© Preußische Allgemeine Zeitung Ausgabe 19/15 vom 09.05.2015 Weizsäckers Rede vor 30 Jahren ebnete den Weg Die pauschale These von der Befreiung, die in der DDR Staatsdoktrin war, setzte sich im Westen Deutschlands erst nach 1985 durch Wenn sich in diesen Tagen die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht vom 8. Mai 1945 zum 70. Male jährt, werden deutsche Politiker wieder gebetsmühlenartig die pauschale These von der Befreiung beschwören, die das Datum angeblich ausmacht. Dabei hat sich diese Sichtweise, die in der DDR Staatsdoktrin war, erst nach 1985 auch im Westen Deutschlands allmählich durchgesetzt. Tatsächlich hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1945 in seiner Anweisung ICS 1067 (Ziff. I.4.b.) verfügt: „Deutschland wird nicht besetzt werden zum Zwecke der Befreiung, sondern als eine besiegte Feindnation …“ Dieser Grundsatz wurde von seinem Nachfolger Harry S. Truman bestätigt, und auch General Dwight D. Eisenhower als Oberbefehlshaber der Truppen in Europa stellte noch einmal ausdrücklich klar, die Alliierten kämen „als siegreiches Heer, nicht als Befreier“ nach Deutschland. Deshalb kapitulierte am 8. Mai 1945 ja auch nur die Wehrmacht und nicht etwa das Deutsche Reich, wie es leider oft fälschlicherweise in den Medien heißt. Gleichwohl fand mit der Verhaftung der Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz, die von den Alliierten nicht anerkannt worden war, am 23. Mai des Jahres dann auch die gewaltsame „feindliche Übernahme“ des gesamten deutschen Staates durch die Siegermächte statt. Kaum bekannt ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass eben jene Regierung schon am 3. Mai 1945 die NSDAP aufgelöst hatte. Theodor Heuss formulierte bereits im Mai 1949 und damit noch vor seiner Wahl zum ersten Bundespräsidenten, der 8. Mai 1945 bleibe „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie unserer Geschichte für jeden von uns, … weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“. In der SPD wurde die These von der Befreiung bis in die 1980er Jahre ebenso abgelehnt, und ihr erster Nachkriegs-Vorsitzender Kurt Schumacher, der selbst im Konzentrationslager gesessen hatte, wehrte sich vehement gegen eine solche Sichtweise. Auch linksliberale Medien in der Bundesrepublik Deutschland sahen es in jener Zeit nicht viel anders, zumindest aber wesentlich differenzierter als heute. Allein die Kommunisten in Ost und West betrachteten den 8. Mai 1945 stets als Tag der Befreiung. Der in den Reihen der demokratischen Parteien vorherrschende Konsens, dass dem nicht so sei, geriet erst mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985 ins Wanken, als er nämlich dezidiert vom „Tag der Befreiung“ sprach, was die deutschen Politiker und auch die Medien seither wie ein ex cathedra betrachten. Vergessen wird dabei allerdings, dass von Weizsäcker in seiner Rede zugleich sagte: „… der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Unbestreitbar ist, dass sämtliche Opfer der NS-Diktatur sich an jenem Tag befreit fühlen durften und dies selbstverständlich bis heute so sehen. Aber sie waren – ohne das relativieren zu wollen – eben nur eine Minderheit, denn die große Mehrheit der Deutschen dachte und empfand am 8. Mai 1945 ganz anders, was beim gegenwärtigen Gedenk-Ansatz leider immer wieder ausgeblendet wird. Insbesondere für die vertriebenen Ostdeutschen bildete jener Tag eine kaum vorstellbare Zäsur, und die damit verbundenen Ereignisse betrachteten sie zu Recht als die „dunkelste Zeit ihrer Geschichte“. Ihre „Befreiung“ bestand aus dem Verlust ihrer Heimat und ihres Besitzes, mithin ihres gesamten geistigen und materiellen Eigentums, und im übrigen Deutschland wurden unzählige Menschen infolge der Bombenschäden ebenfalls von all ihrem Hab und Gut „befreit“. Millionen von Soldaten und Zivilisten, vor allem jene, die nach Sibirien verschleppt wurden, „befreite“ man massenhaft von ihrem Leben, für Millionen anderer Deutscher bedeutete die „Befreiung“ den Verlust von Kunst- und Wertgegenständen oder auch Auslandsvermögen, und mit der Demontage wurde das Land in erheblichem Umfang von seinem Wirtschaftspotenzial „befreit“. Nicht zu vergessen sei schließlich, dass für die Hälfte Deutschlands und Europas die „Befreiung“ darin bestand, dass die bisherige braune durch neue rote Diktaturen ersetzt wurde. Der Mediziner Rigolf Hennig schrieb vor zehn Jahren in einem Aufsatz mit dem Titel „Zur geistigen Befindlichkeit der Deutschen“: „Wenn jemand nach dem 8. Mai 1945 erklärt hätte, 60 Jahre später würden die Deutschen die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht als ihre ‚Befreiung‘ feiern, dann wäre er als Deutscher zum damaligen Zeitpunkt besorgt auf seinen Geisteszustand hin angesprochen worden.“ Leider, so muss man heute feststellen, hat sich diese ursprünglich von der DDR sowie von westdeutschen Linksextremisten vertretene These zwischenzeitlich fast ganz Deutschland offiziell zu eigen gemacht. Dabei hat, wie schon erwähnt, „das neue Befreiungsdenken, das die Idee von Feierlichkeiten unmittelbar in sich trägt, … noch eine andere Schwachstelle: Es schreibt auch die Geschichte der alliierten Siegermächte um“, da von einer Befreiung Deutschlands bei ihnen seinerzeit explizit nicht die Rede war. Da lohnt ein Blick nach Osteuropa, wo die Menschen der These von der Befreiung energisch entgegentreten. Als etwa am 8. Mai 2011 im Baltikum und in der Westukraine lebende Russen Befreiungsfeiern inszenieren wollten, stieß das auf massiven Widerstand bei der Bevölkerungsmehrheit vor Ort. Der litauische Historiker Saulius Suziedelis erklärte dazu: „Die Erfahrung der Litauer ist, dass etwa 5000 ihrer Landsleute vom NS-Regime umgebracht wurden, aber zehnmal mehr unter den Sowjets.“ Diese mutigen Worte könnten auch hierzulande ein Signal sein, um die derzeit gängige „einseitige Befreiungsthese“, die längst zum unumstößlichen staatlichen Dogma Deutschlands geworden ist, kritisch zu hinterfragen. Wolfgang Reith
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