Essstörungen OA Dr. med. Frank Enning, Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin Gliederung 1. Diagnostik & Epidemiologie -> Anorexia nervosa -> Bulimia nervosa -> Binge-Eating Disorder 2. Erklärungsmodelle 3. Therapie 4. Vorstellung einer betroffenen Patientin Anorexia nervosa (ICD-10: F 50.0) - selbst herbeigeführter Gewichtsverlust, Gewicht mind. 15% unter Normalgewicht bzw. BMI < 17,5 kg/m2 - Extreme Angst vor einer Gewichtszunahme selbst bei schon ausgeprägtem Untergewicht - Körperschemastörung - endokrine Störungen (sekundäre Amenorrhoe) bzw. - Verzögerung od. Hemmung d. Entwicklungsschritte (bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät) Kann in zwei Formen auftreten: • Asketischer, restriktiver Typus • Bulimischer Typus (mit Erbrechen u.a. gegenregulatorischen Maßnahmen) Organische Folgen der Anorexie: Das „Starvationssyndrom“ äußerlich: Hypothermie Haarausfall Ödeme Lanugo-Behaarung Akrozyanose Kachexie Körperl. Untersuchung: Bradykardie Hypotonie verzögerte Magenentleerung Labor: Hypercholesterinämie Leukopenie MRT/CT: Osteoporose zerebrale Atrophie 2. Bulimia nervosa (ICD-10: F 50.2) - Häufige Eßattacken (über einen Zeitraum von 3 Monaten mind. 2 x pro Woche) - Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, Gier oder Zwang zu essen - Wiederholte Durchführung gegenregulatorischer Maßnahmen (Erbrechen, Abführmittel, Hungern, Appetitzügler, Diuretika) - Körperschemastörung und Angst davor, dick zu werden Purging Typus: Erbrechen, Laxantien-Abusus Non-purging Typus: Fasten, Diät, körperl. Aktivität Organische Folgen der Bulimie: • • • • • der Speicheldrüsen („Kotzbäckchen“) „Russell‘s Sign“ (Läsionen an der Rückseite der Finger) Schmelzdefekte an den Zähnen, ggf. Karies Ösophagitis Hypokaliämie (lebensbedrohlich insbesondere bei Frauen mit Untergewicht und Erbrechen!) Hypertrophie 3. „Binge eating disorder“ (ICD-10: F50.4) Bisher keine Kriterien im ICD-10. Die DSM-V Kriterien sind: Essanfälle mit Kontrollverlust (>1xWoche>3 Mon) schnelleres Essen, größere Mengen bis zum Völlegefühl Nach Essanfall Leidensdruck wegen Scham, Ekel, Depression u. Schuldgefühle keine gegenregulatorischen Maßnahmen Im ICD-10 kann die Binge Eating Störung verschlüsselt werden als: • F50.4: Essattacken bei anderen psychischen Störung • F50.8: Sonstige Essstörungen Organische Folgen von Binge Eating: Adipositas • • • • • • • Diabetes Bluthochdruck Metabolisches Syndrom Herzerkrankungen Erkrankungen der Atemwege/ Schlafapnoesyndrom Erhöhte Krebsrate Erkrankungen der Gelenke und des Bewegungsapparates Häufigkeit und Verlauf von Essstörungen AN BN BED Frauen 1,1 % 0,3 % 0,1 % Männer 0,3 % 0,1 % 0,1 % In der Altersguppe der 13 – 18jährigen sind Essstörungen am häufigsten (Mädchen: 2,4 %, Jungs 0,9 %). Bei 20 % aller 11 – 17jährigen gibt es Auffälligkeiten und den V.a. Essstörung. Verlauf: • Anorexie: 10-20% chronifizieren, häufig Restsymptomatik, Mortalitätsrate bei Anorexia nervosa liegt bei 7,7-15% (höchste Rate aller psychiatrischer Erkrankungen). • Bulimie: bessere Prognose als Anorexie • Binge Eating: gute Prognose Einteilung atypischer Essstörungen ICD-10 (Internationale Klassifikation der DSM IV (Diagnostic and Statistical Krankheiten, WHO 1993) Manual of Mental Disorders, APA 1994) • F50.1: Atypische Anorexia nervosa • F50.3: Atypische Bulimia nervosa • F50.4: Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen • F50.5: Erbrechen bei sonstigen psychischen Störungen • • • • F50.8: Sonstige Essstörungen • • F50.9: Nicht näher bezeichnete Essstörungen • 307.50: Nicht näher bezeichnete Essstörungen Beispiele: 1. Alle Kriterien einer Anorexia nervosa sind erfüllt, aber regelmäßige Menstruation oder Körpergewicht im Normalbereich trotz erheblichem Gewichtsverust 2. Sämtliche Kriterien einer Bulimia nervosa sind erfüllt, jedoch bulimische Attacken < 2 x Woche > 3 Mon 3. Selbstinduziertes Erbrechen ohne Essanfall 4. Binge-Eating-Störung Differentialdiagnosen und Komorbiditäten Differentialdiagnosen: • Organische Ursachen eines massiven Gewichtsverlustes (chronische Darmerkrankungen wie M. Crohn, pneumologische Erkrankungen wie CF, Tumore etc.) • Psychische Erkrankungen, die mit einem erheblichen Gewichtsverlust einhergehen (Major Depression, Erkrankungen schizophrener Formenkreis) Häufige Komorbiditäten: Bei Anorexie: • Depression • PTBS • Zwangsstörung Bei Bulimie: • Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung • Alkoholabhängigkeit Bei Binge Eating • Anpassungsstörung • Depression • Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung Entstehungsmodell: VulnerabilitätsStress-Modell Vulnerabilitätsfaktoren • Erlerntes Essverhalten in der Familie • Perfektionismus/Zwanghaftigkeit (eher bei Anorexie) • Impulsivität (eher bei Bulimie und Binge Eating) • Negativer Selbstwert, bzw. große Bedeutung von Gewicht/Figur für den Selbstwert • Gesellschaftliches Schlankheitsideal • Emotionsregulationsstörung • Traumata (Gewalt, Missbrauch) • Gene AkuteAuslöser/Stressoren • Diät • Überlastung/Überforderung (Arbeit, Studium) • Konflikte • Kritische Lebensereignisse (Umzug, Trennung) Aufrechterhaltende Faktoren • Essverhalten (v.a. Restriktion und Gegenmaßnahmen) • Positive Konsequenzen der Essstörung (kurzfristig, z.B.): Stolz Unangenehme Gefühle fallen erstmal weg (z.B. Wut, innere Leere), dadurch Reduktion von Anspannung • Positive Konsequenzen der Essstörung (langfristig): Welche Funktion hat die Störung im Leben des Patienten (z.B.) ? Äußern von Gefühlen in Konflikten Schonung/Schutz vor Anforderungen Kontrolle/Abgrenzung „Teufelskreis-Modell“ der Bulimie Soziokulturelle Faktoren Biologische Faktoren Akute und chronische Belastungen Psychische Störungen Schlankheitsideal Angst vor Dickwerden Unerwünschte Gewichtszunahme Selbstwertproblematik Selbst-Abwertung Depression Lösungsversuch: Kontrolle über Gewicht: -Fasten, Diät -Erbrechen -Medikamente (Lax, Diu, Appetitzügler) „Teufelskreis Bulimie“ Essanfälle Nahrungsbedürfnis Leiden unter Diskrepanz Real- vs. Idealgewicht Sek. somatische Veränderungen Sek. psychische Veränderungen Körperlicher Mangelzustand Therapie der Anorexia nervosa 1. 2. 3. 4. 5. Informationsvermittlung: Störungsmodell, Langzeitfolgen Normalisierung des Essverhaltens mit Ziel der Gewichtszunahme Veränderung der Körperschemastörung z.B. mittels Spiegeltherapie und kognitiver Therapie (Veränderung neg. Gedanken) Verbesserung der Emotionsregulation Bearbeitung belastender Faktoren im sozialen Umfeld (z.B. familiäre Konflikte) und Bearbeitung der Funktionalität (pos. Konsequenzen) der Störung Zusätzlich Behandlung komorbider Störungen (z.B. Depression) Psychopharmaka nur für komorbide Störungen sinnvoll, Hypokaliämie auf jeden Fall substituieren Therapie der Bulimia nervosa 1. 2. 3. 4. 5. Psychoedukation Normalisierung des Essverhaltens: Bei Normalgewicht Gewicht halten, zuerst Abbau gegenregulatorischer Maßnahmen wie Erbrechen Verbesserung der Emotionsregulation und Impulskontrolle Veränderung des negativen Körperbildes (Spiegelund kognitive Therapie) Bearbeitung aktueller Belastungen und der Funktionalität der Störung Antidepressive Behandlung mit Fluoxetin 60mg (Wirksamkeit nur in der akuten Phase) Therapie der Binge Eating Störung 1. 2. 3. 4. 5. 6. Psychoedukation Normalisierung des Essverhaltens: Reduktion von Essanfällen Verbesserung der Emotionsregulation und Impulskontrolle Bearbeitung der Funktionalität der Essanfälle Körperliche Bewegung Bearbeitung der auslösenden und aufrechterhaltenden Belastungen Behandlung von komorbiden Störungen (Depression sehr häufig) Allgemeine Therapie-Bausteine Baustein 1: Information über Therapiekonzept u. -verlauf Baustein 2: Diagnostik: Körperbild u. Persönlichkeit » Erstinterview » Allg. Diagnostik (IPDE, SKID I,II) » Spezifische Diagnostik (FKKS, FBeK, FKB-20) Baustein 3: Wahrnehmung und Realitätsüberprüfung Baustein 4: Konfrontation mit dem Spiegel Evokation primärer u. sekundärer Emotionen » Evokation zentraler Kognitionen » Baustein 5: Kognitive Umstrukturierung Was können Sie als Ärztin/Arzt bei V.a. eine Essstörung tun? - Untersuchung bezüglich der möglichen körperlichen Folgen: Wiegen, BMI errechnen, Labor, Amenorrhoe? - Verdacht mit der Patientin offen besprechen und Problembewusstsein abklären - Engmaschige Kontrolle und dabei Schaffung von Problembewusstsein und Therapiemotivation falls nicht vorhanden - Anbahnung einer Therapie Literatur zum Einlesen • Fichter, M.M.: Essstörungen. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. In, H.J. Möller, G. Laux, und H.P. Kapfhammer, eds. (Springer Berlin Heidelberg), 2011. pp. 2087-2111. • Legenbauer, T., Vocks, S.: Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie. Heidelberg, 2006. • Möller, H.J., Laux, G., Deister, A.: Essstörungen. Duale Reihe Psychiatrie und Psychotherapie, 2. Auflage. Stuttgart, 2005. pp. 268-278. • Diverse Internetforen, z.B. „Pro-ANA“-Seiten Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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