PSY OA Dr. Wilhelm Wlassits, MSc Schmerztherapie im Setting einer Station für integrierte Psychosomatik D ieser Artikel entspricht einer Zusammenfassung eines der Hauptvorträge der heurigen Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychosomatik in der Inneren Medizin (ÖGPIM) und wird in ausführlicher Form auch im Jatros, Neurologie & Psychiatrie 3/15 publiziert werden. Wissenschaftstheoretische Überlegungen Im Bio-Psycho-Sozialen Modell finden biologische, psychische und sozio-kulturelle Gesichtspunkte für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit Beachtung. Ätiologische, pathogenetische und salutogenetische (Resilienz, Kompensations- Gestaltungsmöglichkeiten, Coping-Strategien, Ressourcen) Einflussgrößen werden dabei unterschiedlich gewichtet. Zu unterscheiden sind subjektive (Erleben) und objektive (etwas Beobachten können) Wirklichkeit. Das eigene Erleben (Beschwerden) wird der ÄrztIn geschildert (verbal/nonverbal). Die ÄrztIn versucht dann üblicherweise Symptome zu objektivieren. Lassen sich dabei Befunde erheben, die mit den von der PatientIn vorgebrachten Beschwerden in einer bewährten Modellvorstellung (Heuristik) zu vereinbaren sind, wird die ÄrztIn eine Diagnose stellen und unter Berücksichtigung des jeweiligen Erfahrungsschatzes eine evidenzbasierte, Leitlinien - orientierte Therapie einleiten. Schwierig wird es, wenn die ÄrztIn die von der PatientIn geschilderte Symptomatik nicht nachvollziehen kann. Dies kann die Folge einer unauffälligen somatischen Abklärung sein oder aber bedingt sein durch das Fehlen einer entsprechenden Heuristik, in die die geschilderten Beschwerden sich einordnen lassen. Um einen möglichst großen Ausschnitt der Wirklichkeit zu erfassen, sollten daher im klinischen Alltag neben empirisch-analytischen Erkenntnispfaden auch phänomenologische, hermeneutische, existenzielle, dialektische und systemische Betrachtungsweisen und Eindrücke berücksichtigt werden. Chronische Schmerzen Schmerz ist eine komplexe Erfahrung des Menschen (Bonica, 1981 zit. n. Engel & Hoffmann, 2003), ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung umschrieben wird (Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes, 1986 zit. n. Engel & Hoffmann, 2003). Die Punktprävalenz chronischer Schmerzen in der Gesamtbevölkerung liegt bei 10 % (Verhaak et al., 1998). Führend sind das muskuloskelettale System und Kopfschmerzen. Bei Somatisierungsstörungen sind Schmerzen in > 50 % Haupt- oder einziges Symptom (Egle, 2003). Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden betreffen 4-10 % der Bevölkerung und 20 % der Hausarztpatienten. Der Verlauf ist typischerweise chronisch. Die Lebensqualität der Betroffenen ist erheblich beeinträchtigt, die Kosten für die Allgemeinheit erheblich. Für die Behandler stellen diese Beschwerden eine Herausforderung dar, wobei der Verlauf bei ungünstigem Behandlerverhalten negativ beeinflusst werden kann (Schaefert et al., 2012). Chronische Schmerzpatienten weisen häufig auch eine depressive Co-Morbidität auf (Egle, 2003). Davon abzugrenzen ist die psychodynamische Abgrenzung eines depressiven Grundkonflikts (Blumer & Heilbronn, 1982; Rudolf, 1998) – die Erarbeitung intrapsychischer Konflikte und interpersoneller Aspekte. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass frühe Schmerzerfahrungen ebenso wie Traumatisierung das spätere Schmerzempfinden wesentlich beeinflussen können (Scarinci et al., 1994; Taddio et al, 1997). Egle (2003) weist Bezug nehmend auf Melzack (1999) darauf hin, dass Stressverarbeitung und Schmerz eng miteinander verknüpft sind. Multimodale Schmerztherapie bei chronischen Schmerzen (Arnold et al., 2014) Die Ad-hoc-Kommission Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie der Deutschen Schmerzgesellschaft zu den Behandlungsinhalten fordert bei chronischen Schmerzsyndromen eine eng abgestimmte Einbindung verschiedener medizinischer Disziplinen und Berufsgruppen auf der Basis eines Bio-PsychoSozialen Modells der Schmerzerkrankung (Arnold et al., 2014). Chronische Schmerzen sind emergent in Bezug auf multiple ätiologische Faktoren. Sie weisen sensorische, affektive, kognitive und funktionelle Dimensionen auf und entwickeln sich im sozio-kulturell-ökologischen Kontext der PatientIn. Typisch für chronische Schmerzsyndrome sind körperlicher (Schonhaltung) und sozialer Rückzug (Isolation) sowie dysfunktionale Copingstrategien (Regression, Hilflosigkeit, Katastrophisieren). Dies fördert die Chronifizierung. Ziele der Multimodalen Schmerztherapie sind Schmerzlinderung, der Erwerb eines Bio-Psycho-Sozialen Krankheitsverständnisses und die Verbesserung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit. Dies wird erreicht durch: •Physische und psychische Aktivierung (Reduktion von Schonhaltung und sozialem Rückzug) CONSILIUM 06/15 17 PSY •Motivation zu selbstverantwortlichem Krankheitsmanagement •Reduktion dysfunktionaler Muster der Schmerzbewältigung •Erkennen und Reflexion Schmerz-verstärkender bzw. – vermindernder Faktoren unter Einschluss des zwischenmenschlichen Erlebens und Verhaltens (incl. habituelle Muster, problematische Denkschemata, Verhaltenseigenschaften) •Förderung einer positiven Körperwahrnehmung •Herstellung einer besseren Balance von Anspannung und Entspannung sowie von Be- und Entlastung (Belastungsdosierung) •Wahrnehmung von Leistungsgrenzen (Vermeidung von Überforderung) •Harmonisierung vegetativer Dysfunktionen (Schlaf, biologische Rhythmen) •Verbesserung von Koordination, Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer •Förderung des Erkennens und Stärken der eigenen Ressourcen (somatisch, intrapsychisch, zwischenmenschlich/sozial) •Beachtung lebensgeschichtlicher Ereignisse (z.B Traumatisierungen) und Entwicklungen für die Klärung der Schmerzbewältigung und Schmerzgenese – Cave: Vermeiden von ReTraumatisierungen Für eine erfolgreiche Behandlung bedarf es eines integrierten, strukturierten, gut organisierten, aufeinander abgestimmten, interdisziplinären Zusammenwirkens somatischer, psychotherapeutischer und bewegungstherapeutischer Behandlungsansätze. Besondere Herausforderung ist dabei die Entwicklung einer gemeinsamen „Philosophie“ und „Sprache“. Ein Gesamtbehandlungsplan wird gemeinsam mit der PatientIn an individuelle Therapieziele und Gegebenheiten angepasst. Grundvoraussetzung ist die Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung zwischen PatientIn und Team. Die Haltung der einzelnen Teammitglieder ist professionell, wertschätzend, empathisch und ressourcenorientiert. Interventionelle und regulative Verfahren (Akupunktur und Neuraltherapie) sind aufgrund der Gefahr einer somatischen Fixierung kein regelhafter Bestandteil multimodaler Therapien. bestehend aus ÄrztInnen, Klinischen PsychologInnen/PsychotherapeutInnen, PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen und Pflege unter Annahme eines Bio-Psycho-Sozialen Modells behandelt werden. Das Behandlungsspektrum umfasst Körperbeschwerden ohne klinischen Befund, Psychosoziale Faktoren bei körperlichen Krankheiten, Körperliche Krankheiten und psychosoziale Auswirkungen sowie Biopsychosoziale Komplexität. Schmerzen sind eines der häufigsten Symptome bei diesen PatientInnen und bedürfen neben einer exakten diagnostischen Einordnung eines komplexen, interdisziplinären, multimodalen Therapieangebotes. In Übereinstimmung mit den aktuellen Leitlinien-Empfehlungen erleben wir das Bio-Psycho-soziale Modell und den Begriff der Emergenz als ausgesprochen praktikabel und hilfreich im klinischen Alltag. Die Einbettung unserer Station in die Infrastruktur eines Akutkrankenhauses wird von den PatientInnen gut angenommen. Sie erleichtert das klinische Arbeiten und die Betreuung sowohl in der Diagnostik als auch bei Komplikationen oder Co-Morbiditäten (wir haben es ja mit PatientInnen und nicht mit einer ausgewählten, abgegrenzten Diagnosegruppe zu tun). In diesem Zusammenhang ist es wichtig noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Therapieerfolg ganz entscheidend davon abhängt ob es gelingt mit der PatientIn gemeinsam ein Bio-Psycho-Soziales Verständnis der Symptomatik (Schmerz) zu erarbeiten. Dabei spielen Evidenzerfahrungen der PatientInnen eine große Rolle. Diese erweisen sich als besonders nachhaltig, wenn PatientInnen die Erfahrung machen, dass sie in ihrem Erleben aber auch im Ausdruck und in der Kommunikation (verbal/nonverbal) dieses Erleben von allen Berufsgruppen ernstgenommen werden. Die Station für Integrierte Psychosomatik verfügt über eine mehr als 30-jährige Tradition in der Behandlung dieser aufgrund der Chronifizierung oftmals schwierigen Patientengruppe. Eine funktionierende interdisziplinäre Organisationsstruktur, bewährte Modellvorstellungen und Leitlinien, theoriegeleitete Praxis und vor allem das Gelingen einer tragfähigen therapeutischen Beziehung sind notwendige Voraussetzungen um mit chronischen SchmerzpatientInnen erfolgreich zu arbeiten. Klinischer Alltag Die Station für Integrierte Psychosomatik der Abteilung für Innere Medizin des niederösterreichischen LandesklinikumsBaden arbeitet im Bereich der Primärversorgung. Sie bietet 30 PatientInnen Platz, die von einem multiprofessionelles Team 18 CONSILIUM 06/15 OA DR. WILHELM WLASSITS, MSC Station für Integrierte Psychosomatik der Abteilung für Innere Medizin des Landesklinikums Baden
© Copyright 2024 ExpyDoc