Gerontologie-Symposium Schweiz 2015
Die Therapietreue bei polypharmakologisch behandelten
geriatrischen Patienten
Eine qualitative Studie im Tessin
Verfasserin: Paola Santini
Berichterstatterin: Prof. Maria Caiata Zufferey
Kontext: Die stete Zunahme chronisch-degenerativer Erkrankungen in der älteren Bevölkerung und die
damit verbundene Einnahme verschiedener Medikamente mit komplexen Dosierungen wirken sich
immer schwerwiegender auf die Gesundheitssysteme aus. Darüber hinaus stellt sie eine grosse
Herausforderung für die Gesundheitspolitik dar, die darauf abzielt, die funktionale Autonomie älterer
Menschen und deren Lebensqualität im eigenen Zuhause zu verbessen. Aus diesen Gründen ist eine
Therapietreue der verschriebenen Medikamente wünschenswert.
Zweck: Mit dieser Studie sollte die Dynamik der Therapietreue von älteren Patienten untersucht
werden, die täglich verschiedene Medikamente einnehmen. Das Ziel bestand darin, die wesentlichen
Faktoren zu identifizieren und daraus Hinweise für eine Verbesserung der Therapietreue bei
geriatrischen Patienten abzuleiten.
Methode: Es wurden drei Fokusgruppen mit je 20 Personen im Alter von über 65 Jahren (7 Männer
und 13 Frauen) in polypharmakologischer Behandlung aufgestellt und diese einer qualitativen Analyse
unterzogen. Für jede Fokusgruppe wurde die Diskussion anhand eines halbstrukturierten Fragebogens
durchgeführt und dabei versucht, die Erfahrungen der von dieser Problematik direkt betroffenen
Personen zu nutzen. Die Transkriptionen der Interviews wurden anschliessend mit Basismethoden der
induktiven Analyse analysiert.
Ergebnisse: Die Studie hat gezeigt, dass eine Klassifizierung der mangelnden Therapietreue nach
neuen Kategorien möglich ist. Diese umfassen den Medikamentenmissbrauch, die Dosisreduktion und
Änderungen der Medikation. Darüber hinaus ermöglichten die Daten die Definition von vier Kategorien
des Patientenverhaltens: autodidaktisch, pedantisch, unbewusst und undiszipliniert. Die einzelnen
Verhaltenstypen bringen unterschiedliche Probleme bei der täglichen Einhaltung einer
polypharmakologischen Behandlung mit sich und verlangen unterschiedliche Strategien zur Lösung des
Problems. Die Therapietreue hängt im Wesentlichen von einigen Schlüsselfaktoren ab: der Rolle des
praktischen Arztes innerhalb des gesamten Netzwerks (Hausarzt, Facharzt, Patient), der Art der
Beziehung und Kommunikation zwischen dem Patienten und dessen Arzt und dem Grad der
Einbeziehung des Patienten. Auch das Geschlecht spielt bei Fällen mangelnder Therapietreue und bei
der Umsetzung geeigneter Lösungsstrategien eine wichtige Rolle.
Fazit: Die von Multimorbidität betroffenen älteren Menschen können in Zuge einer komplexen
polypharmakologischen
Behandlung
unterschiedlichen
Problemen
gegenüberstehen
und
unterschiedliche Kontrollstrategien verfolgen, die ihrerseits ebenfalls Schwierigkeiten aufwerfen. Die
Charakteristika des praktischen Arztes und des Patienten wurden als Faktoren für den Grad der
Therapietreue älterer Patienten ermittelt. Die anhand unserer Studie aufgezeigten Dynamiken der
Therapietreue zeigen darüber hinaus die Vielschichtigkeit dieses Phänomens und bestätigen die
Existenz unterschiedlicher Formen mangelnder Therapietreue. Neben spezifischen Hinweisen in
Verbindung mit den Bedingungen im Tessin konnte anhand der Ergebnisse auch eine Typologie der
Patienten aufgestellt werden, die einen geordneten Überblick über die latenten Besonderheiten und
Dynamiken ermöglicht und die Querverbindungen zwischen den Problematiken, Strategien und
Faktoren von Therapietreue aufzeigt.
Hinweise für die Praxis: Die Studie liefert eine Reihe spezieller Hinweise für
Gesundheitsfachpersonen und Patienten zur Unterstützung der Therapietreue. In der medizinischen
Fortbildung ist die fundamentale Rolle des Gesundheitspersonals für eine erfolgreiche Therapietreue
von älteren Patienten zu unterstreichen: Das kann durch Vorträge und Veranstaltungen mit
Kreditpunkten, Informationsschriften und wissenschaftliche Artikel erfolgen. Darüber hinaus können
Informationskampagnen, interaktive Medien und Broschüren dazu beitragen, älteren Patienten und
deren Angehörigen den Medikationsablauf zu erleichtern sowie nützliche Ratschläge und Instrumente
zur Verbesserung der polypharmakologischen Behandlung bereitstellen.