Fachbeiträge Erste Erfahrungen mit der DRGS („dorsal root ganglion stimulation“): eine neue Option zur Therapie von chronischen neuropathischen Schmerzen Michael Kretzschmar Neurophysiologische Grundlagen der elektrischen Stimulation am Ganglion spinale („dorsal root ganglion“) Das Spinalganglion liegt noch innerhalb des Wirbelkanals und wird von Nervenzellen des peripheren Nervensystems gebildet. Somit stellt es eine Ansammlung von Perikarya der Neuronen dar, die über sensible Nervenfasern afferente Signale zum Hinterhorn des Rückenmarks führen. Pro Rückenmarksegment ist zu beiden Seiten jeweils ein solches Ganglion entwickelt, das im Foramen intervertebrale des zugehörigen Segmentes zu finden ist (Abb. 1). Das Ganglion enthält so genannte pseudounipolare Nervenzellen (Abb. 2). Die Dendriten sammeln segmentbezogen sensible Informationen aus der Körperperipherie. Die Axone dieser Neuronen leiten dann die Information über die hintere Nervenwurzel in das Rücken- mark. Somit liegt hier eine ganz entscheidende Eintrittsstelle für die Schmerzinformation aus der Körperperipherie. Daher kommt dem Spinalganglion offenbar eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen zu (Krames 2014). Die Hypersensibilisierung des primären sensorischen Neurons stellt eine Erklärung für die typischerweise bei Nervenläsionen zu beobachtende Allodynie und Hyperalgesie dar. Würde man die Wirkungsweise der DRG-Stimulation als eine Form der „diffuse noxious inhibitory control“ – DNIC (Gegenirritation) betrachten, wie das relativ lange getan wurde, ließe sich der Effekt jedoch nur partiell erklären. DNIC bezeichnen die Beobachtung, dass multirezeptive Neurone des Rückenmarks und des trigeminalen Systems durch einen intensiven Schmerzreiz außerhalb ihres peripheren rezepti- Abb. 1. Schematische Darstellung eines Querschnitts im Bereich des Intervertebralforamens (zervikal). Das „dorsal root ganglion“ (DRG) befindet sich außerhalb des Neuroforamens. Dargestellt sind die Lagebeziehungen zum intrathekalen Raum, Neuroforamen und Epiduralraum sowie zur vorderen und hinteren Wurzel. (modifiziert nach: http://www. csus.edu/indiv/m/mckeoughd/AanatomyRev/CNS/scXsect/scXsect.htm). Ausgabe 4/2015 26. Jahrgang PD Dr. Michael Kretzschmar ven Feldes in ihrer Aktivität stark gehemmt werden können und demzufolge nozizeptive Reize aus ihrem eigenen rezeptiven Feld vermindert weiterleiten. Dieser Effekt repräsentiert ein neurophysiologisch gut etabliertes Tiermodell endogener Schmerzmodulation, das konsistent über verschiedene Tierspezies hinweg beobachtet werden konnte. Elektrophysiologische und anatomische Daten legen die Vorstellung nahe, dass DNIC über eine weitestgehend unabhängige spinobulbospinale Schleife vermittelt werden, die die kaudale Medulla als essentielle Struktur beinhaltet. Obwohl bislang kein direkter Nachweis vorliegt, wird angenommen, dass die perzeptiven Effekte von „heterotopen noxischen konditionierenden Stimulationen“ (HNCS) beim Menschen vorwiegend auf dem DNIC-Mechanismus basieren (Sprenger et al. 2010). Eine eher schlüssige Erklärung bietet das Konzept von Koopmeiners et al. (2013) basierend auf der pseudounipolaren zellulären Anatomie der Spinalgang lien (Cayal 1933). Der Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie (1906 gemeinsam mit Camillo Golgi) Santiago Ramón y Cajal (1852 – 1934) hat die grundlegenden Mechanismen bereits erahnt und diese in seinem Lehrbuch 1933 (!) auch so beschrieben und gezeichnet (s. Inset in Abbildung 3b). Die Perikaryen weisen eine sehr unterschiedliche Größe auf (Durchmesser zwischen 20 und 120 µm). Die Fortsätze dieser pseudounipolaren Nervenzellen teilen sich T-för- 209 Fachbeiträge Die Anlage der dünnen Elektroden (mit vier Polen) erfolgt epidural über den kontralateralen Zugang auf der Höhe der betroffenen Nervenwurzel. Die Elektrode wird unterhalb des Pedikels durch das Foramen intervertebrale auf die Hinterwurzel geschoben (Abb. 4). Abb. 2. Rechte Bildhälfte: Schematische Darstellung eines pseudounipolaren sensorischen Neurons. Eine pseudounipolare Nervenzelle besitzt ein Axon, welches sich in einen peripheren und zentralen Fortsatz aufteilt. Linke Bildhälfte: Eine Originaldarstellung von Cajal (1933), welche die pseudounipolare zelluläre Anatomie der Spinalganglien erstmals demonstrierte. mig in den peripheren (dendritischen) und den zentralen (axonalen) Fortsatz (Abb. 2). Kleine und große Zellkörper scheinen eine unterschiedliche axonale Spezifität der sensorischen Reizleitung zu haben. Die unterschiedlich großen Zellkörper können elektrophysiologisch selektiv gereizt werden. Offenbar scheint die Tjunction das Target der Stimulation zu sein, denn sie besitzt eine Filterfunktion für die Signaltransduktion (Abb. 3a). Die elektrische Stimulation im Rahmen der DRGS erhöht die Filterkapazität für an der T-junction einlaufende Impulse des primären sensorischen Neurons (s. Abb. 3b). dann ein entsprechendes Patent für ein Gerät zur Wurzelstimulation einschließlich passender Elektroden erteilt. Bis zur Überführung in die klinische Praxis dauerte es nochmals sieben Jahre. In Deutschland ist das Produkt seit 2012 kommerziell erhältlich. Gegenüber der „klassischen“ SCS („spinal cord stimulation“) weist die DRGS einige technische Vorteile auf. Der Stromverbrauch ist minimal, da die Elektrode direkt am Spinalganglion platziert wird (im Vergleich wird der Stromverbrauch um 90 Prozent reduziert), dies führt zu einer langen Lebensdauer der Generatoren. Die Stimulationsstärke ist nahezu lage- und bewegungsunabhängig, da die Elektrode im Foramen stabilisiert wird. Somit wird „Überstimulation“ sowie das Auftreten von „Stromschlägen“ bei Bewegung sicher verhindert. Der Aufwand bei der Programmierung beziehungsweise Nachjustierung bleibt deshalb relativ gering. Mittlerweile liegen klinische Erfahrungen aus Europa und Australien vor. Das Verfahren ist zur Behandlung problematischer neuropathischer Schmerzzustände, die sich der klassischen SCS-Behandlung eher entziehen, geeignet. Das sind z. B. Schmerzen im Rahmen eines Technische Bemerkungen Die Idee, an diesem sensiblen Knotenpunkt neuromodulatorisch einzugreifen, ist nicht neu. Allerdings erwiesen sich die klassischen SCS („spinal cord stimulation“)-Elektroden, sowohl Quatrode als auch Octrode (beide Formen dieser Stabelektroden sind kommerziell erhältlich), als wenig geeignet. Aufgrund ihrer Steifheit und ihrer Dicke ist die Steuerung auf dem engen Raum nicht gut möglich. Im Jahr 2004 wurde 210 Abb. 3a. Die DRGS erhöht die Filterkapazität für Impulse an der T-junction des primären sensorischen Neurons. Die T-junction funktioniert als gering durchlässiger Filter, sodass die Stimulation die Fortleitung der Aktionspotentiale hemmt. Ärzteblatt Thüringen Fachbeiträge Eigene Erfahrungen Abb. 3b. Die T-junction kann unterschiedliche Funktionen haben: A – Barriere für die Weiterleitung der Aktionspotentiale zum Hinterhorn des Rückenmarks. B – Low-pass-Filter bei der Weiterleitung von Aktionspotentialen zum Hinterhorn. C – Weiterleitung der Aktionspotentiale zum Hinterhorn (modifiziert nach Krames 2014). Abb. 4. AP-Fluoroskopiebild mit endgültiger Elektrodenposition am DRG (Fall 3). Die Lage des „dorsal root ganglion“ ist durch die gegebenen Landmarken vorhersehbar (Hasegawa et al. 1996). Postherniotomiesyndroms, Postthorakotomiesyndroms, Postmastektomiesyndroms. Auch der Phantomschmerz nach Amputationen kann erfolgreich damit therapiert werden. Neuropathische Schmerzen nach peripheren Nervenläsionen im Bereich von Unterarm/Hand beziehungsweise Unterschenkel/Fuß Ausgabe 4/2015 26. Jahrgang sind ebenfalls therapeutisch zugänglich. Das diabetische Fußsyndrom stellt eine gute Indikation für das Verfahren dar, da als Nebenwirkung regelmäßig eine erhebliche Durchblutungsverbesserung im stimulierten Bereich durch Sympathikolyse (direkte Verbindung zu sympathischen Ganglien) auftritt. Fall 1 (weiblich, 51 Jahre) Bei der Patientin wurde vor reichlich zwei Jahren ein Tarsaltunnelsyndrom links operativ versorgt. Nach der Operation bestanden sofort Schmerzen im Operationsbereich, die sich im weiteren Verlauf über die Rückseite des Beines bis in die LWS ausgebreitet hätten. Der Charakter wurde von der Patientin als stechend und brennend beschrieben. Zeitweise habe sie das Gefühl, als ob der Fuß platzen würde. Die Schmerzstärke wurde mit bis NRS 10 angegeben. Die Schmerzen seien bei der Berührung der Narbe, beim Auftreten und durch Hochlegen des Beines (Ruhe) verstärkt. Eine Neuraltherapie sowie Wassergymnastik hätten kurzfristig ein wenig Linderung verschafft. Massagen, Lymphdrainagen und Reizstrom wären ohne Effekt geblieben. Zum Zeitpunkt der Erstvorstellung in unserer Einrichtung bestand eine Medikation mit Tramadol, welches bedarfsweise (zwischen 200 und 400 mg/Tag) eingenommen wurde. Gabapentin und Pregabalin wurden wegen schlechter Verträglichkeit beziehungsweise Gewichtszunahme wieder abgesetzt. Wir hatten in einem ersten stationären Aufenthalt bei der Patientin unter der Diagnose einer peripheren Läsion des Nervus tibialis die Testung der analgetischen Effektivität der DRGS vorgenommen (Elektroden bei L4 und L5 links). Unter der Teststimulation konnten wir eine Schmerzlinderung von NRS 10 auf NRS 0 dokumentieren, sodass das Testergebnis als hervorragend beurteilt werden konnte. Vier Wochen später wurde der Generator implantiert. Danach wurde Tramadol kleinschrittig ausgeschlichen. Fall 2 (männlich, 42 Jahre) Der Patient wurde wegen einer ausgeprägten Tramalabhängigkeit durch den behandelnden Psychiater vorgestellt. Ursächlich für die Entwicklung dieser Abhängigkeit war ein Folgezustand nach operativ versorgter Kalkaneusfraktur rechts 1999. Elektrophysiologisch konnte eine komplette Schädigung des Nervus suralis rechts bestätigt werden. Außerdem fand sich eine Schädigung von 211 Fachbeiträge Ästen des Nervus peronaeus rechts. Im Rahmen des Erstkontaktes konnte der Patient überzeugt werden, dass das Tramadol in der nicht retardierten Form sofort abgesetzt und durch die regelmäßige Einnahme höherer Dosen retardierten Tramadols ersetzt werden muss. Bei der Wiederaufnahme zur operativen Versorgung war der Patient auf 1200 mg Tramal pro Tag in fixer Kombination (3 x 400 mg) eingestellt. Eine Schmerzlinderung konnte er darunter zwar nicht beobachten, jedoch traten keine Entzugserscheinungen auf. Der Patient berichtete von elektrisierend einschießenden Schmerzen bis NRS 10 im betroffenen rechten Fuß und in der Wade. Über der Narbe gab er eine extreme Dysästhesie und eine mechanische Allodynie an. Ein positives Hoffmann-Tinel-Zeichen war nachweisbar. Der Patient war auf Grund dieser Verletzung aktuell befristet Erwerbsunfähigkeitsrentner. Wir hatten in einem ersten stationären Aufenthalt bei dem Patienten unter der Diagnose CRPS II die Testung der analgetischen Effektivität der DRGS vorgenommen (Elektroden bei L4 und L5 rechts). Unter der Teststimulation konnten wir eine Schmerzlinderung von NRS 10 auf NRS 1 – 2 dokumentieren, sodass das Testergebnis als hervorragend beurteilt werden konnte. Acht Wochen später wurde der Generator implantiert. Der Therapie-Effekt ist unverändert sehr gut und eine Entzugsbehandlung geplant. Fall 3 (weiblich, 84 Jahre) Die Patientin beklagte ein therapierefraktäres neuropathisches Schmerzsyndrom im linken Bein. Sie berichtete über bohrend-drückende Schmerzen im Bereich des linken Unterschenkels mit Ausstrahlung in den Fuß sowie in Oberschenkel und Gesäß, wobei der Hauptschmerzpunkt in der Wade angegeben wurde. Die Schmerzstärke wurde mit NRS 7 – 8 eingeschätzt. Es wurde über 20 – 30 einschießende elektrisierende Schmerzattacken am Tag berichtet. Lokal fand sich eine extreme mechanische Allodynie (Patientin konnte keine Strümpfe tragen und bevorzugte kurze Hosen). Anamnestisch ließen sich 212 mehrfach Zosterinfektionen unterschiedlicher Lokalisation unter anderem auch im Bereich des linken Beines eruieren. Unter der Diagnose einer Postzosterneuralgie wurde sie medikamentös antineuropathisch behandelt (u. a. Gabapentin, Lyrica, Palexia). Allerdings konnte durch diese medikamentöse Therapie die Schmerzsymptomatik praktisch kaum beeinflusst werden. Zudem waren der Pharmakotherapie bei der polymorbiden Patientin (chronisches Vorhofflimmern, Linksherzinsuffizienz NYHA III, Niereninsuffizienz) von vornherein gewisse Grenzen gesetzt. Wir haben bei der Patientin die Testung der analgetischen Effektivität der DRGS vorgenommen (Elektroden bei L4 und L5 links). Unter der Teststimulation konnten wir eine Schmerzlinderung von NRS 7 – 8 auf NRS 0 – 1 dokumentieren. Die Generatorimplantation erfolgte vier Wochen später. Es liegt aktuell ein unverändert sehr guter Therapie-Effekt vor, die Analgetika wurden komplett ausschleichend abgesetzt. sche und physiologische Zielstruktur für neuromodulierende Eingriffe. Bei richtiger Patientenselektion kann mittels DRGS eine gute und anhaltende Schmerzreduktion erreicht werden. Als Einschlusskriterien können gelten: 1. lokal und regional begrenzte neuropathische Schmerzen, 2. kausale Therapieoptionen ausgeschöpft, 3. Target-Spinalganglion durch Testblockade zu identifizieren und 4. Teststimulation führt zu einer signifikanten Schmerzlinderung (> 50 Prozent). DRGS stellt eine vielversprechende Therapieoption bei chronischen neuropathischen Schmerzen dar. Literatur beim Verfasser. PD Dr. med. Michael Kretzschmar Zentrum für Schmerz- und Palliativmedizin SRH Wald-Klinikum Gera GmbH Straße des Friedens 122 07548 Gera E-Mail: [email protected] Wie bereits dargestellt, liegen bisher keine Langzeitergebnisse für die DRGS vor. Deshalb wurde unter Leitung von Kollegen Dr. Reinhard Thoma (Algesiologikum, Zentrum für Schmerzmedizin im Diakoniewerk München Maxvorstadt) die BRAVO-Studie aufgelegt („Spinalganglion-Stimulation bei chronischem therapierefraktären Leistenschmerz“). Um eine ausreichende Anzahl valider Daten für diese nationale Studie zu generieren, bitten wir um die Vorstellung betroffener Patienten (Kontaktadresse siehe unten). Einschlusskriterien sind: 1. chronischer postoperativer Leistenschmerz seit mindestens sechs Monaten, 2. konservative Therapie des chronischen Schmerzes einschließlich medikamentöser, physikalischer und interventioneller Therapie war erfolglos und 3. Schmerzstärke mindestens NRS 6 im primären Schmerzgebiet. Zusammenfassung Das Spinalganglion hat eine sensorische Schlüsselposition bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen. Es ist eine gute anatomi- Ärzteblatt Thüringen
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