankung eine
fortschreitende Tendenz und kann in die­
sem Zeitverlauf von einem permanenten
Tinnitus begleitet werden [12, 15].
Im Langzeitverlauf zeigt sich eine Ver­
minderung der Schwindelattacken in
einem Zeitfenster von fünf bis zehn Jah­
ren. Damit geht ein zunehmender Hör­
verlust sowie eine Funk­tionsminderung
der Rezeptoren der Gleichgewichtsorgane
einher. Je länger die Erkrankung fortdau­
ert, desto wahrscheinlicher ist die Ent­
wicklung einer bilateralen Erkrankung
(ca. ein Drittel nach zehn Jahren, ca. die
Hälfte nach 20 Jahren) [18].
Literatur unter mmw.de
Für die Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med. habil. Leif Erik Walther
HNO-Gemeinschaftspraxis
Main-Taunus Zentrum
D-65843 Sulzbach (Taunus)
E-Mail: [email protected]
– Fazit für die Praxis
Der Morbus Menière erfordert eine
interdisziplinäre Differenzialdiagnostik
und Therapie. Medikamentöse sowie
funktionserhaltende und destruierende chirurgische Verfahren stehen zur
Verfügung. Psychogene Schwindelbeschwerden können sich auch dann manifestieren, wenn das Gleichgewichtsorgan seine Funktion längst verloren hat.
Eine sichere therapeutische Begleitung
kann wesentlich zum Coping beitragen.
– Keywords
Meniere's Disease: Etiology, Differential Diagnosis and Therapy
Menière disease – Vertigo – Dysequilibrium – Hearing loss – Tinnitus
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