cme der mmw zertifizierte fortbildung– folge 280 – – Priv.-Doz. Dr. med. Leif Erik Walther HNO-Gemeinschaftspraxis, Main-Taunus Zentrum, Sulzbach (Taunus) Koautoren: Dr. med. I. Repik, Prof. Dr. med. K. Hörmann, UniversitätsHNO-Klinik Mannheim der Ruprecht-Karls-Univ. Heidelberg; Dr. med. J. Löhler, Wissenschaftl. Institut für HNO-Heilkunde, Bad Bramstedt In Zusammenarbeit mit der Bayerischen Landesärztekammer Direkt online teilnehmen unter www. cme-punkt. de Schwindel, Hörbeschwerden, Tinnitus Morbus Menière? So sichern Sie die Diagnose Den meisten Kollegen fällt beim Stichwort „Morbus Menière“ spontan die Symptomtrias Schwindel – Hörminderung – Tinnitus ein. Allerdings liegt dieser Konstellation bei weitem nicht immer ein Morbus Menière zugrunde. Einengen lässt sich der Verdacht durch eine ausführliche Anamnese und eine gezielte Stufendiagnostik. Kopfschmerzen einer der häufigsten Gründe für eine ambulante Konsultation. Geben die Patienten zusätzlich eine Hör störung und Tinnitus an, führt dies oft zur Verdachtsdiagnose eines „Morbus Menière“. Die Auffassung, welche Er krankung sich hinter diesem Symptomen komplex verbirgt, hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend gewandelt. So galt „Morbus Menière” früher als Sam melbezeichnung für Krankheiten mit der Symptomtrias Schwindelbeschwerden – Tinnitus – Hörstörung, die ätiologisch nicht eindeutig zuzuordnen waren [7]. Im Laufe der Zeit sind mehrere Diffe renzialdiagnosen bekannt geworden, die klar vom Morbus Menière abgegrenzt werden können. Trotzdem treten auf grund der unterschiedlichen zeitlichen Reihenfolge des Einsetzens der Sympto me sowie aufgrund „atypischer“, monooder bisymptomatischer Verläufe nicht selten differenzialdiagnostische Schwie rigkeiten auf. Ein „Morbus Menière” wird daher deutlich öfter vermutet als es gerechtfertigt wäre. Folge können un 34 günstige Auswirkungen auf die Krank heitsverarbeitung sein [12, 15]. Anamnese liefert die wichtigsten Informationen Schwindel ist das führende Symptom. Der Patient schildert typischerweise ei nen „Schwindelanfall“, der mit oder oh ne Prodromi auftreten kann. Prodromi sind meist eine Verstärkung eines vorbe stehenden Tinnitus, Ohrdrucks oder ei ner Hörminderung. Die Dauer dieses Anfalls ist unterschiedlich lang (20 Mi nuten bis zu zwei Tagen). Typischerweise wird über „einen sich drehenden Raum“, das Unvermögen, die Augen ruhig zu halten, eine einseitige Hörminderung mit „Völlegefühl“ auf dem betroffenen Ohr sowie nach dem Anfall über tief dröhnende Ohrgeräusche berichtet. Schwindel und Tinnitus bilden sich nach 20 Minuten bis mehreren Stun den zurück, während sich das Hörvermö gen oft erst nach einem längeren zeit lichen Intervall von Stunden/Tagen nor malisiert. Wichtig für die Diagnosestel lung ist v. a. der Wiederholungscharakter. © Dr. H. Schaaf – Schwindelerkrankungen sind neben Illustration eines Betroffenen: „Herausgerissen aus der Sicherheit des Gleich gewichtssystems.“ Achten Sie auf Nystagmen Simultan mit dem Schwindel treten in der Akutphase Nystagmen auf. Auf diese sollte beim „Blick in die Augen“ geachtet werden, der im Rahmen der Notfalldia gnostik bei Schwindel immer in erster Li nie erfolgen sollte. Es handelt sich um ei nen horizontalschlagenden, rotatorischen, richtungsbestimmten spontanen Nystag mus, der im engen zeitlichen Intervall zu Beginn der Schwindelsensationen nahezu immer gesehen werden kann und doku mentiert werden muss. Während der At MMW-Fortschr. Med. Nr. 5 / 2011 (153. Jg.) fortbildung –übersicht tacke schlägt der Nystagmus meist erst zum betroffenen Ohr („Reiznystagmus“), dann zum nicht betroffenen Ohr („Erho lungsnystagmus“). Ein Nystagmus ist ge meinsam mit dem Hörbefund (einseitige tieffrequente Hörstörung) beweisend für das auf das Innenohr beschränkte peri phervestibuläre Geschehen. Die meist schnelle Normalisierung von Schwindel und Hörvermögen füh ren dazu, dass bei einer ambulanten Konsultation keine richtungsweisenden Befunde erhoben werden können als die Tatsache eines stattgefundenen Anfalls selbst. Umso bedeutender ist der Stellen wert der Anamnese. Die Frühdiagnose eines Morbus Menière ist nicht einfach, da initial nur etwa 20% der Patienten die klassische Trias aus Schwindel, Tin nitus und Hörminderung aufweisen. In 40% sind monosymptomatische Verläufe wie rezidivierende Tieftonhör verluste erstes Zeichen eines Morbus Menière. Tieftonschwankungen allein reichen nicht für eine Diagnose aus [13]. In weiteren 40% besteht initial ein isolierter (Dreh-)Schwindel. Unter Verdachtsdiagnosen leiden die betroffenen Patienten oft mehr als unter der erlebten Höreinschränkung [10,11]. Auch bei der vestibulären Migräne kann die typische Trias des Morbus Me nière auftreten. Eine Abgrenzung ist oft nicht einfach. Die vestibuläre Migräne ist durch rezidivierende, Minuten bis Stun den anhaltende Schwindelattacken, meist in Form eines Drehschwindels, gekenn zeichnet. Typisch sind simultan auftre tende Kopfschmerzen, Licht- und Lärm empfindlichkeit, mit oder ohne Aura so wie eine Verstärkung des Schwindels durch Kopfbewegungen. Gelingt die Ab grenzung nicht, ist eine probatorische Be handlung mit Betablockern, Valproinsäu re oder Topiramat möglich [6]. Bakterielle oder virale Infektionen mit Innenohrbeteiligung (Otitis media, „Grippeotitis“) lassen sich mit dem Leit symptom Ohrenschmerzen abgrenzen. Seltener ist die sog. Vestibularispar oxysmie: Akute, nur Sekunden bis Minu ten dauernde Schwindelepisoden, bei de nen es sehr selten zu einseitigem Tinnitus oder Hörminderung während der Atta cken oder im Verlauf kommen kann, her vorgerufen durch eine neurovaskuläre Kompression nach Kontakt des N. ves tibulocochlearis mit einer Gefäßschlinge, z. B. der A. cerebelli anterior inferior. Differenzialdiagnostik Der Morbus Menière ist definiert als rezi divierende idiopathische Erkrankung des Innenohrs, die mit einem Endolymph hydrops einhergeht und zu Drehschwin delanfällen, Attacken von Schallempfin dungsschwerhörigkeit sowie typischer Im Rahmen der Anamnese sollten weitere Differenzialdiagnosen abgegrenzt werden. Ein Sekundenschwindel spricht mehr für eine vaskuläre Genese, Lage- oder Lage rungsabhängigkeiten spielen bei der Ab grenzung eine wesentliche Rolle: Eine orthostatische Dysregulation geht neben Drehschwindel auch mit einem „Schwarzwerden vor Augen“ ein her und dauert nur wenige Sekunden. Beim sog. benignen paroxysmalen La gerungsschwindel (BPLS) tritt ebenfalls ein plötzlicher, heftiger Drehschwindel auf, der jedoch nie länger als eine Minute andauert und immer lagerungsabhängig ist. Meist ereignet sich ein BPLS beim Drehen im Bett oder beim Bücken und Wiederaufrichten. Tinnitus und Hörstö rung treten hierbei nicht auf, Probleme können aber entstehen, wenn diese be reits einseitig vorbestehen oder ein thera pieresistenter oder rezidivierender Lage rungsschwindel vorliegt. ó ó MMW-Fortschr. Med. Nr. 5 / 2011 (153. Jg.) ó ó ó Diagnostik-Kriterien des M. Menière – weise tieffrequentem Tinnitus führt. Die Anfälle sind nicht vorhersehbar [1]. Ein Menièreanfall ist nicht auslös bar, etwa durch Lage- oder Lagerungs änderungen, nicht zentral bedingt (ves tibuläre Migräne) und auch keine Er krankung des Mittelohrs. Anfallsweise auftretende Schwindel attacken sind neben der langsam fort schreitenden Hörstörung und dem Ohr geräusch das Leitsymptom des Morbus Menière; sie stellen die größte Beeinträch tigung der Lebensqualität dar. Der sub jektive Charakter der Schwindelempfin dung kann sich im Verlauf der meist über Jahre anhaltenden Erkrankung ändern. Sekundär können sich psychogene Folge erscheinungen (reaktiv-psychogener Schwindel mit depressiven Verläufen und Angsterkrankungen) entwickeln. Diese Tatsache erfordert eine besondere Heran gehensweise im Rahmen der Differenzial diagnostik und Therapie [12]. Die amerikanische Fachgesellschaft der HNO-Ärzte hat 1995 folgende Kriterien für eine sichere Menière-Erkrankung definiert: Zwei oder mehr Schwindelanfälle von mindestens 20 Minuten Dauer, nachgewiesene Hörminderung bei mindestens einer Untersuchung, Tinnitus und Ohrdruck auf dem be troffenen Ohr sowie Ausschluss anderer Ursachen. ó ó ó ó Diagnostik beim Facharzt Audiologische und Gleichgewichtsunter suchungen sind beim Morbus Menière – Tabelle 1 Differenzialdiagnosen beim Morbus Menière Differenzialdiagnosen Abgrenzung zum Morbus Menière 1. Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Lagerungsabhängigkeit, Schwindel nicht länger als eine Minute, kein Tinnitus, keine Hörstörung oder weitere Ohrsymptome (Ohrdruck, Völlegefühl) 2. Vestibuläre Migräne Kopfschmerzen, Licht-/Lärmempfindlichkeit, im Zweifelsfall zur Abgrenzung Therapieversuch mit Betablockern, Valproinsäure oder Topiramat 3. Otitis media, Grippeotitis Ohrenschmerzen, ggf. Ohrsekretion, Fieber, Entz. zeichen, Allgemeininfekt, Rötung des Trommelfells 4. Vestibularisparoxysmie Pulsierendes Ohrgeräusch, Induktion durch Änderung der Kopfposition, Besserung nach Carbamazepingabe (niedrige Dosis), Nachweis eines Gefäß-NervenKontakts im Bereich des N. vestibulocochlearis 35 – fortbildung –übersicht unverzichtbar. Das Ausmaß der Hörmin derung wird mittels Tonschwellenaudio metrie gemessen. Der Funktionszustand der Bogengänge kann mit Verfahren wie Kopfimpulstest, thermischer Prüfung mit videonystagmografischer Analyse qualita tiv und z. T. quantitativ bestimmt wer den. Mittels vestibulär evozierter myo gener Potenziale (VEMP) ist neuerdings auch eine Analyse der Otolithenorgane Sacculus und Utriculus möglich. Die Psyche spielt eine wichtige Rolle Bezogen auf alle Erkrankungen, die mit dem Primärsymptom „Schwindel und Gleichgewichtsstörungen“ einhergehen, zeigen 30–50% der Patienten eine rele vante psychogene Mitbeteiligung; dies gilt v. a. für rezidivierende organische Schwin delerkrankungen wie den Morbus Meniè re. Dem Patienten stellt sich das Unvor hersehbare, der heftige Drehschwindel mit seinen vegetativen Begleiterscheinungen als Herausgerissenwerden aus der ver meintlichen Sicherheit ihres Gleichge wichtssystems dar. Zudem droht sich dies, anders als beim Vestibularisausfall, unab sehbar zu wiederholen [3, 8, 11, 12]. Dabei sind die Erlebnisse des Patien ten und seine subjektiven Schilderungen durch die vorausgegangenen Schwindel anfälle geprägt, obwohl sich das Gesche hen auch ohne organische Manifestation bis dahin reaktiv verfestigt hat. Das heißt konkret, dass auch ein Drehschwindel empfunden und mit Hörverlusterlebnis sen und Tinnitus verbunden sein kann. Es ist für die Medikation und den wei teren therapeutischen Verlauf wichtig, dass die Betroffenen lernen, wie sich der psychogene Schwindel von einem innen ohrbedingten Schwindel, aber auch von anderen hinzugekommenen Schwindel formen (etwa kardial bedingte Schwin delformen, Lagerungsschwindel etc.) un terscheidet. Dazu wird dem Patienten ge raten, sich vor dem Schwindelereignis ei nen unverrückbaren Punkt (z. B. Türrah men) auszusuchen. So kann er überprü fen, ob sich „die Welt um ihn herum bewegt“ (innenohrbedingter Anfall) oder der Gegenstand sich mit dem Blick „fest halten“ lässt (psychogener Schwindel). Ein weiteres selbstständig durchführ bares Unterscheidungskriterium besteht 36 – Tabelle 2 Morbus Menière – Stufentherapie 1. Medikamentöse Therapie Anfallstherapie (6–12 Monate) _ Dimenhydrinat _ Lorazepam (sublingual) Anfallsprophylaxe _ Betahistin 3 x 12 mg oder höher dosiert (Off-label use), cave: Asthma, Phäochromozytom _ Diuretika (z. B. Hydrochlorothia zid, Azetacolamid) 2. Chirurgische Therapie Funktionserhaltende Verfahren _ Paukendrainage _ Endolymphatische Shunt-OP Destruierende Verfahren _ Intratympanale Gentamicin applikation _ Neurektomie N. vestibularis Therapieoptionen In den vergangenen Jahrzehnten ist eine Vielzahl von Therapiemethoden entwi ckelt worden [4, 15, 16]. Diese umfassen die systemische medikamentöse The rapie (Glukokortikoide, Betahistin), die lokale intratympanale Applikation von Medikamenten zur Beeinflussung der Innenohrfunktion (Glukokortiko ide, Gentamicin, Lidocain), die Beeinflussung von Mittelohrdruck und -mechanik sowie funktionserhaltende und destruieren de chirurgische Verfahren. Problematisch für eine individuelle Therapieentscheidung sind die unklare Ätiologie, der phasenhafte Verlauf der Erkrankung und das niedrige Evidenz niveau vieler Behandlungsmethoden. Wesentliche Faktoren für Zeitpunkt und Wahl der Therapie sind Alter und Zustand des Patienten, berufliche Tätigkeit, Anfallshäufigkeit, Lebensqualität, Dauer der Erkrankung, Erfolg einer medikamentösen Thera pie und Rezeptorstatus (Hörvermögen, Grad der Funktionsstörung der fünf Gleichgewichtsrezeptoren). ó ó ó ó ó ó für den Patienten darin, bei Schwindel aufzustehen, fest aufzustampfen und zu überprüfen, ob sich mit Geh- und Tret versuchen Standfestigkeit erlangen lässt und ob dabei gar der Schwindel im Kopf nachlässt. Damit kann auch der sich meist unbewusst vollziehenden psycho genen Ausweitung des Schwindelerlebens entgegengewirkt werden [10–13]. Endolymphatischer Hydrops als pathophysiologisches Korrelat Das pathophysiologische Korrelat des Morbus Menière ist der endolympha tische Hydrops, also eine Zunahme der Endolymphflüssigkeit. Eine Ursache wird in einer verminderten Resorption der ka liumreichen Endolymphe im Ductus en dolymphaticus sowie v. a. im Saccus en dolymphaticus gesehen. Sicher ist auch, dass der endolymphatische Hydrops nicht alleinige Ursache für die attacken weise progrediente Funktionsminderung der Cochlea und des Labyrinths darstellt. So werden Hydropsereignisse auch ohne Schwindelattacken beobachtet, und nicht alle attackenweise auftretenden progre dienten Funktionseinschränkungen des Innenohrs gehen mit Hydropsereignissen einher. Im Gegensatz zur Pathogenese ist die Ätiologie der Erkrankung jedoch bis heute nicht geklärt [15, 16]. ó ó ó ó ó Stufentherapie In der Praxis hat sich eine Stufenthera pie bewährt (Tab. 2): 1 In einer ersten Stufe (6–12 Monate) ist eine systemische medikamentöse The rapie (Anfallstherapie und Anfallspro phylaxe) indiziert. 2 Bei Fortdauer der Erkrankung oder auch in einem kürzeren Zeitintervall, z. B. bei Häufung der Anfälle unter medika mentöser Behandlung, sind in Abhängig keit von den o. g. Faktoren zunächst funk tionserhaltende chirurgische Verfahren (z. B. Legen einer Paukendrainage, endo lymphatische Shuntoperation) angezeigt. Tritt der therapeutische Effekt nicht ein, kommen weitere, die Funktion beein trächtigende Methoden zum Einsatz (in tratympanale Gentamicinapplikation, Neurektomie des N. vestibularis). Heute wird der intratympanalen Gentamicin applikation, die ambulant erfolgen kann, der Vorzug gegeben. MMW-Fortschr. Med. Nr. 5 / 2011 (153. Jg.) fortbildung –übersicht Anfallstherapie Die Anfallstherapie kann mit einem An tivertiginosum (z. B. Dimenhydrinat) er folgen. Falls anfallsartige Schwindelbe schwerden mit Prodromi vorliegen, be steht so die Möglichkeit einer Selbstbe handlung; der Wirkeintritt erfolgt relativ schnell. Sind keine Prodromi vorhanden, hat sich Lorazepam (sublingual in gerin ger Dosierung) bewährt. Bei rezidivie renden Anfällen muss jedoch das Abhän gigkeitspotenzial abgewogen werden. Anfallsprophylaxe Betahistin ist gekennzeichnet durch einen H1-Agonismus und einen H3-Antagonis mus. H2-Rezeptoren gegenüber ist es na hezu inaktiv. Effekte auf die Steigerung der Mikrozirkulation im Innenohr und Ein flüsse auf zentrale vestibuläre Neuronen sind beschrieben. Der Beleg einer Evidenz steht jedoch aus. Alternativ ist ein Thera pieversuch mit Diuretika (z. B. Hydro chlorothiazid, Triamteren) möglich. Was ist evidenzbasiert? Zur medikamentösen und chirurgischen Therapie finden sich in der Cochrane Library aktuelle Studien [2, 3, 5, 14, 17]: 1 Zum therapeutischen Effekt von Be tahistin existieren bislang keine kontrol lierten, plazebokontrollierten Studien. In einer offenen Anwendungsbeobachtung an 112 Patienten war eine höhere Beta histin-Dosierung (3 x 48 mg/d) einer niedrigeren Dosierung (3 x 16 bis 3 x 24 mg/d) signifikant überlegen. 2 Es gibt Hinweise für die Effektivität der fixen Kombination von Cinnarizin und Dimenhydrinat [19]. 3 Diuretika sind bisher nicht evidenz basiert. 4 Die chirurgische Therapie (Chirurgie des Saccus endolymphaticus) ist nach evidenbasierten Kriterien bisher strittig, hinsichtlich der Schwindelsymptomatik gibt es Hinweise für eine Effektivität bei Erst- und Zweiteingriffen vor de struierenden Eingriffen am Labyrinth [20, 21]. 5 Eine lokale medikamentöse Behand lung (intratympanale Gentamicinapplika tion) ist hinsichtlich Besserung bzw. Sis tieren der Schwindelattacken evidenzba siert. Eine mögliche Nebenwirkung ist MMW-Fortschr. Med. Nr. 5 / 2011 (153. Jg.) die Ototoxizität mit Schädigung kochle ärer Haarzellen und persistierender Hör störung. Der Effekt einer Schwindelre duktion tritt nach der lokalen Gentami cinapplikation mit Verzögerung ein, so dass sich die Einmalgabe durchgesetzt hat. Nach aktuellen Erkenntnissen rei chert sich Gentamicin v. a. in den vestibu lären Haarzellen Typ 1 an. Die fünf Re zeptoren des Gleichgewichtsorgans (drei Bogengänge und die beiden Otolithenor gane Utriculus und Sacculus) können durch diese Therapie dosisabhängig in ih rer Funktion gemindert werden. Nicht in jedem Fall erfolgt jedoch eine „Ausschal tung“ der Gleichgewichtsfunktion. Eine Restfunktion der Rezeptoren kann die vestibuläre Kompensation fördern. Auf grund möglicher Hörschäden ist die The rapie auch von der Hörfunktion abhängig zu machen; die Entscheidung wird bei höhergradiger Hörminderung erleichtert. Vorgehen bei psychogenem Schwindel und Begleiterkrankungen Bei Entwicklung von Angst und Depres sion sowie beim reaktiv psychogenen Schwindel sollte zunächst eine intensive Aufklärung des Patienten erfolgen, ggf. in Kombination mit einer systematischen Eigendesensibilisierung, die durch phy siotherapeutische Maßnahmen unter stützt werden kann. Ggf. ist eine ergän zende kognitive Verhaltenstherapie sinn voll. Auch eine medikamentöse antide pressive Therapie kann begleitend durch aus indiziert sein. Diese sollte vom ärzt lichen Psychotherapeuten oder Psychiater auf die spezielle Situation angepasst wer den. Wegen ihres Suchtpotenzials sind Sedative und Tranquilizer, abgesehen von der Notfallbehandlung, nicht indiziert. Günstig ist das Einbeziehen von Selbsthilfegruppen (Kontakt über www. tinnitus-liga.de und www.kimm-ev.de). Bei der psychogenen Komponente zeigt schon die Aufklärung über das mögliche Wirkgeschehen, auch hin sichtlich der Konditionierungsvorgänge und der Reizgeneralisierung, angstredu zierende Effekte [2, 10]. Verlauf und Prognose Eine prognostische Aussage kann wegen des phasenhaften Verlaufs gerade im – Frühstadium nicht getroffen werden. Prinzipiell besteht bei einseitiger Lokali sation die Gefahr der späteren Entwick lung einer bilateralen Erkrankung. Die Schwindelanfälle können bis zum vollständigen Funktionsverlust der fünf Rezeptororgane der Gleichge wichtsorgane auf einer Seite (Bogen gänge und Otolithenorgane) fortschrei ten. Nach Sistieren der Schwindelanfäl le verbleiben bei noch erhaltenem Hör vermögen ausschließlich als Druckge fühl wahrnehmbare kochleäre Anfälle. Die Schallempfindungsschwerhörig keit zeigt im Verlauf der Erkrankung eine fortschreitende Tendenz und kann in die sem Zeitverlauf von einem permanenten Tinnitus begleitet werden [12, 15]. Im Langzeitverlauf zeigt sich eine Ver minderung der Schwindelattacken in einem Zeitfenster von fünf bis zehn Jah ren. Damit geht ein zunehmender Hör verlust sowie eine Funktionsminderung der Rezeptoren der Gleichgewichtsorgane einher. Je länger die Erkrankung fortdau ert, desto wahrscheinlicher ist die Ent wicklung einer bilateralen Erkrankung (ca. ein Drittel nach zehn Jahren, ca. die Hälfte nach 20 Jahren) [18]. Literatur unter mmw.de Für die Verfasser: Priv.-Doz. Dr. med. habil. Leif Erik Walther HNO-Gemeinschaftspraxis Main-Taunus Zentrum D-65843 Sulzbach (Taunus) E-Mail: [email protected] – Fazit für die Praxis Der Morbus Menière erfordert eine interdisziplinäre Differenzialdiagnostik und Therapie. Medikamentöse sowie funktionserhaltende und destruierende chirurgische Verfahren stehen zur Verfügung. Psychogene Schwindelbeschwerden können sich auch dann manifestieren, wenn das Gleichgewichtsorgan seine Funktion längst verloren hat. Eine sichere therapeutische Begleitung kann wesentlich zum Coping beitragen. – Keywords Meniere's Disease: Etiology, Differential Diagnosis and Therapy Menière disease – Vertigo – Dysequilibrium – Hearing loss – Tinnitus 37
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