eine Broschüre - DIE LINKE. Brandenburg

Sowjetisches Ehrenmal in Seelow, in Erinnerung an die Schlacht um die Seelower Höhen im April 1945
8. Mai 2015 – 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus
Argumentationshilfe und Materialsammlung
DIE LINKE Bundesgeschäftsstelle
Bereich Politische Bildung
Kontakt: Annegret Gabelin
[email protected]
April 2015
Die nachstehenden Thesen sind als Anregung zur Diskussion in Kreisverbänden gedacht und fassen
Positionen und Erkenntnisse aus folgenden Materialien zusammen, die als Anlagen zur Verfügung gestellt
werden:
• 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus - 8. Mai soll gesetzlicher Gedenk- und Feiertag
werden. Erklärung des Parteivorstandes vom 28. und 29. März 2015
•
Geschichtspolitik und Machtpolitik um den 70. Jahrestag der Befreiung. Beitrag von Dr. Stefan
Bollinger auf der 23. Tagung der Historischen Kommission am 7. März 2015
•
Die vergessenen Opfer: Sowjetische Kriegsgefangene. Höchste Zeit für ihre Anerkennung und
Entschädigung. Jan Korte. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 08/2015
•
Den 8. Mai als Befreiung begreifen.
Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission beim Parteivorstand
der LINKEN zum 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, 23. April 2010
•
8. Mai 1945.
Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS zum 60. Jahrestag
der Befreiung vom Faschismus, 5. April 2005
•
Nichts darf vergessen werden! Niemand darf vergessen werden! Diskussionsbeitrag auf der
Konferenz: „Der Krieg 1941 - 1945 im Gedächtnis der Generationen. Nachdenken über
Vergangenheit und Gegenwart. Europa ohne Kriege?“ Moskau, 22. Juni 2001. Von Michael Brie
•
Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche. Von Götz Aly, Berliner Zeitung, 2. März 2015
•
Ukrainer, Russen und Deutsche sollen am 8./9. Mai zusammenkommen. Von Götz Aly, Berliner
Zeitung, 9. März 2015
1. Nachdem der „Ausbruch“ des Ersten Weltkrieges, der sich 2014 zum 100. Mal jährte, mit einer
Vielzahl von Veröffentlichungen, Diskussionen und Veranstaltungen ins öffentliche Bewusstsein
gehoben wurde, entschließt sich die Bundeskanzlerin, nicht an den offiziellen Feierlichkeiten zum 70.
Jahrestag der Befreiung in Moskau teilzunehmen. Die historischen Leistungen der Völker der
Sowjetunion werden aufgerechnet gegen das heutige Russland als Störfaktor der Politik der USA und
mit ihr verbündeter Staaten Europas. Die Auseinandersetzung um die Bewertung von Geschichte wird
zur Stellvertreterpolitik im aktuellen Kampf um Hegemonie in den Beziehungen insbesondere
zwischen dem westlichen Bündnis und Russland. Bundesregierung und Bundestag gehen in der
Umwertung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs noch einen Schritt weiter: Erstmals wird zum 20.
Juni 2015 ein gesetzlicher „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ eingeführt.
2. Der Zweite Weltkrieg war in erster Linie ein beispielloser Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieg
Hitlerdeutschlands gegen Osteuropa. Mit 27 Millionen Toten, darunter 14 Millionen Zivilisten,
entrichtete die Sowjetunion den größten Blutzoll. Insgesamt starben in diesem Krieg 60 Millionen
Menschen bei Kampfhandlungen, durch Repressalien, Massenvernichtungsaktionen und
Kriegseinwirkungen. Von 18 Millionen in Konzentrationslager verschleppten Menschen wurden 11
Millionen ermordet oder durch Arbeit vernichtet. Unfassbar bleibt der industrielle Massenmord an den
europäischen Juden (Holocoust). Die Hauptlast des Krieges trug die Sowjetunion. Die Ostfront war die
Hauptfront des Krieges. Lange vor Eröffnung der Zweiten Front im Westen hatten sowjetische
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Soldaten den Feind vor Moskau gestoppt, in Stalingrad und im Kursker Bogen die Wende des Krieges
erzwungen. Die Eröffnung der Zweiten Front durch die Westalliierten trug dazu bei, dass der Krieg
schneller beendet werden konnte.
3. 1945 folgte der Versuch eines demokratischen Neuanfangs. In einer kurzen Phase
basisdemokratischer Entwicklung von unten gelang in allen Besatzungszonen Deutschlands
gemeinsames Handeln von Kommunisten, Sozialdemokraten sowie demokratisch und antifaschistisch
gesinnter Bürger. Diese „Phase eines zu früh und zu radikal abgebrochenen demokratischen Aufbruch
mit offener, möglicherweise demokratisch-sozialistischer Perspektive“ (S. Bollinger) wurde beendet
durch alle vier Besatzungsmächte und die sich neu formierenden Parteien. Unterschiedlich in Ost und
West waren 1945 die Sichtweisen auf die Niederlage des deutschen Faschismus. Während Linke und
dann die spätere DDR aus dieser Niederlage den notwendigen Bruch mit der Kapitallogik ableiteten,
sah man in den Westzonen und in der späteren BRD in dieser Niederlage die Notwendigkeit, mit den
faschistischen Methoden der Verwirklichung kapitalistischer Politik zu brechen. Diese
auseinanderstrebenden Tendenzen verfestigten sich mit der Einbindung beider deutschen Staaten in
die sich gegenüberstehenden politischen und militärischen Blöcke.
4. Die BRD brauchte 40 Jahre, um den 8.Mai 1945 als Tag der Befreiung artikulieren zu können. Es ist
das Verdienst des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der am 8.Mai 1985 sagte: „Wir haben
wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen
Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim
der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. … Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle
befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Diese
Aussage manifestiert einen Wandel in der Geschichtspolitik der alten BRD, dessen Stationen u. a. der
Auschwitz-Prozess ab 1963, die Versöhnung mit Frankreich und die neue Ostpolitik Willy Brandts
sind. Die Veränderungen in der Weltpolitik und die 1968er Bewegung sind weitere Faktoren dieses
Wandels.
5. Die Geschichtspolitik der Bundesrepublik ist gekennzeichnet durch einen interessengeleiteten und
selektiven Umgang mit den Ergebnissen des 2. Weltkrieges. Jeder Fortschritt im Gedenken an die
Opfer und in der Aufarbeitung der Geschichte war von massiven Widerständen in der Gesellschaft der
BRD begleitet. So versuchte man zunächst die Schuld auf die Haupttäter Hitler, Himmler und Göring
zu reduzieren. Vom Judenmord habe ja die Bevölkerung nichts mitbekommen. Man versuchte, die
Deutschen als die eigentlichen Opfern zu betrachten – Opfer Hitlers, Opfer des Krieges und des
Bombenkrieges, dann Opfer der Entnazifizierung – dies alles zur Abwehr von Kollektivschuld. Spät –
beginnend erst mit den 1960er Jahren und dem Auschwitz-Prozess ab 1963 – begann das
staatsoffizielle Gedenken an die 6 Millionen Opfer der Shoah. Gut in Erinnerung ist die
Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung 1995. Bis 2002 brauchte es, ehe
Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert wurden. Sogenannte „Kriegsverräter“, die Juden und
Kriegsgefangenen halfen, mussten bis 2009 auf ihre Rehabilitierung warten.
6. Eine der größten Opfergruppen waren die 5,7 Millionen Angehörigen der Roten Armee, die in deutsche
Kriegsgefangenschaft gerieten. 3,3 Millionen von ihnen starben an Hunger, Kälte, Krankheiten und
Zwangsarbeit oder wurden in massenhaften Erschießungen getötet. Diese Opfergruppe spielt im
offiziellen Gedenken der Bundesrepublik eine völlig untergeordnete Rolle und wird gerade durch die
Oppositionsparteien ins Blickfeld gerückt, die politische Anerkennung und finanzielle Entschädigung
der wenigen noch lebenden Opfer verlangen. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden
„vergessen“, weil
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der Antikommunismus auch die Vergangenheitspolitik der alten Bundesrepublik bestimmte,
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•
es erst den mit der Wehrmachtsausstellung 1995 erreichten Durchbruch brauchte, um
Verbrechen der Wehrmacht als tragende Säule des NS-Regimes ins öffentliche Bewusstsein
zu heben,
•
die Sowjetunion unter Stalin Kriegsgefangene als Verräter betrachtete und nach ihrer
Rückkehr teilweise weiteren Repressionen aussetzte (erst 1995 wurden sie in Russland
offiziell rehabilitiert),
•
weil die Perspektive der Totalitarismustheorie und die aktuellen außenpolitischen
Auseinandersetzungen mit Russland die Anerkennung dieser Opfergruppe weiter behindern.
Unser Ziel muss sein, nicht nur im Parlament dafür einzutreten, sondern Bündnispartnerinnen
und Bündnispartner in der Gesellschaft zu gewinnen, um die noch rund 2000 lebenden
ehemaligen Kriegsgefangenen anzuerkennen und zu entschädigen.
7. Heute fällt die Politik der Bundesrepublik hinter die Einsichten von Richard von Weizsäcker zurück.
Ziel ist es, endlich einen Schlussstrich unter die Debatte zu setzen und im Bewusstsein neuer Stärke
die Führungsrolle in Europa auszubauen, was bewusst oder unbewusst von einer Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger geteilt wird. So werden zum Beispiel
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die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges umgedeutet (die Einverleibung der Tschechischen
Republik und das Opfern Spaniens werden kaum beklagt, dafür die sowjetische Flucht in
Verträge mit Hitlerdeutschland in den Mittelpunkt gerückt);
•
die Westfront als vermeintlich entscheidend für den Sieg kontinuierlich aufgewertet (siehe
Feiern zum D-Day);
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deutsche Kriegsopfer betont (z. B. Bombardierung Dresdens u. a. Städte) und dabei
ausgeblendet, dass das Folgen des verbrecherischen Krieges Deutschlands gegen Europa
sind;
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Flucht und Vertreibung als besondere Last für Deutschland dargestellt und die historischen
Ursachen dafür ausgeblendet (neuer Gedenktag am 20. Juni, Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung);
•
bei der Benennung der Dimension und Einzigartigkeit des Mordes an 6 Millionen Jüdinnen und
Juden zugleich der Charakter des faschistischen Krieges als Vernichtungskrieg ausschließlich
gegen Juden umgedeutet und das imperiale Streben nach „Lebensraum“ nicht thematisiert.
So ist die Völkervernichtungsabsicht und –praxis („Generalplan Ost“ gegen Slawen, Sinti und
Roma, politisch Missliebige) nicht Thema der Analyse;
•
sozialökonomische Kriegsziele ausgeblendet zugunsten einer abstrakt moralisierenden
Betrachtungsweise jenseits von Fakten. Damit wird verschleiert, dass die sozialökonomische
Grundlage des Faschismus ihn als gefährliche Abart des Kapitalismus ausweist.
8. Die sowjetische Politik war 1945 nicht nur auf die Niederwerfung des Faschismus gerichtet, sondern
zielte darauf, in den befreiten und eroberten Staaten soziale Umbrüche in Gang zu bringen und zu
befördern, die zugleich ihre Einflusszone erweiterten und ihren Sicherheitsinteressen dienten. So
wurde das sowjetische Modell exportiert. Allmacht der kommunistischen Partei, Überzentralisierung,
Verschärfung des Klassenkampfes, Unterordnung unter sowjetische Ziele in der
Systemauseinandersetzung bestimmten die Befreiung von faschistischer Unterdrückung und den
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Versuch, den Nährboden zu beseitigen, auf dem Faschismus und Kapitalismus gedeihen. Doch das
erweckte neuen Widerstand bei Sozialistinnen und Demokraten, die diese diktatorischen Mittel nicht
wollten.
9. Linke Geschichtspolitik muss die politischen und sozialen Fragen benennen und analysieren. Im
Ergebnis des Zweiten Weltkrieges wurden der deutsche und italienische Faschismus sowie der
japanische Imperialismus vernichtet. Der Kampf gegen die Kriegstreiber und Völkermörder wurde in
einem breitest möglichen Bündnis antifaschistischer, demokratischer Kräfte über politische und
soziale Grenzen hinweg geführt. In Deutschland jedoch war der Widerstand in der Minderheit, sodass
die Befreiung von außen kommen musste.
10. Der Zweite Weltkrieg tobte weltweit: in Europa, Asien und Nordafrika. Der Kampf gegen die
faschistische Aggression erforderte große Opfer der Linken, besonders der Kommunisten. Sie
erwarben Anerkennung und Respekt. Daher gab es in Westeuropa – außer in der alten BRD und den
faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland – eine kurze Phase der möglichen
Linkswendung. Das Versagen der nationalen kapitalistischen Eliten und die Krisenerfahrungen der
1930er Jahre schufen eine kurzzeitige Offenheit für einen anderen, einen antikapitalistischen Weg.
11. Die Lehren des Zweiten Weltkrieges sind hochaktuell. Das Wiedererstarken imperialistischer Politik,
das erneute Setzen auf Widersprüche zwischen kapitalistischen Staaten und das Ringen um
hegemoniale Macht zwingen, sich auf die Erfahrungen des Miteinanderlebens von Staaten
unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen in Zeiten des Kalten Krieges zu stützen. Das Erstarken
nationalistischer, rassistischer und religiös-fundamentalistischer Ideologien und Bewegungen als
Krisenreaktion unterschiedlicher Kräfte und deren zunehmende europäische Vernetzung sind
besorgniserregend und begünstigen faschistoide Bewegungen. Wir haben es mit einem bedrohlichen
Verfall antifaschistischer Einsichten und demokratisch-toleranter Ansätze zu tun, die sich in den
Nachkriegsjahren in Ost und West mühsam durchgesetzt haben. Dieser antifaschistische Konsens
wird unter der Flagge eines vermeintlichen Antitotalitarismus aufgeweicht.
12. DIE LINKE setzt sich dafür ein, dass der 8. Mai endlich auch in der Bundesrepublik ein bundesweiter
gesetzlicher Gedenk-und Feiertag wird. Praktische Erinnerung an die Befreiung und die Befreier
bedeutet für uns, neben der Organisierung von und der Teilnahme an öffentlichen und offiziellen
Kranzniederlegungen und Veranstaltungen auch dem Aufruf von Götz Aly in der Berliner Zeitung zu
folgen, dem Aufruf, selbst den Tag der Befreiung zu feiern, wenn es die Regierenden nicht tun. Als
große, öffentlich wirksame Geste des Mitgefühls, der Solidarität und der Freundlichkeit, die sich an
die von Deutschland überfallenen Völker der Sowjetunion, an die Familien der Soldaten der Roten
Armee richtet, sind wir aufgerufen, am 9. Mai um 11 Uhr zum Sowjetischen Ehrenmal in
Berlin-Tiergarten zu kommen und Blumen niederzulegen. Eine besondere Verantwortung haben die
älteren Generationen, ihr Wissen und ihren Umgang mit der Geschichte an jüngere Generationen
weiterzugeben, die nur wenig davon in der Schule erfahren. Der 8. Mai ist für uns sowohl
antifaschistischer Gedenktag für Demokratie, Humanität und Toleranz als auch Tag der Mahnung vor
Krieg als Mittel der Außenpolitik. Erinnern wir an den Schwur von Buchenwald: „Nie wieder Krieg – nie
wieder Faschismus!“
Anlagen 1 – 8
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Anlage 1
Beschluss 2015/54
70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus - 8. Mai soll
gesetzlicher Gedenk- und Feiertag werden
Erklärung des Parteivorstandes vom 28. und 29. März 2015
Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum siebzigsten Mal. Die Alliierten
siegten über den deutschen Faschismus, beendeten millionenfaches Morden, das Leiden und die
Verfolgung Andersdenkender, Andersglaubender, Anderslebender. Die Totalität der nationalsozialistischen
Rassenpolitik und des Vernichtungskriegs machte aus gegensätzlichen ökonomischen und politischen
Systemen Verbündete. Am 8. Mai 1945 endete der gemeinsame Kampf der Sowjetunion und der
westlichen Alliierten gegen eine einzigartige Bedrohung grundlegender Werte des Humanismus und der
Menschlichkeit, gegen Liberalität und Demokratie. Die Opfer der faschistischen, antisemitischen und
rassistischen Brutalität in den Jahren der Nazi-Herrschaft sind uns heute noch Verpflichtung, gemeinsam
zu handeln, aufzustehen gegen den braunen Ungeist, rechte Hetzer, gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit oder gegen die Intoleranz neurechter Pegida-Bewegungen.
Die Morde des NSU, die Naziaufmärsche und die Hakenkreuz-Schmierereien erinnern uns daran, dass der
Schoß, aus dem Nazideutschland, Krieg und Zerstörung erwuchsen, noch immer fruchtbar ist. Das
Erstarken rechtsextremer, rassistischer, antimuslimischer und antisemischer Kräfte in Deutschland und in
Europa erfüllt uns mit Sorge. Deshalb müssen alle demokratischen und antifaschistischen Kräfte das
höchste Gut Leben in Frieden und Demokratie energisch verteidigen. Dies gelingt nur, wenn die
Gesellschaft zusammensteht, wenn die Politik Projekte gegen Rechts weiter unterstützt und verstärkt
fördert, in Schulen qualifiziert Zusammenhänge dargestellt werden, Medien sensibel berichten und
aufklären und antifaschistisches und zivilgesellschaftliches Engagement gewürdigt und nicht kriminalisiert
wird.
Der Tag der Befreiung ist ein Tag des Gedenkens an die Opfer rassistischer und politischer Verfolgung. Er
ist ein Tag des Gedenkens an den antifaschistischen Widerstand. Als LINKE sind wir dem
kommunistischen und dem sozialistischen Widerstand historisch besonders verbunden, in dessen
Traditionslinie wir uns sehen. Aber wir verneigen uns ebenso mit tiefem Respekt vor allen anderen
politischen Strömungen des Widerstands gegen das Hitler-Regime.
Der 8. Mai 1945 markiert den Sieg über faschistische Barbarei und Krieg. Er beendete das millionenfache
Morden der Nazis. Damit der 8. Mai als Tag der Befreiung von der faschistischen Barbarei, als Gedenktag
für Humanität, Toleranz und Demokratie und als Tag der Erinnerung an die Opfer sowie an die
Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer in der gesellschaftlichen Erinnerung den Platz
bekommt, der ihm gebührt, wollen wir, dass der 8. Mai ein bundesweiter gesetzlicher Gedenk- und
Feiertag 13.4.2015 DIE LINKE: 8. Mai soll gesetzlicher Gedenk- und Feiertag werden wird. Schließlich er
nicht irgendein Tag in der Geschichte Deutschlands. Er war die Stunde des demokratischen Neubeginns
nach dem Scheitern der Weimarer Republik. Vor gerade einmal 30 Jahren sagte Richard von Weizsäcker,
dass der 8. Mai für die Deutschen ein Tag der Befreiung wurde. Das Wort "wurde" ist wichtig, denn auch
nach 1945 sahen viele Deutsche den 8. Mai einen Tag der "Niederlage". Ein bundesweiter gesetzlicher
Gedenk- und Feiertag würde Weizsäckers Diktum in besonderer Weise unterstreichen.
Wir erleben gegenwärtig allerdings auch zunehmend problematische geschichtspolitische Gesten rund um
die Jahrestage des Zweiten Weltkriegs. So ist die Bundesregierung offenbar nicht Willens, diesen Tag mit
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einer angemessenen Gedenkveranstaltung zu würdigen. Die Bundeskanzlerin hält es nicht für notwendig,
am 70. Jahrestag an der Gedenkveranstaltung in Moskau teilzunehmen. Wir müssen zu Kenntnis nehmen,
dass Bundespräsident Gauck bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Beginns des Zweiten
Weltkriegs die Rolle und die Opfer der sowjetischen Bevölkerung nicht würdigt und stattdessen einer
gegen Russland gerichteten Militarisierung der Außenpolitik das Wort redet. Dies nennen wir vor dem
Hintergrund der über 30 Millionen sowjetischen Kriegsopfer geschichtsvergessen. Die Erinnerung an den
8. Mai 1945 ist für uns daher auch stets ein Erinnern an die großen Opfer, die die Sowjetunion erbrachte,
Europa vor dem faschistischen Terror zu befreien. Diese Opfer waren, was
heute oft vergessen oder ignoriert wird, eine Voraussetzung für die Demokratie in Westeuropa ab 1945.
Der 8. Mai ist als Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs sowohl antifaschistischer Gedenktag für
Demokratie, Humanität und Toleranz als auch Tag der Mahnung vor Krieg als Mittel der Außenpolitik. "Nie
wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!" so lautet der Schwur von Buchenwald. Dieser Schwur ist aktueller
denn je. Für uns bedeutet die Erinnerung an den 8. Mai 1945 daher stets auch dafür einzutreten, dass von
deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Aber wir stellen in großer Sorge fest, dass weder der
Schwur von Buchenwald noch die Botschaft des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers der
Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, dass Krieg nicht mehr die "ultima ratio" sondern die "ultima
irratio" der Politik sei, für große Teile der politisch Verantwortlichen in Deutschland noch gilt. Für die
anderen im Bundestag vertretenen Parteien ist die Kriegsführung wieder zur selbstverständlichen Option
geworden. Damit werden wir uns niemals abfinden. Für uns gilt in Erinnerung an den 8. Mai 1945
weiterhin unmissverständlich: Nein zum Krieg!
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Anlage 2
Dr. Stefan Bollinger
Beitrag auf der 23. Tagung der Historischen Kommission am 7. März 2015
Geschichtspolitik und Machtpolitik um den 70. Jahrestag der Befreiung
Muss der 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung feierlich begangen werden, muss eine deutsche
Regierungschefin gar nach Moskau reisen, um die Siegermacht Russland zu ehren? Oder geht es
eine Nummer kleiner? Denn Russland ist heute für die US-Politik, damit auch für die BRD, zu
einem Störfaktor geworden, der die 1989/91 eingeleitete Neuordnung Europas und der Welt nicht
mehr hinnehmen will, wie jüngst die Ukraine-Krise demonstriert. Damit stehen auch die
historische Leistung der Sowjetunion im Krieg gegen den deutschen Faschismus und der Wert
ihres Sieges zur Disposition. Linke werden sich dem stellen müssen, um Position in den heutigen
Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden zu beziehen und sich ihrer eigenen Geschichte zu
vergewissern.
Geschichtspolitik als Kampffeld
Denn wieder einmal wird Geschichtspolitik zum Stellvertreterschauplatz politischer Kämpfe und
in ihrer spezifischen Interpretation zum Stichwortgeber politischer Grabenkämpfe. Im Kern der
aktuellen Auseinandersetzung geht es um die Rolle der Sowjetunion, respektive Russlands, in
den deutsch-russischen Beziehungen und genereller in den Beziehungen des westlichen
Bündnisses zum als bedrohlich empfundenen, wiedererstarkten und aufmüpfig gewordenen
östlichen Nachbarn. Dabei reduziert sich diese Auseinandersetzung nicht auf den Mai 2015, sie
wird ihre Weiterführung im nun bundesweit neu etablierten "Gedenktag für die Opfer von Flucht
und Vertreibung" am 20. Juni finden und sie wird auch nicht im nächsten Jahr anlässlich des 75.
Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion beendet sein. Was im Streit um die
Teilnahme an Festveranstaltungen seinen skurrilen, allerdings für Russland höchst verletzenden
Ausdruck findet, das hat im Kontext der Ukraine-Krise längst zu einer neuen Eiszeit in den
Beziehungen zwischen Berlin und Moskau geführt, allerdings einem, wenn auch wesentlichen
Nebenschauplatz des Konflikts USA-Russland. Manche Sorge um eine neue Vorkriegszeit
gewinnt Kontur.
Mit Unglauben und Verachtung haben nicht nur linke Politiker zur Kenntnis nehmen müssen,
dass die Bundesregierung mit dem bevorstehenden Jahrestag der Befreiung nichts zu tun haben
will. Genauer, dass diese trotz ihrer sonst so großen Begeisterung für geschichtspolitische
Themen und Jubiläen keinen Handlungsbedarf sieht. Das ist umso bemerkenswerter, als sie es
sich im Vorjahr nicht nehmen ließ, an den "Ausbruch" des Ersten Weltkriegs zu erinnern und
durchaus wohlwollend die umfängliche geschichtspolitische und geschichtswissenschaftliche
Hype um diesen Jahrestag begleitete.
Dies ist auch verwunderlich angesichts der angemessenen Aufmerksamkeit, die höchste
Repräsentanten dieses Staates dem 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz mit seinen
letzten Überlebenden des Holocaust widmeten. Freilich betont die Bundesregierung, so auf eine
entsprechende Anfrage der Fraktion der Partei Die Linke, dass sie "sich ihrer immerwährenden
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Verantwortung bewusst (ist), an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zu erinnern
und seiner Opfer zu gedenken, und (sie) fördert daher insbesondere dauerhaft Gedenkstätten, die
sich der Aufarbeitung dieser Verbrechen und dem Gedenken an die Opfer widmen". Die
Bundesregierung ist in der Antwort nicht bereit, einen Widerspruch zwischen der breiten
Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg und den diesjährigen erinnerungspolitischen Aktivitäten
zu erkennen. Vielmehr betont sie: "Aus diesem gesteigerten Interesse den Schluss zu ziehen, dass
damit eine Entlastung von der Schuld Deutschlands an Angriffskriegen, Völkermord, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und schweren Kriegsverbrechen während des NS-Regimes verbunden
sei, ist abwegig.
Im Gedenkjahr 2015, in dem das Ende des Zweiten Weltkrieges wie auch die Befreiung der
meisten Konzentrationslager sich zum 70. Mal jähren, wird die Erinnerung an den Zweiten
Weltkrieg sicherlich auch in den Medien und in der Öffentlichkeit wieder stärker in den Fokus
treten."
Wenn die Bundesregierung letztlich die zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteure
dieses Landes in der Pflicht sieht, allerdings bei besonderer Betonung der Rolle von
"fachkundigen (insbesondere bundesunmittelbaren) Einrichtungen der politischen, historischen
und kulturellen Bildung ...", garantiere dies, "dass kein staatlich verordnetes Geschichtsbild,
sondern ein wissenschaftlich fundiertes und gesellschaftlich verankertes Erinnerungswesen
gefördert wird".
Dieses Vorgehen entspricht der generellen Herangehensweise an Geschichtspolitik, vornehmlich
im Sinne von Erinnerungspolitik, die deutsche Politik betreibt. Also ein scheinbar über den
Dingen stehender Umgang mit Geschichte. Praktisch wird jedoch durch die Lenkung der
finanziellen Mittel, durch symbolische politische Aktivitäten, aber auch einem im Mainstream
verankertem Geschichtsbild selbstredend handfest Politik gemacht.
Die diesjährige Zuspitzung in dieser Frage entzündete sich am Verhalten gegenüber Russland.
Das Gerangel um eine mögliche Teilnahme der Bundeskanzlerin an den Gedenkfeierlichkeiten in
Moskau endete vorerst mit der Teilnahmeabsage zur Militärparade auf dem Roten Platz am Tag
des Sieges. Ersatzweise kündigte die Kanzlerin ihren Besuch in Moskau am Folgetage mit einer
Kranzniederlegung u.a. am Grabmal des unbekannten Soldaten an.
Scheinbar ist dies nur ein besonderes Problem angesichts der heutigen Politik Russlands
gegenüber seinen Nachbarn und dem harten Widerstand, den die westlich dominierte
Weltgemeinschaft dagegen einnimmt. Aus Moskauer Sicht stellt sich dies naturgemäß anders, als
Versuch zur Abwehr einer neuen Einkreisung dar. Für den Westen ist aber klar: Ein als aggressiv
eingestuftes Land könne dafür nicht belobigt und geehrt werden, dass es vor Jahrzehnten einen
anderen Aggressor in die Schranken wies und vernichtete. Besonders unter dem Eindruck der
Vorbehalte der osteuropäischen postkommunistischen Regime kommt hinzu, dass diese
Wertschätzung auch keinem Lande gelten dürfe, das eigentlich die Befreiung von einer totalitären
Diktatur nur genutzt habe, sie durch eine andere zu ersetzen.
Unter diesem erweiterten Blickwinkel wird die Episode 2015 zu einem Teil genereller
Neuausrichtung von Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zumindest in Europa in Bezug auf die
östliche Großmacht mit der Hauptstadt Moskau und ihrem jeweiligen Einzugs- und
Interessenbereich.
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Die bundesdeutsche Entdeckung der Befreiung
Hier müssen konsequent etwas größere Zeiträume bundesdeutscher Geschichtspolitik in den
Blick genommen werden, die immer Teil einer generellen außenpolitischen Strategie und des
kapitalistischen ordnungspolitischen Selbstverständnisses waren und sind. Allerdings mit der
Besonderheit, dass nach der Herstellung der deutschen Einheit – mit ausdrücklicher sowjetischer
Zustimmung, die für einen vergleichsweise geringen Preis politisch erkauft wurde, - das vereinte
Deutschland wirtschaftlich, politisch, bedingt auch militärisch sich einer neuer
Verantwortungsrolle in Europa und der Welt bewusst ist und sie mit seinen Mitteln entschlossen
durchsetzt.
Dass dies eine Führungsrolle ist, für die die Berliner Republik auf Zustimmung stößt, die sich
vornehmlich mit ihrer wirtschaftlichen Stärke paart, aber konsequent neoliberal daherkommt,
gehört zu den Besonderheiten der neuen Weltordnung. Bundespräsident Joachim Gauck
dechiffrierte der interessierten Welt der Mächtigen auf der Münchner Sicherheitskonferenz im
vergangenen Jahr das heute offen ausgesprochene deutsche Verantwortungsgefühl – für sich und
die Welt. "Nun vermuten manche in meinem Land im Begriff der 'internationalen Verantwortung'
ein Codewort. Er verschleiere, worum es in Wahrheit gehe. Deutschland solle mehr zahlen,
glauben die einen. Deutschland solle mehr schießen, glauben die anderen. Und die einen wie die
anderen sind überzeugt, dass 'mehr Verantwortung' vor allem mehr Ärger bedeute." Für ihn trifft
dies alles zu. Doch er bleibt blumig: "Lassen Sie uns also nicht die Augen verschließen, vor
Bedrohungen nicht fliehen, sondern standhalten, universelle Werte weder vergessen noch
verlassen oder verraten, sondern gemeinsam mit Freunden und Partnern zu ihnen stehen, sie
glaubwürdig vorleben und sie verteidigen." Und die Bundesverteidigungsministerin Ursula von
der Leyen meldet 2015 auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise forsch: "'Is Germany ready to lead?'
Meine Antwort: Ja, wir sind bereit." Wenn es denn doch etwas verklausuliert als "Führen aus der
Mitte" daherkommt, was unterstellt, dass die lieben Partner gefälligst akzeptieren sollen, dass sie
geführt werden wollen. Noch ist manchmal bundesdeutsche Politik zu oft zögerlich, zu abwartend.
Das lässt einen kleinen Rest Hoffnung ob einer rationalen Einsicht in die Risiken einer solchen
Politik. Einen sehr kleinen Rest …
Nicht nur fragende Gesten der Verbündeten, zuallererst die USA, treibt deutsche Politik voran. Denn
die wollen nicht nur Geld sehen, sondern auch deutsche Soldaten an den Brennpunkten der Welt.
Deutsche Politiker begreifen, dass neben dem Scheckbuch militärische Präsenz zählt. Wie ideal, dass
sich linksliberale publizistische Unterstützung schnell findet, wie vom einflussreichen französischen
Soziologen Alain Minc, der sich und die Welt fragt "ob uns eine Bundesrepublik lieber ist, die sich
aus der Geschichte weitgehend verabschiedet hat, oder, im Gegenteil, ein Deutschland, das bereit ist,
eine gemäßigte Machtposition einzunehmen?" Die Frage stellen heißt sie beantworten – nur dass
heute die Eliten und ihre Intellektuellen darüber sprechen, was seit Jahrzehnten bereits funktioniert.
Macht- und Hegemoniefragen haben immer eine Geschichte, haben Nutznießer und Verlierer. Das
trifft auf den Weltmachtanspruch des deutschen Faschismus und seine gewaltsame Zurückweisung
ebenso zu wie auf die Bedingungen einer neuen Weltordnung nach dem Ende der sich auf 1945
bezogenen Nachkriegszeit und -ordnung.
Das wirft aber die Frage nach genau dem Verständnis von Geschichte, von deutscher, europäischer
und Weltgeschichte seit 1945 auf. Dazu gehört, dass die Mehrzahl der Bürger Deutschlands
bewusst oder unbewusst dieses neue Bewusstsein der Stärke und des Neuanfangs – auch in der
Geschichte, die endlich einen Schlussstrich verdiene – teilt. Denn sie profitieren bislang davon,
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weil sie durch eine breite mediale Manipulation und Desinformation auf diesen Kurs
eingeschworen werden. Selbst die linke Opposition wirkt unentschlossen ob des Behauptens ihrer
friedenspolitischen Konsequenz. Noch sichert Bequemlichkeit mehr als Einsicht, dass der Ruf
nach den Waffen übermäßig beliebt ist. Aber die pazifistische Grundeinstellung der Deutschen ist
längst gebröckelt. Nicht nur Konservative, auch Sozialdemokraten und Grüne, vermehrt selbst
Politiker der Partei Die Linke wollen weltpolitische "Verantwortung übernehmen" und nicht
mehr abseits stehen. "Humanitäre Katastrophen", was und wo auch immer diese sein sollen,
erforderten auch friedenserhaltende Maßnahmen, zur Not mit "robusten Mandat", also der
Bereitschaft zum Krieg.
Die Erfahrungen des Krieges, das Versprechen, nie wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen,
die Erwartungen an die große Friedensordnung mit der noch größeren Friedensdividende nach
dem Ende der Blockkonfrontation scheinen vergessen.
Die Bundesrepublik spielt hier zweifellos eine Schlüsselrolle, denn es geht um das Schicksal
ihres Vorgängerstaates, der 1945 in Blut und Trümmern unterging und der nach
übereinstimmender Auffassung der damaligen alliierten Sieger durch Demilitarisierung,
Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung, auch Demontage verschwinden sollte und
als friedliebender Staat im Herzen Europas wieder auferstehen sollte. Es geht um den eigenen
Platz in der Geschichte, die dieses Programm verwirklicht haben und verwirklichen mussten.
Wobei schon bald statt des einen zwei Staaten diese Erbschaft antreten mussten und sich
unterschiedlich, lange Zeiten auch feindselig zu einander, entwickelten.
Für eine radikale Linke und dann für die DDR war es leichter, die Zäsur 1945 als einen
Neuanfang zu begreifen, denn sie wollten tatsächlich einen Ausbruch aus dem Kapitalismus, der
den Faschismus mit seinem Terror, seiner Rassenvernichtung und seinem Versuch zur Eroberung
der Weltherrschaft hervorgebracht hatte. Auch wenn diese Politik bei den einsichtigeren Teilen
der herrschenden Klasse im Westen – nicht zuletzt unter dem Eindruck ihres blutigen Scheiterns
– ebenfalls verworfen wurde und der antifaschistische, antidiktatorische Impetus unter dem
Eindruck der alliierten Reeducation ernst genommen werden muss, es blieb ein Bruch in den
Methoden der Verwirklichung kapitalistischer, imperialistischer Politik, nicht – wie im Ostblock,
in der DDR erstrebt – ein Bruch mit der Kapitallogik und ihren Konsequenzen.
Die Neuorientierung deutscher Politik blieb eingebunden in eine Systemauseinandersetzung, die
Zuschreibungen vereinfachte, die aber auch das konkrete Verhalten der politischen Akteure
vorbestimmte: Sie ging einher mit einer Auseinandersetzung um die Gesellschaftsziele, um die
Unterordnung und Zuordnung zu den Blöcken und ihren führenden Supermächten –
Sowjetisierung versus Amerikanisierung. Sozialismus versus Kapitalismus.
Hier waren innenpolitische Frontlinien schnell zu ziehen und hier war vor allem für den Westen
Deutschlands und seine neue Verbündeten klar: Antisowjetismus, Antibolschewismus sind für
jene Elitenangehörigen, die nach 1945 zeitweise ausgegrenzt wurden, nun eine Eintrittskarte in
bundesdeutsche Sicherheits- und Machtstrukturen. Fremde Heere Ost und SD, Organisation
Gehlen und schließlich der BND konnten hier Kontinuitäten wahren, ebenso wie die gradlinige
Verbindung von Wehrmacht zu Bundeswehr, die nur wenig durch eine antitotalitaristische
Selbstverklärung kaschiert wurde. Die Überwindung solcher Traditionslinien dauerte in der
Bundesrepublik Jahrzehnte. Nachdem alle Akteure das zeitliche gesegnet haben finden sechs,
sieben Jahrzehnte nach der vertanen Chance zum radikalen Bruch mit der Nazivergangenheit
Untersuchungen Platz, in denen bundesdeutsche Ministerien, Wissenschaftsorganisationen oder
11
Wirtschaftsunternehmen sich dieser braunen Vergangenheit auch nach 1945 stellen – mit allen
Grenzen und allen Rechtfertigungen.
Ein historisches Faktum ragt aus dieser deutschen Nachkriegsgeschichte, genauer der west-, der
bundesdeutschen heraus, weil sie ein Umdenken markieren mochte. Aus heutiger Sicht ist es fast
lässlich ob des großen zeitlichen Abstandes zum 8. Mai 1945 zu mäkeln. Denn die
Bunderepublik brauchte im Unterschied zu ihrem ostdeutschen, DDR-Gegenentwurf 40 Jahre,
um in ihrer politischen Klasse zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um das Erinnern an eine
Kapitulation, an eine Niederlage, an einen Zusammenbruch ging, sondern um eine Befreiung.
Das brachte erst der konservative Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 zum Ausdruck:
"Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir
haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu
erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg." Und trotz dieser
Einschränkungen hob er hervor: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit
von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
Es war auch für die Bundesrepublik ein schwieriger Weg, sich bis hinein in konservative Eliten
diesen neuen Einsichten zu öffnen. Hatten sie sich schon schwer getan, den konservativen
Widerstand des 20. Juli 1944 für eine demokratischen, antinazistische Legitimation der eigenen
Armee und des Staates zu vereinnahmen, so brauchte es doch weiterer Jahrzehnte, um sich
mühsam ein breiteres, positives Bild des Widerstands aller politischen Kräfte einschließlich der
Kommunisten zu stellen. Das hieß auch, sich der Schuld zu stellen, die das faschistische
Deutschland und seine Terrorapparate auf sich geladen hatten.
Das betraf den langen Weg bis in die Mitte der 1960er Jahre zur Auseinandersetzung mit den
Morden in den Konzentrationslagern und hinter den Fronten durch die Einsatzgruppen, denen
insbesondere Juden unterschiedlicher Nationalität zum Opfer fielen. Der Ausschwitz-Prozess war
hier die wesentliche Zäsur. Das betraf die relativ schnelle, aber durchaus schwierige Versöhnung
in Richtung Frankreich, dann auch Israel, schließlich den neuen Blick auf den kommunistisch
beherrschten Ostblock. Hier war es vor allem der durch die katholische Kirche beider Länder
geebnete Weg, der aber einen entschiedenen Schritt seitens des polnischen Episkopats im
November 1965 erforderte. Trotz der "fast hoffnungslos mit Vergangenheit belasteten Lage ...
rufen wir Ihnen zu: Versuchen wir zu vergessen! Keine Polemik, kein weiterer kalter Krieg, aber
der Anfang eines Dialogs ... In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist
strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren
Vergebung und bitten um Vergebung." So hieß es im "Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre
deutschen Amtsbrüder". Eine vom Osten ausgehende Initiative ebnete der Weg zu verbesserten
Beziehungen, die zugleich im Interesse einer beginnenden Neuen Ostpolitik der Bundesrepublik
lag.
Für diesen schwierigen und langwierigen Umdenkprozess – zumal in den Zeiten der
Systemauseinandersetzung – waren die Wandlungen der Weltpolitik; aber ebenso die
Studentenbewegung der 1960er Jahre zweifellos wichtige Eisbrecher, auch wenn unverändert die
Widerstandsleistung politisch abgewogen wurde mit den vermeintlichen oder tatsächlichen
Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Trotzdem war bei aller zeitlichen
Verzögerung Richard von Weizsäckers Neujustieren des Geschichtsbildes bahnbrechend. Denn
es schloss auch ein, sich der Befreier und Sieger zu erinnern, die ebenso ambivalent waren wie
die Antihitlerkoalition. Dabei verzichtete auch der Bundespräsident nicht, die sowjetische
12
Entscheidung von 1939 zugunsten Hitlerdeutschlands und gegen Polen zu thematisieren, ebenso
wenig die Folgen des sowjetischen Einmarsches in Osteuropa. Trocken konzedierte er allerdings:
"Die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion. Es war
Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen
Namen verbunden."
Dieser Durchbruch in der bundesdeutschen Sicht auf den Krieg und sein Ende hing allerdings
nicht zuletzt mit einer Entwicklung zusammen, die mit einer veränderten weltpolitischen
Situation begründet war. Eine erfolgreiche bundesdeutsche Politik in Zeiten eines neuen Kalten
Krieges musste die zarten Pflänzchen einer Entspannung beachten und pflegen. Mit dem gerade
begonnenen Weg der Perestroika bot sich – unabhängig von den damals noch nicht abzusehenden
weitergehenden Veränderungen – eine solche Möglichkeit, die auch ein anderes
Geschichtsverständnis erforderte. Der bislang ungeliebte östliche Sieger wurde ob seines
Reformeifers akzeptabler.
Dies ist heute ebenso Geschichte. Dreißig Jahre sind wiederum vergangen und die bipolare Welt
von Jalta scheint erledigt. Die einstigen Prämissen der Blockspaltung, des notwendigen
Arrangements mit den Siegermächten, auch der östlichen, werden nicht mehr gebraucht. Was
interessiert noch der dank großzügiger Moskauer Politiker erfolgreiche Bittgang Kanzler Konrad
Adenauers nach Moskau 1955, der nicht nur die letzten Kriegsgefangenen und Internierten in die
Heimat zurückbrachte, sondern die Grundlage für gleichberechtigte diplomatische Beziehungen
brachte und erstmals den Bonner Alleinvertretungsanspruch untergrub. Was interessieren die
zähen, aber erfolgreichen Verhandlungen der Neuen Ostpolitik, um im Moskauer Vertrag vom
August 1970 und den dadurch möglich gewordenen Verträgen mit der DDR 1971/72 so etwas
wie Normalität im noch gespaltenen Nachkriegsdeutschland zu erreichen. Selbst das zu Lasten
der DDR ausgegangene sowjetische Plazet für die Herstellung der deutschen Einheit zählt
nunmehr wenig, ebenso wie die einstigen Versprechungen hinsichtlich einer ausgewogenen und
nicht aggressiven Politik gegenüber Russland und den anderen Nachfolgestaaten der
Sowjetunion.
Wenn Deutschland wieder einen Führungsanspruch in Europa und der Welt wahrnehmen will,
dann muss sie mit ihrer Geschichte fertigwerden. Demut ob der Verbrechen ist sicher ernst
gemeint, aber ebenso wie in Zeiten des Kalten Krieges interessengeleitet und selektiv. Die
deutsche Staaträson hinsichtlich der Anerkennung und Verteidigung des Existenzrechtes des
Staates Israel ist leichter zu bekommen als eine offenherzige und großzügige Entschädigung für
Zwangsarbeiter, Ghettobewohner, Kriegsgefangene oder auch die Begleichung von
Zwangsanleihen. Der Streit um die Entschädigung der Zwangsarbeiter – solange hintertrieben,
bis es marginale Summen für wenigen Überlebenden gab, wobei sich die deutsche Wirtshaft,
einstiger Hauptnutznießer dieser perfiden Art der Ausbeutung im Geben schwerer tat als einst im
Nehmen und Auspressen – bis hin zu den unwürdigen Streitereien um offene deutsche
Kriegs-Rechnungen in Athen lassen die Wunden immer wieder aufbrechen. Wobei anzumerken
ist, dass es weniger um das Freikaufen von Schuld als um die moralische und politische
Anerkennung dieser Schuld geht. Fiktive zinseszinsverzinste Aufrechnungen helfen da wenig
weiter. Leider hat hier auch die zeitliche Distanz ihren Tribut. Unbürokratische Hilfen in den
wenigen noch vorhandenen Einzelfällen, gemeinsame Stiftungen und Jugendbegegnungswerke
können hilfreich sein. Bedeutsamer bleibt eine konsequente geschichtspolitische Abrechnung mit
der Vergangenheit.
13
Korrektur der Geschichte
Die jüngsten Entwicklungen zeigen, wir sind heute hinter die Einsichten Richard von
Weizsäckers zurückgefallen in der Bundesrepublik. Es ist eine sukzessive Entwicklung, die etwas
mit einer wachsenden Bereitschaft zu tun hat, einen Schlussstrich unter der ungeliebten
Vergangenheit zu ziehen. Hier kann nur auf einige der zentralen Punkte verwiesen werden, in
denen eine Verwässerung der uneingeschränkt kritischen Stellung zu Hitlers Krieg und zum
Faktum seiner Niederlage erfolgt:
•
Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs wird umgedeutet. Das Versagen der
westlichen Appeasementpolitik tritt hinter die sowjetische Flucht in die Verträge von
1939 zurück, die allein am fatalen Zweckbündnis zur Abgrenzung von Interessensphären
gemessen werden. Moskaus Vorgehen gegen Polen und das Baltikum wird berechtigt
angeprangert, das Schicksal der vom Westen zuvor geopferten Spanier und
Tschechoslowaken kaum beklagt. Warum auch daran erinnern, dass Hitler zum Krieg
gegen die UdSSR ermuntert werden sollte.
•
Schon seit Jahren erfolgt unter Bezug auf die westalliierte Landung in der Normandie am
"D-Day" die Aufwertung der Westfront zur vermeintlich entscheidenden Front des
Zweiten Weltkriegs, eindeutig zu Lasten der anderen Fronten dieses Krieges, auch der
anderen Kriegsschauplätze. Vor allem geht das aber zu Lasten der Hauptfront des Krieges
– die Front gegen die Sowjetunion, an der die meisten deutschen Soldaten während des
gesamten Krieges kämpften, an der die größten Verluste zu verzeichnen waren und an der
vor allem Sowjetarmee und sowjetische Zivilbevölkerung in ihrer nationalen Vielfalt von
Russen, Ukrainern, Juden, Kasachen, Georgiern usw. einen unermesslichen Blutzoll von
wohl 27 Millionen Menschen zu zahlen hatten.
•
Betont werden die deutschen Opfer von dem versenkten Truppentransporter "Gustloff"
bis zur Bombardierung Dresdens, nicht als zwangsläufige Folgen eines von Berlin
ausgehenden verbrecherischen Krieges, sondern das subjektive Gefühl vieler Deutscher
pflegend, die doch auch gelitten und verloren haben.
•
Als eine besondere Last werden Flucht und Zwangsaussiedlung, als Vertreibung
gebrandmarkt, herausgestellt, die die Deutschen besonders betroffen hätten und sie in eine
gleiche Opferrolle brächten wie vergleichbare Opfer in allen Kriegen. Deshalb wird der
erstmals am 20. Juni 2015 zu begehende "Gedenktag für die Opfer von Flucht und
Vertreibung" faktisch zuvörderst die deutschen Opfer in den Mittelpunkt rücken - unter
weitgehendem Ausblenden der historischen Ursachen. Die Auseinandersetzungen um ein
"Zentrum gegen Vertreibung", das vor Jahren der Bund der Vertriebenen initiierte und das
heute durch die Bundesregierung in einer breiter angelegten unselbständigen "Stiftung
Flucht, Vertreibung, Versöhnung" mit gesamteuropäischer Ausrichtung umgesetzt werden
soll, ist dabei ein wesentliches geschichtspolitisches Zeichen.
•
Berechtigt wird der in Dimension und Konsequenz einzigartige Mord an den Juden
hervorgehoben. Dabei wird jedoch der Charakter des faschistischen Krieges zu einem
Vernichtungskrieg gegen die Juden umgedeutet und der Holocaust zu der zentralen
Erfahrung und dem Verbrechen dieses Krieges erklärt. Abgesehen davon, dass dies
Ursachen und Bedingungen faschistischer Kriegstreiberei ins Irrationale verfälscht, gehen
14
die konkreten imperialistischen Gelüste auf "Lebensraum" und Unterwerfung Europa wie
der Welt ebenso verloren wie die Völkervernichtungsabsichten und vor allem –praxis im
Zuge der "Neuordnung" Europa und eines "Generalplanes Ost" gegen Slawen, Sinti und
Roma, politisch Missliebige, gegen alle als "minderwertig" eingestuften Menschen.
•
Mit dem weitgehenden Ausblenden der sozialökonomischen Dimension des Weltkrieges
wie auch der meisten anderen politischen Ereignissen hat in der Auseinandersetzung mit
der Geschichte oft ein abstraktes Moralisieren jenseits dieser harten Fakten, aber auch
jenseits einer historisierenden Einordnung von Ereignissen, Handlungsweisen und
Personen Raum gegriffen. Mit Wertmaßstäben von heute wird mit Kriegspraktiken, etwa
dem Partisanenkrieg und seiner möglichen Nähe zum Terrorismus umgegangen oder mit
der Rekrutierung von Minderjährigen in diesem Krieg, um nur auf zwei Aspekte zu
verweisen. Bezeichnenderweise entsprechen diese moralisierenden, sicher ehrenwerten,
aber oft weltfremden oder diskreditierenden Herangehensweisen auch nicht den realen
Praktiken heutiger Politik und Konfliktaustragung, gerade beim Engagement der
westlichen Staaten- und Wertegemeinschaft. Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien stehen
dafür nur stellvertretend. Wenn auch seit den die Nürnberger Prozesse gegen die
Hauptkriegsverbrecher die Notwendigkeit eines durchsetzbaren Völkerrechts postulierten
bleibt dies einseitig und wie jedes Recht auch politisch beeinflusst, wenn sich ihm nicht
alle Staaten gleichermaßen unterwerfen.
All dies passt in eine Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik, die sich vermeintlich von
macht- und geopolitischen Zügen klassischer Politikgeschichte ebenso löst wie von
sozialökonomischen Fragestellungen einer Gesellschaftsgeschichte, geschweige denn einer
marxistischen Auseinandersetzung mit Geschichte. Das Vorgehen bleibt interessengeleitet,
relativiert deutscher Schuld und soll jeglichen Bezug auf die sozioökonomischen Grandlagen
eines Faschismus, der eine gefährliche Abart des Kapitalismus bleibt, vernebeln. Nicht umsonst
gehört es zum Dauerrepertoire allen Redens über die Zeit von 1933-1945, dass vom
Nationalsozialismus, nicht vom Faschismus gesprochen wird. Dabei müsste mehr Max
Horkheimers Diktum gelten, dass "wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, ... auch vom
Faschismus schweigen (sollte)". Dafür ist im Mainstream der Seitenhieb auf sozialistische Ideen
und Politik ebenso beabsichtigt wie das Verhindern, nach Gemeinsamkeiten mit anderen
diktatorischen, antidemokratischen, antilinken, nationalistischen, gelegentlich auch rassistischen
Regimen zu suchen. Lieber werden das ewig Böse des Menschen, sein Irrationalismus, seine
Emotionen beschworen. Nicht soziale Gruppen, Klassen hätten gehandelt, sondern einzelne
Personen, die mit ihrem Verhalten oder Versagen eher wie Schlafwandler, so das treffende Wort
eines Weltkriegs I-Historikers ins Verhängnis hineingeschlittert sind.
Eine Großmacht in Befreiungsmission mit sozialistischer Option?
Eine der komplizierten Fragen für linkes Erinnern an das Jahr 1945 ist die Stellung zur
Sowjetunion. Ja, ein diktatorisch verfasstes Staats- und Gesellschaftswesen unter Josef Stalin
führte diesen Krieg und drang als Befreier in das Herz Europas vor. Die Sowjetunion Stalins
handelte als sozialistische Macht, aber auch als Großmacht mit eigenen machtpolitischen
Interessen. Großmachtpolitik und revolutionärer Anspruch kollidierten nicht selten, auch zu
Lasten der jeweiligen linken Bündnispartner – sie konnten wie im griechischen Bürgerkrieg
fallen gelassen werden, wenn sie außerhalb der sowjetischen Einflusssphäre handelten. Sie
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konnten wie die deutschen Kommunisten der SED hingehalten werden, wenn es um die
Alternative eines starken, neutralen prosowjetischen Deutschlands oder um einen kleinen
prosowjetischen Rumpfstaat DDR ging.
Für Zeitgenossen und überzeugte Kommunisten war es schwierig, die neue Rolle des
sowjetischen Staates stets zu erfassen. Um zu überleben handelte dieser Staat nach klassischen
nationalen, machtpolitischen Interessen. Bündnisse ergaben sich nicht unbedingt aus
weltanschaulicher und politischer Übereinstimmung sondern aus der Einsicht, dass der Feind
meiner Feinde nun Verbündeter sein konnte. Konservative Partner waren hier durchaus
willkommen, wie die sowjetisch-deutsche Zusammenarbeit spätestens nach dem Vertrag von
Rapallo offenbarte. Wirtschaftlicher Austausch und enge militärische Zusammenarbeit
ermöglicht den Paria der Nach-Versailler-Welt einen erfolgreichen Neubeginn.
Solange hier gleichberechtigt gehandelt wurde überstand dieses Bündnis manche Bedrohungen
und Irritationen. Erst in dem Moment, da Nazideutschland seine Weltmachtansprüche erhob und
sich gegen eine widernatürliche Zusammenarbeit mit der bolschewistischen Macht wandte zerfiel
dieses Bündnis. Umso problematischer und verhängnisvoller waren der sowjetisch-deutsche
Nichtangriffspakt und die Geheimprotokolle über die Abgrenzung von Einflusssphären, die
unmittelbar mit Gewaltakten gegen Polen und mit dem Anschluss der baltischen Republiken
umgesetzt wurden. Die Atempause war gering für Moskau, die Irritation der eigenen Genossen in
der Welt groß. Erst der Überfall Hitlerdeutschlands im Juni 1941 sorgte für klare Fronten.
Die Politik des Großen Terrors der 1930er Jahre hatte zudem die Sowjetunion bei Kriegsbeginn
entscheidend geschwächt, die eindringenden deutschen Verbände konnten auf Sympathien unter
Teilen der örtlichen Bevölkerung rechnen. Allerdings hielten die nicht lange vor, denn die
deutschen Faschisten erwiesen sich als jene Mörder und Brandschatzer, die die sowjetische
Propaganda berechtigt in ihnen sah. Die nicht wenigen rekrutierten und erpressten
"Hilfswilligen" wurden zum Kanonenfutter der deutschen Seite und später zu jenem tödlichen
Strandgut des Krieges, das in Osteuropa, auch in der Sowjetunion Banden- und Bürgerkriege
praktizierte, von den sowjetischen und osteuropäischen Behörden schonungslos verfolgt wurde.
Heute erinnern sich die postkommunistischen Staaten in Osteuropa an diese Helfershelfer der
Faschisten, oft unmittelbar in der SS, die am Mord an ihren eigenen Landsleuten, Juden und
Nichtjuden, Partei- und Staatsfunktionären, Partisanen beteiligt waren. In Osteuropa wird nicht
zuletzt ausgeblendet, dass die Vorkriegsregime oft selbst nahe den faschistischen idealen errichtet
waren, selbst antidemokratisch, nationalistische, antikommunistische, gelegentlich auch
antisemitische Diktaturen waren.
Auf der anderen Seite dieser sowjetischen Politik stand die ehrliche Überzeugung, nicht nur die
faschistische Besatzung und Barbarei im eigenen Land und in den anderen von Hitlerdeutschland
besetzten Staaten zu beseitigen. Die Politik zielte auch darauf, in den nun befreiten und eroberten
Staaten jene sozialen Umbrüche in Gang zu bringen und erforderlichenfalls auch künstlich zu
beschleunigen, die kapitalistische Verhältnisse beseitigen und sozialistische Verhältnisse bringen
sollte. Dafür gab es in diesen Ländern nicht nur bei den Kommunisten und anderen Linken
Sympathien, auch wenn sich schnell herausstellte, dass die sowjetischen Helfer alsbald nur ihre
eigene, stalinistische Blaupause eines solcherart sich sozialistische gebenden Neubaus der
Gesellschaft kannten: Allmacht der kommunistischen Partei, Überzentralisierung, Verschärfung
des Klassenkampfes, strikte Unterordnung unter die sowjetischen Ziele in der
Systemauseinandersetzung. Widerstand dagegen, auch versuchte Diskussion wurde rasch
16
unterbunden je mehr der Kalte Krieg sowjetisches Handeln bestimmte.
Es war eine Befreiung von der faschistischen Unterdrückung und zugleich der Versuch, ein für
alle Mal den Nährboden zu beseitigen, aus dem Faschismus und Kapitalismus seine Kraft zog. Es
war ein Versuch, dies mit allen Mitteln zu betreiben, der neuen Widerstand erzeugte bei denen,
die Demokratie und Sozialismus wollten, aber nicht mit diesen diktatorischen Mitteln.
Linke Geschichtspolitik und die Befreiung
Linke Geschichtspolitik muss mit nüchterner Analyse und dem Benennen der sozialen Fragen
gegenhalten. Sie muss verdeutlichen, dass der 2. Weltkrieg und sein Ende die Vernichtung des
deutschen Faschismus wie des japanischen Imperialismus brachte. Dieser Sieg war mit
Besonderheiten verknüpft, die nicht zuletzt die Linke, auch und gerade ihren radikalen
kommunistischen Flügel, die Legitimation in ihrem antikapitalistischen Anspruch gab und auch
heute noch gibt. Es war ein Krieg gegen die Kriegstreiber und Völkermörder in einem
breitestmöglichen Bündnis von antifaschistischen, demokratischen Kräften über alle politischen
und sozialen Grenzen hinweg.
Kommunisten, Linkssozialisten, Sozialdemokraten, Christen, Konservative, Adlige hatten den
gleichen Feind, der sie aufs Blut bedrohte und der aufs Blut bekämpft werden musste. Der
Lernprozess der einzelnen Gruppen dauerte unterschiedlich lang. In Deutschland blieb es eine
Minderheit. Die Befreiung musste hier trotz großer Opfer des inneren Widerstandes von außen
gebracht werden. Dieser Sieg von außen war der Sieg einer Antihitlerkoalition, die eigentlich
ursprünglich verfeindete sozialistische wie kapitalistische Staaten, westliche Demokratie wie
sowjetische Diktatur gegen einen Todfeind zusammenstehen ließ.
Nicht vergessen werden darf, dass dieser Krieg weltweit, in Europa, Asien, Nordafrika tobte, dass
in ihm zuallererst Linke, nicht zuletzt Kommunisten, einen hohen Blutzoll entrichteten. Mit
ihrem Kampf und ihren Opfern erwarben sie auf Jahrzehnte im Volk, auch bei ihren sonstigen
politischen Gegnern Achtung und Respekt. Allein die alte Bundesrepublik, die faschistischen
Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland stellten sich dieser Wahrheit lange quer und
verfolgten über Jahrzehnte Kommunisten und deren Sympathisanten.
Zu den Folgen des antifaschistischen Kampfes gehört, dass in weiten Teilen Europa und Asiens
dieser Kampf und die Befreiung eine kurze Phase einer möglichen Linkswendung auch außerhalb
des sowjetischen Einflussbereichs eröffnete. Das war auch Reaktion auf den Umstand, dass die
nationalen herrschenden Klassen sehenden Auges in die Niederlage 1939/40 gelaufen waren und
nicht unerhebliche Teile von ihnen mit den deutschen Besatzern kollaborierten. Dies und die
Krisenerfahrungen der 1930er Jahre hatten viele Menschen überzeugt, dass es einen anderen,
antikapitalistischen Weg geben müsse. Auch in den sowjetisch besetzten Gebieten zwangen
keineswegs nur Moskaus Bajonette die künftige Entwicklung in Richtung sowjetischen Block.
Vielmehr versuchten Kommunisten und linke Sozialdemokraten gemeinsam mit erheblichen
Teilen ihrer Völker tatsächlich einen Neuanfang jenseits von Dogmen und Zwängen. Das gilt
auch für die Zeit unmittelbar nach der Befreiung und des beginnenden Wiederaufbaus in allen
Besatzungszonen Deutschlands. Auch hier waren lange Entscheidungen offen, abhängig vom
Kalten Krieg, vom Geschick der Linken, dem Druck der Reaktion. Die Wege Finnlands oder
Österreichs zeigten z.B., dass es keine Zwangläufigkeiten gab. Sowjetische Politik war immer
zuerst Sicherheitspolitik und der konnte man in vielfältiger Weise gerecht werden.
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Am nachdrücklichsten wurde im Buchenwalder Manifest linker Sozialisten ausgesprochen, was
ein möglicher linker in Europa und Deutschland sein konnte. Diese Sozialisten orientierten im
April 1945 auf einen "revolutionären demokratischen Sozialismus". In breiter linker Einheit
waren sie überzeugt: "Deutschland kann ökonomisch nur auf sozialistischer Grundlage
wiederaufgebaut werden." Deutschland müsse sich mit den französischen und polnischen
Nachbarn verständigen, in den "angelsächsischen Kulturkreis" eintreten, aber zugleich seine
Außenpolitik im Einvernehmen mit der Sowjetunion gestalten.
Tatsächlich gab es von unten her eine kurze Phase basisdemokratischen, auf gemeinsames
Handeln von Kommunisten und Sozialdemokraten, vieler Demokraten gerichteten Neubeginns.
Es waren Monate und wenige Jahre, die nicht allein durch Chaos, Zerstörung, Anarchie, Rache
gekennzeichnet waren, wie aktuelle Publikationen glauben machen wollen, sondern die Phase
eines zu früh und zu radikal abgebrochenen demokratischen Aufbruchs mit offener,
möglicherweise demokratisch-sozialistischer Perspektive. Alle vier Besatzungsmächte ebenso
wie die sich wieder formierenden Parteien, auch die der Arbeiterklasse, sorgten dafür, dass so
viel Spontanität schnell in geordnete Bahnen gelenkt und damit auch abgewürgt wurde.
In Deutschland war das Programm der Potsdamer Konferenz der Großen Drei, respektive Vier
ein Versprechen auf einen einheitlichen Staat auf dem Trümmern des Nazireiches. Allerdings
markierte diese Konferenz mit der Abschluss der Aufteilung der Interessen- und Machtsphären
zwischen den sich abzeichnenden Blöcken, mit der Einführung der Kernwaffen als militärischen
und vor allem politisches Gestaltungsmittel durch die USA den Umschwung zu einer
Nachkriegsphase, die alsbald in den Kalten Krieg einmündete. Sie brachte das Ende des
demokratischen Aufbruchs, den Bürgerkrieg in Griechenland, die Ausschaltung der
kommunistischen Minister in Frankreich und Italien, die Sowjetisierung der osteuropäischen
Staaten, die Spaltung Deutschlands und die Unterordnung der beiden besetzten Teile
Deutschlands unter die jeweiligen Supermächte.
Der Sieg der Staaten der Antihitlerkoalition ermöglichte zugleich Ansätze einer neuen
Weltordnung, die trotz der Einbindung in die sich abzeichnende Blockkonfrontation
jahrhundertelange
Unterdrückungsstrukturen
aufbrach.
Im
antifaschistischen
und
antiimperialistischen Kampf gegen Deutschland, Japan und Italien gewannen nationale
Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika politisches Gewicht und den Drang, sich jeglicher
Unterdrückung zu entledigen. Das betraf nicht nur die Achsenmächte sondern auch die
Unterwerfung seitens der vermeintlich so freien westlichen Demokratien, die als Kolonial- und
Hegemonialmächte wenig zivilisierten, aber umso mehr ausbeuteten.
Nationale Bewegungen hatten ebenso wie die massenhaft rekrutierten Soldaten aus diesen
Ländern erfahren, was Befreiungskampf sein konnte und wollten dies nun einlösen. Das dauerte
zwar nach einer ersten Unabhängigkeitswelle unmittelbar nach dem Krieg noch zwei Jahrzehnte.
Aber auch dank der Präsenz eines von Moskau geführten realsozialistischen Blocks konnten
diese Kräfte ihren Ausbruch aus dem bisherigen Kolonialstatus erzwingen und sich zunehmend
zu einem zwar umworbenen, auch in die Ränke der beiden Blöcke hineingezogenen, aber doch
eigenständigen weltpolitischen Faktor entwickeln.
Die weitere Geschichte muss sich messen lassen an der Erfahrung mit dem Faschismus in all
seinen Spielarten und seiner Niederwerfung. Es zeigt sich, dass antidemokratische,
nationalistische, rassistische aggressive Kräfte gestoppt werden können von einer breiten
politischen Front unterschiedlichster Kräfte, ja von einem Staatenbund wie die
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Antihitlerkoalition. Es zeigte sich, dass Menschen bereit sein können, für ihre Freiheit zu
kämpfen und dass Linke hier eine herausragende Rolle spielen vermögen. Die entscheidende
Schlussfolgerung müsste sein, wie Gesellschaften zu organisieren sind, die mit dem
faschistischen Gedankengut radikal brechen. Hier gewann nicht zuletzt die DDR ihre
Legitimation als antifaschistischer Staat. Trotz vieler Kontinuitäten gerade in den Eliten und die
strikte antikommunistische und antisowjetische Ausrichtung ließ auch die westdeutsche
Gesellschaft und ihren Staat so demokratisch sich entwickeln, dass eine Wiederkehr des
Nazitums als gesellschaftlich bestimmende Kraft verhindert werden konnte.
Das Wiedererstarken imperialistischer Politik und das Neusetzen zwischenimperialistischer
Widersprüche im Ringen um möglichst hegemoniale Vorherrschaft machen die Lehren dieses
Krieges und des Sieges hochaktuell. Solchen Vorherrschaftsbestrebungen muss Einhalt geboten
werden. Die Erfahrungen eines zwar nicht immer leichten Gegen-, aber zunehmend
Miteinanderlebens von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung in Zeiten des Kalten
Krieges verdienen bewahrt werden. Selbstbescheidung, politischer Widerstand und nicht zuletzt
Massenbewegungen halfen, die Kriegsgefahr einzudämmen.
Ebenso besorgniserregend ist das Erstarken von nationalistischen, chauvinistischen und
rassistischen, religiös-fundamentalistischer Ideologien und Bewegungen als Krisenreaktion
unterschiedlichster Kräfte. Das Ausgrenzen und Bedrohen andersdenkender, anderslebender,
andersgläubiger, verachteter Bevölkerungsgruppen im Inneren und von außen in Gesellschaften
hineinströmend begünstigen faschistoide Bewegungen. Als partielle Staatsideologien
massenmedial verbreitet sind sie an die Stelle des Antikommunismus getreten und rechtfertigen
eine aggressive Politik, die mit allen, auch militärischen Mittel "westliche Werte" allen Völkern
aufzwingen will. Bedrohlich ist der Verfall jener antifaschistischen Einsichten und
demokratischen wie toleranten Ansätze, die in den Nachkriegsjahrzehnten in Ost wie West sich
mühsam durchsetzten. Der antifaschistische Grundkonsens wird in einem vermeintlichen
Antitotalitarismus aufgeweicht, der genau die Kräfte diskreditiert, die bei allen Schwächen,
Irrtümern und auch zu verantwortenden Verbrechen Widerstand geleistet hatten und schließlich
siegten.
Die heutigen Streite um das Erinnern an den Krieg und die Befreiung, insbesondere an den 8.
Mai 1945 und damit an die entscheidende Rolle der Sowjetunion und ihrer Roten Armee
bestimmt den Umgang mit der Geschichte, aber auch mit dem heutigen russischen Staat.
Natürlich hat Egon Bahr Recht, wenn er betont: " Den 70. Jahrestag des Kriegsendes wird am 9.
Mai die Welt in Moskau begehen. Wer die Seele Russlands erreichen will, wird dabei nicht
fehlen dürfen."
Es geht um die praktische Erinnerung an die Befreiung an die Befreier. Veranstaltungen,
offizielle Kranzniederlegungen oder die von Götz Aly empfohlene individuelle Erinnerung am
sowjetischen Ehrenmal in Berliner Tiergarten können ebenso dazu beitragen wie die Forderungen
der Partei Die Linke nach einem Erinnerungstag zur Befreiung, die Rückbenenneng der Straße
der Befreiung in Berlin oder die Forderung nach Entschädigung für sowjetische Kriegsgefangene.
Entscheidender wird das Handeln gegen jede neue Aggressionspolitik, gegen jeden neuen
Versuch oder genauer die Praxis einer Weltbeherrschung durch eine Macht und ihren Block sein
müssen, wie dies die USA und deren europäische Verbündete einschließlich der Bundesrepublik
praktizieren. Sie stoßen heute auf Widerstand von anderen Saaten, nicht zuletzt Russlands und
Chinas, aber auch von anderen mittleren Mächten, die ihre eigenen imperialistischen Interessen
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verfolge, aber vor allem die Vorherrschaft der einen Supermacht verhindern wollen. Auch Linke
werden sich in diesem Streit positionieren müssen.
Nicht zuletzt: Die entscheidende, wenn auch nicht alleinigen Rolle der Sowjetunion als Sieger
und als Befreier 1945 zu betonen liegt im Interesse jener Linken, die sich als – wenn auch
kritische und selbstkritische - Nachfolger jener radikalen Linken, jener Kommunisten und
Antifaschisten verstehen, die als Teil der Antihitlerkoalition und als Verbündete der Sowjetunion
im Kampf um die Befreiung und einer sozialistische Zukunft standen.
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Anlage 3
STANDPUNKTE 08 / 2015
ROSA LUXEMBURG STIFTUNG
JAN KORTE
DIE VERGESSENEN OPFER:
SOWJETISCHE KRIEGSGEFANGENE
HÖCHSTE ZEIT FÜR IHRE ANERKENNUNG UND ENTSCHÄDIGUNG
Im 70. Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es unzählige Publikationen und Veranstaltungen zum Gedenken
an die Millionen Toten, die der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg gekostet hat. Wie in den Jahrzehnten zuvor
spielt aber eine besonders große Opfergruppe dabei bislang kaum eine Rolle: die Opfer der Sowjetunion im
Allgemeinen und die ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen im Speziellen. Das ist kein Zufall, sondern hat
geschichtspolitische Gründe, vor allem den über Jahrzehnte staatlich sanktionierten und gesellschaftlich
mehrheitsfähigen Antikommunismus sowie die langlebige Legende von der sauberen Wehrmacht. Es ist höchste Zeit,
die Opfer der sowjetischen Kriegsgefangenen anzuerkennen und ihre letzten Überlebenden zu entschädigen.
Im Zweiten Weltkrieg starben rund 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion. Ungefähr 5,7 Millionen
Angehörige der Roten Armee gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, von denen etwa 3,3 Millionen an Hunger,
Kälte, Krankheiten, Zwangsarbeit zugrunde gingen oder durch massenhafte Erschießungen getötet wurden.1 Die
Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen spielte und spielt trotzdem im offiziellen Gedenken der
Bundesrepublik (wie zuvor schon in DDR und BRD) eine völlig untergeordnete Rolle. Immerhin befasst sich aktuell
der Bundestag mit diesem Thema. Sowohl die Fraktion der Partei DIE LINKE. im Deutschen Bundestag als auch die
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben Anträge eingebracht, die eine finanzielle Entschädigung
und eine politische Anerkennung der Opfer verlangen.2
Zunächst stellt sich die Frage, warum diese Debatte erst jetzt, sieben Jahrzehnte nach Ende des Krieges, dort
begonnen wird. Zwar gab es viele engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und etliche Initiativen, die
dieses Thema immer wieder angesprochen haben, doch fand das Gedenken an diese «vergessene Opfergruppe» bis
dato keinen Weg in die offizielle Politik (von einzelnen parlamentarischen Initiativen abgesehen). Zu verstehen ist
dieses bewusste «Vergessen» nur durch Betrachten der Zeitläufte und der geschichtspolitischen
Auseinandersetzungen der letzten 70 Jahre.
SCHULDABWEHR UND TÄTERPERSPEKTIVE
Blickt man auf die 1950er Jahre zurück, so kann man erahnen, auf welch organisierten Widerstand das Gedenken an
die Opfer stieß. Das Gedenken an und die Würdigung des Widerstandes des 20. Juli 1944 beispielsweise hat erst der
spätere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im sogenannten Remer-Prozess3 entscheidend vorangebracht.
Die bis dahin allgemein in Staat, Gesellschaft und Eliten vertretene Auffassung, Stauffenberg sei ein Hochverräter,
aber bestimmt kein zu ehrender Widerständler gewesen, erschütterte Bauer durch den – brillant hergeleiteten –
Nachweis, dass es ein Recht und eine Pflicht auf Widerstand gegen die
«Diktatur der Menschenverachtung» (Alexander und Margarete Mitscherlich) gegeben hat. Er brachte es auf die
Formel: «Unrecht kennt keinen Verrat!»4 Das ist ein Beispiel dafür, dass jeder Fortschritt, jedes Gedenken, jede
offizielle Würdigung von Widerstand und Opfern von engagierten Einzelpersonen mühsam erkämpft werden musste.
Von selbst geschah gar nichts.
In einer Gesellschaft, in der die «Unfähigkeit zu trauern»5 und die Abwehr von Schuld und Reflexion dominierten, gab
es für die Opfer keinen Platz. Das noch an den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher relativ große
Interesse ebbte danach merklich ab.6 Dazu trug auch die Schuldabwehr von Leuten wie Albert Speer bei, der wegen
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden war, und die dankend in der
Gesellschaft aufgenommen wurde. Die Schuld wurde zunehmend auf drei Haupttäter reduziert – Hitler, Himmler und
Göring (allesamt tot) –, ansonsten war man verführt worden, hatte vom Judenmord nichts mitbekommen und
eigentlich nur seine Arbeit erledigt. Eine weitere Figur der Schuldabwehr war die Stilisierung
21
der Deutschen zu den eigentlichen Opfern. Erst Opfer von Hitler, dann Opfer des Krieges und des Bombenkrieges
und schließlich Opfer der Entnazifizierung. Und last but not least wollte man nichts von einer angeblichen
Kollektivschuld wissen, die allerdings auch niemand behauptet hatte.
In diesem Kontext spielte selbst das Gedenken an die sechs Millionen Opfer der Shoah kaum eine Rolle. Erst
das bahnbrechende Werk von Raul Hilberg über die «Vernichtung der europäischen Juden» (1961),7 der (wiederum
von Fritz Bauer initiierte) Frankfurter Auschwitzprozess (ab 1963), unzählige lokale Gedenkprojekte und schließlich
die US-amerikanische TV-Serie «Holocaust» (1978) brachten das Gedenken und die kritische Auseinandersetzung
mit dem industriell betriebenen Massenmord, dem Zivilisationsbruch Auschwitz, in die gesellschaftliche und staatliche
Gedenkpolitik. Und nicht zu vergessen die große und wichtige Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker
am 8. Mai 1985, in der das erste Mal von staatsoffizieller Seite der 8. Mai als Tag der Befreiung bezeichnet wurde und
ein westdeutsches Staatsoberhaupt dem «Widerstand in der
Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, dem Widerstandes der Kommunisten» gedachte und Anerkennung zollte,
wenngleich Weizsäcker damit endlich auch «nur» eine nicht länger haltbare Sicht revidierte.
Noch viel später wurde auch der Widerstand des kleinen Mannes und des einfachen Soldaten gewürdigt – im Jahr
2002 wurden die Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert. Bis dahin galten sie als vorbestraft und de facto zu Recht
verurteilt. Das Wesen der mörderischen NS-Wehrmachtsjustiz wurde jahrzehntelang als legitim und rechtens
betrachtet, ihr Unrechtscharakter negiert. Damit reproduzierte man den Blick der Täter und schloss die Perspektive
der Opfer aus. Das Credo Hans Filbingers – im Krieg Marinerichter und von 1966 bis 1978 baden-württembergischer
Ministerpräsident – «Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein» dominierte über Jahrzehnte das
juristische, politische und gesellschaftliche Denken und Handeln.8 Daran änderte auch nichts, dass dieses Denken
durch Menschen wie Fritz Bauer, Beate und Serge Klarsfeld, Martin Niemöller oder Eugen Kogon infrage gestellt
wurde; selbst die 68er-Bewegung blieb in dieser Hinsicht eine Minderheit.9
Und erst im Jahr 2009 wurden die sogenannten Kriegsverräter rehabilitiert. Diese zu Tausenden zum Tode
verurteilten, meist einfachen Wehrmachtssoldaten hatten Juden geholfen, Kriegsgefangenen ein Stück Brot
zugesteckt oder sich kritisch zu Verbrechen und dem Kriegsverlauf geäußert – und waren dem «gesetzlichen
Unrecht» (Gustav Radbruch) der NS-Militärjustiz zum Opfer gefallen. Auch über diese Rehabilitierung
musste drei Jahre im Bundestag debattiert werden. Nur aufgrund der Unterstützung von wichtigen Medien wie
Spiegel, ARD und Süddeutsche Zeitung schwenkten SPD und schließlich auch CDU ein und kennzeichneten die
Kriegsverratsbestimmungen als das, was sie waren: mörderisches Unrecht.10 Diese Beispiele, deren Liste sich noch
erheblich verlängern ließe, zeigen, dass jeder Fortschritt im Gedenken und im Aufarbeiten von enormen
Widerständen in der Gesellschaft begleitet war. Und sie lassen erahnen, warum gerade die sowjetischen Gefangenen
bis heute im Gedenken nicht den Stellenwert haben, der anderen Opfern inzwischen eingeräumt
wird.
VERNICHTUNGSKRIEG GEGEN «JÜDISCHEN BOLSCHEWISMUS»
Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde als Angriffs- und Vernichtungskrieg konzipiert und geführt, der alle bis dato
geltenden Rechts- und vor allem Zivilisationsregeln suspendierte. Schon vor Beginn des Angriffes wurde in Befehlen
und Weisungen klargemacht, dass jedwede Brutalität erlaubt und notwendig sei. Das thematisierte auch Jan Philipp
Reemtsma 1995 bei der Eröffnung der «Wehrmachtsausstellung» in München: «Der Krieg der deutschen Wehrmacht
im – pauschal gesprochen – ‹Osten› ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte
der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil – die Juden – ausgerottet,
der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Kriege nicht
Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht dieses Krieges selbst. Der Terminus
‹Kriegsverbrechen› ist aus einer Ordnung entliehen, die von Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als dieser
Krieg begann.»11
Der Vernichtungskrieg wurde aktiv und mit ideologischer Überzeugung von der Wehrmacht umgesetzt. Dabei gingen
der in der Wehrmacht verbreitete übersteigerte Nationalismus, Antislawismus, Antisemitismus und besonders der
Antikommunismus eine Verbindung ein, die alle Empathie und humane Selbstbeschränkung gegenüber dem Feind
aufhob.12
Mit Unterstützung der Wehrmacht wüteten hinter der Front die Einsatzgruppen, die rund 2,5 Millionen Frauen,
Kinder und Männer ermordeten. Damit bildete der Krieg gegen die Sowjetunion auch den Eintritt in die systematische,
verwaltungsbürokratisch flankierte und arbeitsteilig organisierte Ermordung der Jüdinnen und Juden. Dass die
Wehrmacht genauestens über das Wüten der SS-, Polizei- und SD-Einheiten informiert war, ist belegt. «Die
Einsatzgruppe B, die mit der Heeresgruppe Mitte nach Osten vorgerückt war, hatte bis Mitte August 1941 17 000
Juden ermordet. Die Wehrmachtseinheiten waren, wie die erhaltenen Kriegstagebücher belegen, über diese Aktion
genau im Bild und beteiligten sich vielerorts an den Massakern.»13 Der Krieg gegen
Sowjetunion war ein entgrenzter Vernichtungskrieg, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hatte.
22
DIE SOWJETISCHEN OPFER
Die Sowjetunion hat den höchsten Blutzoll während des Zweiten Weltkrieges entrichtet: 27 Millionen Tote, davon
14 Millionen Zivilisten. Fast jede Familie in der UdSSR hatte Opfer zu beklagen.14 In besonderer Art und Weise waren
die sowjetischen Kriegsgefangenen betroffen, die die ersten Opfer der Vergasungen in Auschwitz waren.
Die Schätzungen über die Anzahl der Kriegsgefangenen gehen auseinander. Man kann aber davon ausgehen, dass
rund 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee in deutsche Gefangenschaft gerieten. Davon sind rund 3,3 Millionen
umgekommen. 15 Den sowjetischen Gefangenen wurden alle Rechte, wie sie etwa in der Genfer Konvention
festgeschrieben waren, verwehrt. Tausende wurden erschossen, die meisten starben durch Hunger, Kälte, Seuchen
und Krankheiten. Die ersten Lager befanden sich entlang der Grenze zur UdSSR. Später wurden immer mehr
Gefangene nach Deutschland deportiert. Die Zustände in den Lagern waren dort nicht viel besser. «Die Gefangenen
gruben sich Erdhöhlen, um dort Schutz vor Kälte und Regen zu finden, und aßen Gras und Baumrinde, um ihren
Hunger zu stillen.»16
Die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören damit zu den größten Opfergruppen des Vernichtungskrieges. Die
Sterblichkeitsrate lag bei rund 60 Prozent. Zum Vergleich: Bei westlichen Kriegsgefangenen lag die Todesrate bei 3,5
Prozent. An diesem Zahlenverhältnis wird deutlich, welche verbrecherische und dehumanisierte Ideologie und
Kriegsführung beim Angriff auf die UdSSR dominierte.
WARUM DIE SOWJETISCHEN KRIEGSGEFANGENEN «VERGESSEN» WURDEN
Gedenken, Entschädigung und Rehabilitierung von NS-Opfern mussten, wie gezeigt, stets gesellschaftlich erkämpft
werden. Dass dies hinsichtlich der sowjetischen Kriegsgefangenen immer noch nicht gelungen ist, liegt auch an
einigen bis heute wirkmächtigen Komponenten einer reaktionären Geschichtspolitik.
Erstens: Der quasi zur Staatsreligion erhobene Antikommunismus prägte die Vergangenheitspolitik der
Bundesrepublik. 17 Der Antikommunismus legitimierte die massenhafte Rückkehr der alten Eliten aus Staat, Wirtschaft,
Justiz und Militär, sprach die Wehrmacht de facto von jeder Schuld und Verantwortung frei und erlaubte der
Gesellschaft, sich nicht mit der eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus auseinandersetzen zu müssen. In
einem Klima, in dem der Kommunismus/Sozialismus für schlimmer als der Nationalsozialismus
angesehen wurde, konnte der Krieg gegen die Sowjetunion noch nachträglich fast als ein legitimer Krieg erscheinen.
«Der kalte Krieg und die Staatsdoktrin des Antikommunismus taten ein Übriges, den Verbrechen der
Wehrmacht in Polen, in der Sowjetunion und in Jugoslawien im Nachhinein sogar den Anschein von Berechtigung zu
verleihen.»18 Vor diesem Hintergrund spielten die Opfer des NS-Terrors insgesamt kaum eine Rolle, erst recht nicht
das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, das überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Zweitens: Einen wirklichen Durchbruch brachte erst die Wehrmachtsausstellung 1995. Mit ihr wurde erstmals
öffentlichkeitswirksam an die Verbrechen und die tragende Rolle der Wehrmacht innerhalb des NS-Regimes erinnert
und wurde der verbrecherische Charakter des Krieges gegen die Sowjetunion, gegen Polen und gegen Jugoslawien
für breitere Teile der Bevölkerung deutlich. Bis dahin hatte die Lüge von der irgendwie sauber gebliebenen
Wehrmacht den geschichtspolitischen Diskurs beherrscht, der eben von jenen geprägt worden war, die willfährige und
überzeugte Anhänger Hitlers gewesen waren. Ähnlich wie die «feinen Herren» im Auswärtigen Amt versicherten auch
die Führungsfiguren der Wehrmacht, sie und ihre untergebenen Offiziere und Soldaten hätten nur ihre Arbeit und
Pflicht getan; mit den Verbrechen des Nationalsozialismus hätten sie gar nichts zu schaffen gehabt. Die Schuldigen
waren für sie – analog zu der Haupttäterthese (Hitler, Himmler, Göring) – die
SS und die Einsatzgruppen. Diesen Eindruck vermittelten auch die Memoiren der Offiziere und unzählige
Landserhefte, die vieles waren, nur nicht reflexiv und kritisch. Was blieb, war das Bild des heroischen Kampfes, auch
und gerade gegen die Sowjetunion.
Drittens: Dass es so wenig Aufmerksamkeit für das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gab, hat auch
etwas mit dem Umgang der Sowjetunion selbst mit diesem Thema zu tun. Unter Stalin galten die
Kriegsgefangenen als Verräter und waren teilweise nach ihrer Rückkehr weiteren Repressalien ausgesetzt. Sie
kamen in dem offiziellen Gedenken an die Kriegsopfer nicht vor, wurden also auch auf sowjetischer Seite
«vergessen». Erst 1995 wurde diese Gruppe endgültig und offiziell rehabilitiert.
Zusammenfassend und viertens: Die gegenwärtige Debatte, die die Oppositionsfraktionen im Bundestag angestoßen
haben, wird durch die Perspektive der Totalitarismustheorie und wegen aktueller außenpolitischer
Auseinandersetzungen mit Russland behindert. Namentlich die Unionsfraktion mauert in bemerkenswerter Weise.
Zwar erkannte Erika Steinbach als Rednerin der Union das opferreiche Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen
an, hob aber in ihrer Rede völlig unverhältnismäßig die Behandlung der überlebenden sowjetischen
Kriegsgefangenen in der Sowjetunion hervor. Diese und nicht die Nachfolger der Täter hätten eine Entschädigung zu
zahlen: «Was aber bis heute überfällig ist, ist eine Entschädigung der ehemaligen Kriegsgefangenen der Sowjetunion
durch das eigene Land selber. Sie wurden stigmatisiert, sie wurden entrechtet, sie wurden umgebracht, in Lager
23
verschleppt. Russland hätte, anstatt die Ukraine zu überfallen, lieber seine noch lebenden ehemaligen
Kriegsgefangenen entschädigen sollen. Das wäre eine humane Geste gewesen, meine Damen und Herren.»19
An der Position Steinbachs kann man all die Widerstände erahnen, die es noch heute gegen ein angemessenes
Gedenken an die sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg gibt. Theoretisch ist dafür im Parlament eine
Mehrheit vorhanden, da die Fraktionen von SPD, LINKE und Grünen dieses Anliegen teilen. Doch scheint es – wie
bei der Rehabilitierung der angeblichen «Kriegsverräter» – nötig, Bündnispartner auch jenseits des Parlamentes zu
gewinnen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen: in der Wissenschaft, in den Opferverbänden, in den kritischen
Medien.
Die «vergessenen» Opfer, die noch rund 2.000 lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, verdienen
endlich Anerkennung für ihr Leiden und eine Entschädigung. Ihnen läuft die Zeit davon. Deutschlands Politik sollte
sich beeilen.
Jan Korte, Jahrgang 1977, Politikwissenschaftler M. A., seit 2005 Mitglied des Bundestages, stellvertretender Vorsitzender der
Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
1 Vgl. Otto, Reinhard/Keller, Rolf/Nagel, Jens: Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945: Zahlen und Dimensionen, in: Vierteljahrshefte für
Zeitgeschichte, Jg. 56 (2008), S. 557–602; Boebel, Chaja/Heidenreich, Frank/Wentzel, Lothar (Hrsg.): Vernichtungskrieg im Osten und die sowjetischen Kriegsgefangenen.
Verbrechen, Verleugnung, Erinnerung, Hamburg 2009. 2 Vgl. Antrag der Fraktion DIE LINKE «Finanzielle Anerkennung von NS-Unrecht für sowjetische Kriegsgefangene»,
Bundestagsdrucksache 18/3316. Fast gleichlautend, lediglich in der Höhe der Entschädigung abweichend, der Antrag der Grünen; vgl. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen «Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches
Unrecht und Gewährung eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe», Bundestagsdrucksache 18/2694. Diesen Antrag brachten Bündnis
90/Die Grünen wortgleich bereits in der letzten Wahlperiode am 4. Juni 2013 gemeinsam mit der SPD ins Parlament ein (Bundestagsdrucksache 17/13710). 3 Der
Remer-Prozess fand im März 1952 vor der Dritten Großen Strafkammer des Braunschweiger Landgerichts gegen den ehemaligen Generalmajor der Wehrmacht und späteren
Mitbegründer der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei Otto Ernst Remer wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener statt und endete mit
der posthumen Rehabilitation der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. 4 Vgl. hierzu zuletzt Steinke, Ronen: Fritz Bauer: oder Auschwitz vor Gericht, München 2013; noch
umfassender über Leben und Wirken Bauers: Wojak, Irmtrud: Fritz Bauer 1903–1968, München 2009. 5 So der Titel der 1967 erschienenen exzellenten Studie von Alexander
und Margarete Mitscherlich. 6 Zum Gesamtkomplex des Umgangs mit der NS-Vergangenheit vgl. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik.
Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999; polemischer, aber genauso treffend: Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder von der Last,
Deutscher zu sein, Berlin 1990; einen sehr guten Überblick bietet Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in
Politik und Justiz, München 2007; zur Frage des Denkens und der Rückkehr der alten Eliten in den Justizapparat vgl. Perels, Joachim: Das juristische Erbe des «Dritten
Reiches». Beschädigungen der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt a. M./New York 1999. 7 Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., 9. Aufl.,
Frankfurt a. M. 1999. 8 Zu Filbinger und den Verbrechen der Wehrmachtsjustiz insgesamt vgl. Kalmbach, Peter: Wehrmachtjustiz, Berlin 2012. 9 Vgl. hierzu z. B. Perels,
Joachim: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004. 10 Zur Debatte um die Rehabilitierung der «Kriegsverräter» vgl.
Korte, Jan/Heilig, Dominic: Kriegsverrat. Vergangenheitspolitik in Deutschland. Analysen, Kommentare und Dokumente einer Debatte, Berlin
2011. 11 Bilanz einer Ausstellung. Dokumentation der Kontroverse um die Ausstellung «Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944», hrsg. von der
Landeshauptstadt München, München 1998, S. 34. 12 Vgl. hierzu insgesamt Wette, Wolfram: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg und Legenden, Frankfurt a. M.
2002. 13 Heer, Hannes/Naumann, Klaus: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 61. 14 Vgl. Quinkert, Babette/Morré, Jörg (Hrsg.):
Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944, Paderborn 2014. 15 Vgl. Boebel/Heidenreich/Wentzel: Vernichtungskrieg, S. 7. Über die genaue Zahl der von der
Wehrmacht gefangen genommenen Rotarmisten besteht in der Forschung keine Einigkeit. Seriös begründete Zahlen schwanken zwischen 5,7 Millionen (Christian Streit) und
4,5 Millionen (G. F. Krivosheev), vgl. hierzu Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978 sowie
Krivosheev, Grigoriy F. (Hrsg.): Soviet Casualties and Combat Losses in the Twentieth Century, London 1997. Streit kommt auf die Zahl von 3,3 Millionen Toten, bei Krivosheev
beträgt sie 2,5 Millionen. Die Differenz wird dadurch erklärlich, dass die Wehrmacht alle Männer im wehrfähigen Alter im Operationsgebiet und
auch Zivilisten in Uniform und Krankenhauspersonal als Kriegsgefangene registrierte, worauf sich Streit bezieht. Er geht also bei seinen Zahlenangaben, die inzwischen auch
von Otto et al. (Otto, Reinhard/Keller, Rolf/Nagel, Jens: Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945: Zahlen und Dimensionen, in: Vierteljahrshefte für
Zeitgeschichte, Jg. 56 (2008), S. 557–602) bestätigt wurden, von der Gesamtzahl der in deutschen Wehrmachtslagern gefangen gehaltenen Personen aus. Demgegenüber zählt
die russische Forschung nur diejenigen, die dort tatsächlich Angehörige der Roten Armee waren. Entsprechend ändert sich damit auch die Zahl der Toten (58 bzw. 55 % Tote in
deutschem Gewahrsam). 16 Jeske, Natalja: Lager in Neubrandenburg-Fünfeichen 1939–1948. Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht, Repatriierungslager, Sowjetisches
Speziallager, Schwerin 2013, S. 23. 17 Vgl. Korte, Jan: Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009. 18 Heer, Hannes: Der Vernichtungskrieg gegen
die Sowjetunion. Massenmord nach Plan, in: Boebel/Heidenreich/Wentzel (Hrsg.): Vernichtungskrieg, S. 55. 19 Rede Erika
Steinbach, Bundestagsplenarprotokoll, 18. Wahlperiode, 5.2.2015, S. 8113.
24
Anlage 4
23. April 2010
Den 8. Mai 1945 als Befreiung begreifen
Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission beim Parteivorstand
der LINKEN zum 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus
In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 unterzeichneten in Berlin-Karlshorst Vertreter des
Oberkommandos der deutschen Wehrmacht sowie die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und
Marine vor den Vertretern der Streitkräfte der AntiHitlerKoalition die offizielle Urkunde über die
bedingungslose Kapitulation. Zuvor war bereits am 7. Mai in Reims die Kapitulation erklärt und
unterzeichnet worden. Der Versuch, die Alliierten auseinander zu dividieren und eine separate
Vereinbarung nur mit dem Hauptquartier der vereinten amerikanischen, britischen, kanadischen und
französischen Streitkräfte auszuhandeln, scheiterte aber. Auch die sowjetische Seite hatte sich bei
der Einnahme Berlins einseitigen Abmachungen verweigert. Gemeinsam hatten die Armeen und
Verbände der Alliierten den Aggressor auf seinem eigenen Boden niedergerungen.
Gemeinsam nahmen sie auch die bedingungslose Kapitulation entgegen. Die Völker Europas konnten
aufatmen. Für sie war ein Krieg zu Ende, dessen Ausmaße, Zerstörungen und Opfer alles bis dahin
Gekannte übertraf. In das kollektive Bewusstsein gingen diese Tage deshalb nicht allein als das Ende
des Krieges, sondern vor allem als Tage des Sieges und der Befreiung ein.
Der Sieg über den deutschen Faschismus und die Befreiung Europas bleibt eine Leistung aller
Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition. Nur in einer gemeinsamen Anstrengung konnte die
menschliche Zivilisation vor einem Terrorregime gerettet werden, das vor keinem Verbrechen
zurückschreckte. Die Bedrohung führte Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und
Menschen unterschiedlichster Weltanschauung und politischer Orientierung zusammen. Die
Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschland trug die Sowjetunion. Die langerwartete zweite Front im
Westen verkürzte die Endphase des Krieges erheblich.
Das "Volk der Dichter und Denker" hatte sich selbst als "Volk der Mörder und Henker" diskreditiert.
"Nie wieder Faschismus und Krieg", lautete deshalb die Botschaft, die sich 1945 aus bitterer
Erfahrung ergab und die auch in Deutschland Widerhall fand. Das schloss die Frage nach
Verantwortung und Schuld ein.
Während für die Frauen und Männer, die aus Zuchthäusern, Konzentrationslagern und aus der
Emigration zurückkehrten, der Mai 1945 als Befreiung und Chance nie in Frage stand, sprachen
traditionelle Eliten von Zusammenbruch. Bis heute halten die Versuche an, die Bedeutung dieser Tage
unter Verweis auf deutsche Opfer zu relativieren. Gewiss zählen auch viele Deutsche – wenn auch
nicht generell ohne Schuld – zu den Opfern des Regimes und des Krieges, dem sie zuvor zugejubelt
hatten. Doch gilt für alle Überlebenden: Sie waren befreit von den Schrecken des Krieges. Sie waren
befreit von der Rolle, die sie als Gefolgschaft eines mörderischen Regimes gespielt hatten. Sie waren
befreit von der Möglichkeit einer schandbaren Perspektive als Sklavenhalter Europas.
Die Aufforderung, den 8. Mai 1945 ungeachtet widersprüchlicher Erfahrungen auch als Tag der
Befreiung zu begreifen und 1945 nicht von 1933 zu trennen, die Richard von Weizsäcker vor 25
25
Jahren als Bundespräsident an die Gesellschaft der Bundesrepublik richtete, bleibt ein Maßstab für
die demokratische Erinnerungskultur.
Die vorliegende Erklärung wurde von Jürgen Hofmann erarbeitet und vom Sprecherrat am 23. April
2010 verabschiedet.
Quelle: http://www.dielinke. de/partei/weiterestrukturen/berufenegremien/historischekommission/
erklaerungenundstellungnahmen/den8mai1945alsbefreiungbegreifen/
26
Anlage 5
05. APRIL 2005
8. Mai 1945
Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS zum 60. Jahrestag der Befreiung
vom Faschismus
Als in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst Vertreter des Oberkommandos der
deutschen Wehrmacht vor den Vertretern der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition die offizielle Urkunde
über die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatten, atmeten die Völker Europas auf. Für sie war
ein Krieg zu Ende, dessen Ausmaße, Zerstörungen und Opfer alles bis dahin Gekannte übertraf. Mit dem
Großdeutschen Reich war ein verbrecherisches System niedergerungen, dessen Weltherrschaftspläne und
Herrschaftspraxis sowie Rassenwahn die menschliche Zivilisation generell in Frage gestellt hatten. In das
kollektive Bewusstsein der Völker Europas gingen diese Tage deshalb nicht allein als das Ende des
Krieges, sondern vor allem als Tage des Sieges und der Befreiung ein. Der Sieg der Alliierten beendete
den Zweiten Weltkrieg in Europa. Während hier die Waffen schwiegen, hielten die verlustreichen Kämpfe
zwischen Japan und den USA sowie deren Verbündeten im asiatisch-pazifischen Raum an. Der auf Wunsch
der USA erfolgte Eintritt der Sowjetunion in die Kampfhandlungen veränderte die Situation. Mit drei
Fronten zwang diese in wenigen Tagen die Kwangtung-Armee auf dem chinesischen Festland zur Aufgabe.
Mit der bedingungslosen Kapitulation Japans am 2. September 1945 wurde das Ende des Weltkrieges
besiegelt.
Die Bilanz des Zweiten Weltkrieges bleibt auch nach sechzig Jahren eine Bilanz des Schreckens, die das
menschliche Vorstellungsvermögen überfordert. Nach neueren Berechnungen starben mehr als 60
Millionen Menschen bei Kampfhandlungen, durch Repressalien, Massenvernichtungsaktionen und
Kriegseinwirkungen. Von den 18 Millionen Menschen, die das NS-Regime in Konzentrationslager
verbrachte, wurden elf Millionen ermordet oder durch Arbeit vernichtet. Unfassbar der industrielle
Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden, die wie auch Sinti und Roma dem Rassengenozid
zum Opfer fielen. In Deutschland mussten fast acht Millionen und in Japan über zwei Millionen Menschen
aus den eroberten Ländern Zwangsarbeit leisten. Mit über 27 Millionen Menschen hatte die Sowjetunion
die mit Abstand größten Verluste zu beklagen. China zahlte mit 15 Millionen, Polen mit sechs Millionen,
Jugoslawien mit 1,7 Millionen, Frankreich mit etwa 800.000, die USA und Großbritannien mit jeweils
400.000 und Italien mit 300.000 Toten ebenfalls einen hohen Blutzoll. Das "Dritte Reich" verheizte für
größenwahnsinnige Weltherrschaftspläne allein an den Fronten über sechs Millionen deutscher
Staatsbürger. Die unermesslichen materiellen Schäden, die Zerstörungen der Natur und deren
Langzeitfolgen entziehen sich exakten Berechnungen.
Seit Monaten werden die Landung in der Normandie und das Vorrücken der alliierten Streitkräfte im
Westen als die kriegsentscheidenden Ereignisse für die Befreiung Europas gewürdigt. Dem Vormarsch der
Roten Armee im Osten hingegen wird diese Qualität nicht zugebilligt. Dort habe sich die Befreiung erst mit
dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des sozialistischen Staatensystems am Ende des Jahrhunderts
vollendet. Der Verweis auf das stalinistische System hebt aber die Leistung, die die Sowjetunion für die
Befreiung der Völker Europas und Asiens erbrachte, nicht auf. Die politischen und gesellschaftlichen
Gegensätze unter den Teilnehmern der Anti-Hitler-Koalition waren angesichts der Bedrohung durch den
Faschismus in Europa und Asien von untergeordneter Bedeutung. Erst die gemeinsame Abwehr der
27
existenziellen Gefahr setzte die Völker wieder in die Lage, um zivilisatorische Perspektiven zu
konkurrieren.
Der Sieg über den deutschen Faschismus und die Befreiung Europas bleiben eine Leistung aller
Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition. Nur in einer gemeinsamen Anstrengung konnte die menschliche
Zivilisation vor einem Terrorregime gerettet werden, das vor keinem Verbrechen zurückschreckte. Die
Bedrohung führte Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und Menschen unterschiedlichster
Weltanschauung und politischer Orientierung zusammen. Die
Lieferungen von Waren, Waffen und Ausrüstungen halfen der Sowjetunion, dem Druck des
hochgerüsteten Aggressors standzuhalten. Die lang erwartete zweite Front verkürzte die letzte Phase des
Krieges in Europa erheblich.
An der Seite der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition kämpften Partisanen und Widerstandskämpfer in
allen okkupierten Gebieten für die Freiheit ihrer Heimatländer. An der abschließenden Berliner Operation
nahmen auch polnische Soldaten teil. Mit dem Überfall auf ihre Heimat hatte der Zweite Weltkrieg
begonnen. Deutsche Antifaschisten reihten sich ebenfalls in die Armeen der Anti-Hitler-Koalition und in
die Partisanen und Widerstandsgruppen ein. Nicht vergessen werden dürfen die mutigen Frauen und
Männer, die aus den unterschiedlichsten Motiven unter ständiger Lebensgefahr im Deutschen Reich
Widerstand gegen das NS-Regime leisteten. Diese verschwindende Minderheit verkörperte die
Hoffnungen auf ein anderes Deutschland.
Die Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschland trug die Sowjetunion. Sie hatte den entscheidenden
Anteil am Sieg. Die Ostfront war die Hauptfront des Zweiten Weltkrieges. Das wurde von den westlichen
Verbündeten der UdSSR unter dem Eindruck der Ereignisse auch wiederholt gewürdigt. Insgesamt 1.418
Tage und Nächte währten die militärischen Auseinandersetzungen mit dem deutschen Aggressor. Lange
bevor endlich die zweite Front eröffnet wurde, hatten sowjetische Soldaten den Feind vor Moskau
gestoppt, in Stalingrad und im Kursker Bogen die Wende des Krieges erzwungen. Die sowjetischen
Streitkräfte zerschlugen 607 deutsche sowie mit Deutschland verbündete Divisionen. Drei Viertel seiner
Kriegsverluste erlitt das Dritte Reich an der Ostfront.
Der Preis für diese Leistung war hoch. Über elf Millionen sowjetische Soldaten ließen dafür an der Front
ihr Leben. Mehr als 13 Millionen Zivilpersonen wurden getötet oder starben unter den unmittelbaren
Kriegseinwirkungen. Belorussland verlor ein Viertel seiner Einwohner. In Städten wie Leningrad, Smolensk
oder Pskow überlebten ein Drittel der Einwohner die Kampfhandlungen nicht. Der deutsche Aggressor
hinterließ eine Spur der Verwüstung: 1.710 Städte und 70.000 Dörfer, 31.800 Industriebetriebe, 13.000
Brücken und 65.000 Kilometer Eisenbahnnetz zerstört, gesprengt oder niedergebrannt. Diese Bilder
hatten sowjetische Soldaten vor Augen, als sie die Grenze des Großdeutschen Reiches überschritten.
Der Krieg war im April 1945 an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. In Berlin waren mit der
"Machtergreifung" im Januar 1933 die Weichen für die "Neuordnung Europas" gestellt worden. Von hier
aus wollte sich ein "Tausendjähriges Reich" über die versklavten Völker erheben. Dem Terror nach innen
folgte der Terror nach außen. Die Revision des Versailler Vertrages war das Vorspiel zur Eroberung von
"Lebensraum" und Rohstoffquellen, die den planmäßigen Völkermord einschloss. In Berlin befanden sich
die Kommandozentralen des verbrecherischen NS-Regimes. Hier fielen die Entscheidungen für die
Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, für den " Fall Barbarossa" und den Vernichtungskrieg gegen die
Sowjetunion sowie zur "Endlösung der Judenfrage". Das "Volk der Dichter und Denker" hatte sich selbst
als "Volk der Mörder und Henker" diskreditiert.
"Nie wieder Faschismus und Krieg", lautete deshalb die Botschaft, die sich 1945 aus bitterer Erfahrung
ergab und die auch in Deutschland breiten Widerhall fand. Das schloss die Frage nach Verantwortung und
28
Schuld, insbesondere nach den Verantwortlichen und den Profiteuren des Krieges und des NS-Systems
ein. Deshalb richteten sich die Blicke auf jene Kreise aus Industrie und Grundbesitz, die den Machtantritt
der Nazis zumindest wohlwollend geduldet, wenn nicht
gefördert, jedenfalls aber von deren Eroberungs- und Vernichtungspolitik profitiert hatten. Diese
antikapitalistische Stoßrichtung des Antifaschismus war in den Erfahrungen seit den beginnenden
dreißiger Jahren begründet. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verständigten sich in Potsdam im
Sommer 1945 auf die "Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft,
dargestellt durch Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Monopolvereinigungen". Neben den Naziführern
saßen auf der Anklagebank in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen auch Spitzenvertreter der
deutschen Wirtschaft und Staatsbeamte. Die Sanktionen der Siegermächte sollten sicherstellen, dass von
deutschem Boden nie wieder eine Gefahr für Europa und die Welt ausgehen kann. Diese Verpflichtung
darf nicht in Vergessenheit geraten.
Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges hatte die Welt verändert. Die Sowjetunion war trotz ihrer enormen
menschlichen und materiellen Verluste gestärkt an Ansehen, Einfluss und militärpolitischer Kraft aus
dieser Auseinandersetzung hervorgegangen und eine von allen zu respektierende Größe der Weltpolitik
geworden. In Asien erstarkten die antikolonialen Befreiungsbewegungen und setzten erste Zeichen für
den sich anbahnenden weltweiten Zusammenbruch des Kolonialsystems. In Europa hatte sich die
Arbeiterbewegung mit ihrem überragenden Anteil am antifaschistischen Widerstand Einfluss auf die
Gestaltung der Nachkriegsordnung verschafft. Gewerkschaften und Parteien strebten nach stärkerer
Zusammenarbeit bisher getrennter Flügel, um politische Gefahrensituationen künftig besser abwenden zu
können. Der Ruf nach Einheit war in ganz Europa verbreitet. Internationale Organisationen und
Zusammenschlüsse entstanden. Ein herausragendes Erbe der Anti-Hitler-Koalition ist die Organisation der
Vereinten Nationen, deren Charta im Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet wurde.
Angesichts der dramatischen Erfahrungen verbot sich eine einfache Rückkehr zur Vorkriegsordnung. Die
Forderung nach gesellschaftlichen Veränderungen und die Chance ihrer Verwirklichung ergab sich
zwangsläufig aus dem Fazit der ersten Jahrhunderthälfte. Sie hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg in
vielen Ländern auf der Tagesordnung gestanden. Es bedurfte nicht des Diktats einer Besatzungsmacht,
um diese Fragen auf die Agenda zu setzen. In Westeuropa und Westdeutschland wurde mit der Stärkung
der parlamentarischen Demokratie und mit dem Modell der sozialen Marktwirtschaft ein von den
Westmächten vorgegebener Weg eingeschlagen. Großen Teilen der alten Eliten eröffneten sich bald neue
Karrieren. In Osteuropa und Ostdeutschland wurden dagegen schon in der
antifaschistisch-demokratischen Übergangsphase grundlegende gesellschaftliche Veränderungen
eingeleitet. Mit der späteren Übernahme des stalinistischen Gesellschaftsmodells wurden jedoch die
Chancen vergeben, die diesem Weg innewohnten.
Während für die Frauen und Männer, die aus Zuchthäusern, Konzentrationslagern und aus der Emigration
zurückkehrten, der Mai 1945 als Befreiung und Chance nie in Frage stand, sprachen traditionelle Eliten,
die die Aufbaujahre der Bundesrepublik maßgeblich beeinflussten, von Zusammenbruch oder Kriegsende
und beschworen die Fortexistenz des Deutschen Reiches. In der Deutschen Demokratischen Republik
wurde der 8. Mai 1945 bereits kurz nach ihrer Gründung als Tag der Befreiung zum staatlichen Feiertag
erhoben. In der Bundesrepublik Deutschland stieß
noch 1985 die Aufforderung des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, den 8. Mai 1945 ungeachtet
widersprüchlicher Erfahrungen auch als Tag der Befreiung zu begreifen, weithin auf Unverständnis. Bis
heute halten die Versuche an, die Bedeutung dieses Tages unter Verweis auf deutsche Opfer zu
relativieren. Das in Filmen und Erzählungen der fünfziger Jahre im Westen kultivierte Muster, das eine
"anständige" Mehrheit der Deutschen und eine "unbescholtene" Wehrmacht von den Verbrechen des
NS-Regimes und seiner Spitzenfunktionäre abhob, wurde nur zu gern angenommen und verfehlte seine
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Wirkung nicht. Gefolgschaftstreue zu Hitler, massenhafte Loyalität im NS-Regime, Mitverantwortung und
Verstrickung in die Verbrechen des Faschismus konnten so weitgehend verdrängt werden. Erst die
Achtundsechziger stellten diesen Mythos in Frage.
In Ostdeutschland besaßen die Antifaschisten genug Autorität, um viele Menschen zum Umdenken zu
bewegen. Die Aufforderung, die antifaschistische Position einer Minderheit als gesellschaftlichen
Grundkonsens zu übernehmen und sich bei den "Siegern der Geschichte" einzureihen, förderte einerseits
die Integration, ermöglichte aber andererseits ebenfalls Verdrängung. Die einseitige Ausrichtung sowie
ritualisierte Formen des Gedenkens an Nazi-Verbrechen und Widerstand lassen sich zwar bemängeln,
nicht aber, dass die Verantwortung der im Deutschen Reich wirtschaftlich, politisch und militärisch
maßgebenden Kreise und Personen angeprangert und daraus Konsequenzen gezogen wurden.
Gewiss zählen auch viele Deutsche wenn auch nicht generell ohne Schuld zu den Opfern des Regimes und
des Krieges, dem sie zuvor zugejubelt hatten. Doch gilt für alle Überlebenden: Sie waren befreit von den
Schrecken des Krieges. Sie konnten aufatmen. Sie waren befreit von der Rolle, die sie als Gefolgschaft
eines mörderischen Regimes gespielt hatten. Sie waren befreit von der Möglichkeit einer schandbaren
Perspektive als Sklavenhalter Europas. Obwohl es vorerst nicht selbstbestimmt handeln durfte: Nach dem
8. Mai 1945 hatte das deutsche Volk wieder eine
Zukunft.
Die vorliegende Erklärung wurde von Jürgen Hofmann erarbeitet, von der Historischen
Kommission am 19. März 2005 beraten und vom Sprecherrat am 5. April 2005 verabschiedet.
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Anlage 6
Nichts darf vergessen werden! Niemand darf
vergessen werden!
Diskussionsbeitrag auf der Konferenz: „Der Krieg 1941 - 1945
im Gedächtnis der Generationen. Nachdenken über
Vergangenheit und Gegenwart. Europa ohne Kriege?“ Moskau,
22. Juni 2001. von Michael Brie
Diskussionsbeitrag auf der Konferenz: „Der Krieg 1941 - 1945 im Gedächtnis der
Generationen. Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart. Europa ohne Kriege?“
Moskau, 22. Juni 2001
In meiner kleinen Gemeinde Schöneiche am Rande Berlins steht ein Obelisk auf einem roten
Ziegelsockel. Er steht am Waldrand, zwei schmale Straßen führen vorbei. Man kann die Amseln
hören, wenn man dort steht. Die Inschrift auf dem Obelisken heißt: „Ewiger Ruhm jenen, die im
Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit der sowjetischen Heimat gefallen sind“. Es werden 123
Namen von toten sowjetischen Offizieren und Soldaten genannt, darunter der des Hauptmanns
Inin und des Unteroffiziers Aljoschin. Auch die Zivilistin Semjonkina gehört dazu. Weitere
unbekannte Männer und Frauen sind hier begraben. Die meisten fielen zwischen dem 20. und 23.
April 1945. Andere starben erst, nachdem der Krieg schon ein, zwei, drei Wochen vorbei war. Es
soll ein wunderschöner Frühling gewesen sein. Sie aber mussten sterben, nachdem der
Hitlerfaschismus durch sie bereits besiegt war, nachdem sie die unendlich lange Strecke, geprägt
von Kampf, Tod, Niederlagen, ersten Siegen und vielen neuen Toten zwischen Brest und Moskau,
Moskau und wieder Brest, von Warschau bis Berlin zurückgelegt hatten. Es gibt viele solche
Friedhöfe zwischen Moskau und Berlin. Deshalb sollte es dabei bleiben: „Nichts ist vergessen.
Niemand ist vergessen.“
Ich bin dankbar, heute hier sein zu können. Es ist ein Tag, an dem es wichtig ist, hier in Moskau
zu sein. Ich danke der Gesellschaft Russland – Deutschland, die uns eingeladen hat, ich danke
der Friedrich-Ebert-Stiftung, die diese Konferenz unterstützt hat, vor allem aber danke ich jenen
der hier Anwesenden, die als junge Frauen und Männer Hitler und den mörderischen Armeen
Deutschlands Einhalt geboten, sie zum Stehen gebracht und den deutschen Nationalsozialismus
in seinem Ursprungsland endgültig besiegt haben. Ich verneige mich vor ihnen und vor allen, die
damals mit ihnen waren.
Der Krieg gegen die Sowjetunion, der am frühen Morgen des 22. Juni 1941 begann, war ein
anderer Krieg als der gegen Frankreich oder England. Es war ein Vernichtungskrieg. Es war ein
Krieg gegen den Sozialismus und Kommunismus. Dies zu sagen, ist heute nicht populär. Hitlers
Krieg gegen die Sowjetunion richtete sich nicht gegen jene Verbrechen, die unter Stalin am
eigenen Volk und an Kommunisten und vielen anderen aufrichtigen Menschen durch
Kommunisten begangen wurde. Nein, es war ein Krieg gegen eine große geistige Alternative,
gegen jede Vision von wirklicher Volksherrschaft. Und es war ein Krieg der Vernichtung des
russischen und aller slawischen Völker. Denn es sollte Raum geschaffen werden für die
germanische Rasse, Raum im Osten. Nur kurzzeitig sollten die slawischen Völker als Sklaven noch
den Boden bereiten für die neuen Herren. Dieser Unterschied zwischen Krieg im Westen und
Krieg im Osten ist fast vergessen. Aber er darf niemals vergessen werden. Vor allem in
Deutschland nicht.
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Fast vergessen ist in Deutschland der Tag der bedingungslosen Kapitulation, der zum Tag der
Befreiung wurde. Der Tag der Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz hat als offizieller
Gedenktag den Tag der Befreiung abgelöst. Dies aber ist eine Irreführung. Das große Verbrechen
des Hitlerfaschismus und seiner Kriege ist nicht nur und nicht einmal vor allem die Vernichtung
des europäischen Judentums. Die Vergasung von Menschen begann mit Menschen, die behindert
waren. Und die Vernichtung von jenen, die als unterlegene oder konkurrierende „Rassen“
angesehen wurden, richtete sich auf Juden, Zigeuner und auf die Völker Osteuropas insgesamt.
Nur die Siege von Moskau, Stalingrad, Kursk und Berlin, die Eröffnung der zweiten Front im
Sommer 1944 haben die Vollendung dieses schrecklichen Werkes verhindert. Nur diese Siege
waren es, die bewirkten, dass der Shoa der Juden nicht die Vernichtung der großen Völker
Russlands, der Ukraine, Belorusslands, Kasachstans und anderer folgten. Die
Rosa-Luxemburg-Stiftung wird dazu beitragen, dass der Tag der Befreiung wieder ein zentraler
Gedenktag in Deutschland wird.
Zwei Mal ging im 20. Jahrhundert von Deutschland Krieg gegen Russland aus. Es waren diese
Kriege, die den Lauf des ganzen Jahrhunderts wesentlich bestimmten. Die Geschichte Russlands
wurde vor allem im Gefolge dieser Kriege zu einer Tragödie seiner Völker. Die Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands stehen in dieser Geschichte und haben Verantwortung zu übernehmen.
Voller Scham müssen wir bekennen, dass erst 56 Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges die
Entschädigung von Zwangsarbeitern beginnen kann. Die Wiedergutmachung von materiellen
Verlusten, die deutsche Bürger erlitten, ist schon seit über 40 Jahren faktisch abgeschlossen. Das
Feilschen um Rechtssicherheit ist angesichts des brutalen Rechtsbruchs der Vergangenheit
unangemessen.
Ich denke auch, dass ein weiteres 30-jähriges Moratorium über die Frage einer Rückführung von
Kunst nach Deutschland verhängt werden sollte. Es handelt sich um ein gemeinsames
Menschheitserbe. Gemeinsam sollte es bewahrt werden. Erst dann, wenn wir es geschafft haben,
eine gemeinsame Zukunft unserer Völker, des deutschen und der russischen Völker, in Frieden,
Freiheit und Wohlstand aufzubauen, sollte diese Frage erneut besprochen werden. Bis dahin
sollten wir uns auf den Erhalt dieses Erbes und den öffentlichen Zugang zu diesem Erbe
konzentrieren.
Unsere Völker werden wohl ein weiteres halbes Jahrhundert brauchen, um die Folgen der Kriege
des 20. Jahrhunderts zu überwinden. Wenn deutsche Politik im 20. Jahrhundert die wesentliche
Ursache für die Tragödien Russlands war, so sollte sie heute aus eigenem Interesse und
historischer Verantwortung dazu beitragen, dass die Russische Föderation zu einem wirtschaftlich
starken, sozialen und demokratischen Staat mit sicheren Grenzen werden kann.
Das 20. Jahrhundert hat schreckliche Verluste hinterlassen. Ganze Völker und Kulturen
Osteuropas sind verschwunden oder wurden an den Rand der Vernichtung geführt. Das 21.
Jahrhundert muss ein Jahrhundert der Schaffung eines neuen gemeinsamen Europas werden,
eines Europas der Vielfalt lebendiger Völker und Kulturen, gegründet auf erfolgreichen
Volkswirtschaften und Sozialstaaten. Die Logik der Vernichtung und die Logik gespannter
Koexistenz müssen durch die Logik von Kooperation ersetzt werden: Der Reichtum der anderen
muss als Bedingung des eigenen Reichtums erkannt werden. Dazu sind Rassismus, Nationalismus
und Chauvinismus zu überwinden.
Solange die „Mitte der Gesellschaft“ nicht erkennt, dass Zukunft nur gemeinsam mit anderen zu
haben ist, wird sie die Ermordung von Bürgern ausländischer Herkunft und von Obdachlosen
durch Duldung befördern, werden sogenannte „national befreite Zonen“ die Chancen auf ein
Deutschland von Toleranz und Zusammenarbeit zerstören. Es ist die gemeinsame Verantwortung
aller Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, aller demokratischen Parteien und ihrer Stiftungen,
diese Tendenzen zu brechen.
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Dazu gehört auch, klar zu regeln, dass die Friedhöfe und Denkmäler für die sowjetischen
Soldaten und Offiziere auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland bewahrt werden
müssen. Es gibt einen schleichenden Verfall vieler dieser Friedhöfe. Was in der DDR möglich war,
muss in der Bundesrepublik Pflicht sein.
Jene, die Rosa Luxemburg ermordeten, waren es auch, die den Krieg gegen die Sowjetunion
vorbereiteten und durchführten. Es war der gleiche Geist und es waren die gleichen Hände. Ich
bin heute in Moskau, um der vielen Millionen Toten zu gedenken, die der Vernichtungskrieg
Deutschlands gegen die Sowjetunion kostete. Ich bin in Moskau, um jenen zu danken, die unser
Land von seinen mörderischen Herren befreit haben. Ich bin in Moskau, um im Namen der
Rosa-Luxemburg-Stiftung zu erklären, dass wir uns der Verantwortung stellen werden, die uns
die Geschichte hinterlassen hat.
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Anlage 7
Berliner Zeitung, KOLUMNE 02.03.2015
Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche
Von Götz Aly
Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes sollten wir Deutsche vor allem auch die Leistungen der sowjetischen Soldaten bei der
Befreiung vom Nationalsozialismus ehren. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht in Berlin?
In gut zwei Monaten, am 8./9. Mai, steht der 70. Jahrestag des Kriegsendes ins Haus, und unsere politischen Repräsentanten
werden wenig Anstalten machen, an diesem Tag die sowjetischen Soldaten zu ehren, die die Hauptlast des Krieges trugen und
schließlich die Deutschen von sich selbst befreiten. Wenn es unsere gewählten Vertreter nicht tun, dann sollten die Berliner die
Sache in die Hand nehmen. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt zum 70. Jahrestag? Wo, wenn nicht in Berlin?
Der Sieg über das damalige Deutschland musste mit harter militärischer Gewalt erkämpft werden, weil der innere Widerstand
schwach blieb. Die damaligen Deutschen betrachteten die Kapitulation weithin als Zusammenbruch, als Katastrophe. Voller Angst
warteten sie darauf, dass die Sieger all das rächen würden, was 18 Millionen Landser, SS-Männer und Besatzungsbeamte den
Völkern Ost- und Südosteuropas angetan hatten. Blutjunge Wehrmachtssoldaten, die 1944/45 in Gefangenschaft gerieten, zur
Desinfektion und zum Duschen geführt wurden, wussten plötzlich ganz genau: „Jetzt werden wir vergast.“
Achim Thom, einst Professor in Leipzig, hat das so erlebt und mir berichtet. Nicht nur er. Anders als unsere Vorväter wissen wir
Heutigen, dass wir den Frieden, unseren Wohlstand, das Glück unserer Kinder und Kindeskinder allein der deutschen Niederlage
verdanken. Deshalb gilt es, diesen Tag mit einem Volksfest zu feiern. Deshalb muss an diesem Tag der Opfer des beispiellosen
deutschen Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieges gegen Osteuropa in besonderer Weise gedacht werden. Fünf Millionen Tote
in Polen, 27 Millionen in der ehemaligen Sowjetunion, darüber hinaus ungezählte Menschen, die dauerhaft um ihr Lebensglück
gebracht worden sind, Hungersnöte und die vollständige Verwüstung ganzer Landstriche – all das kennzeichnete den von
Deutschland gewollten Krieg.
Nach Moskauer Zeit wird in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in Israel der 9. Mai als Tag des Sieges über Deutschland
gefeiert. In diesem Jahr ist das praktischerweise ein Samstag. Deshalb schlage ich vor, dass sich möglichst viele Berliner am
Vormittag des 9. Mai um 11 Uhr am sowjetischen Ehrenmal nahe dem Brandenburger Tor treffen und dort Blumen niederlegen. Eine
Blaskapelle sollte zunächst Trauermusik intonieren und dann Stücke spielen, die der Freude über die Befreiung Schwung geben. All
das hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob man die Politik der heutigen russischen Führung zu verstehen versucht oder
bekämpft, auch spielt keine Rolle, wie und was man über die Verbrechen Stalins oder des Kommunismus denkt.
In dieser Stunde und an diesem Morgen kann es nur um eines gehen: um eine große, öffentlich wirksame Geste des Mitgefühls, der
Solidarität und der Freundlichkeit der heutigen Berliner, gerichtet an die von Deutschland überfallenen Völker der ehemaligen
Sowjetunion, an die Familien der ermordeten, verschleppten und geschundenen Zivilisten, der gefallenen, verkrüppelten und
ermordeten Soldaten der Roten Armee. Dazu braucht man ein kleines Komitee, das die Veranstaltung anmeldet – dann wird fast von
selbst eine beachtliche Volksbewegung entstehen. Für die Musiker habe ich eine Idee, einen
Redner finden wir auch.
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Anlage 8
Berliner Zeitung, KOLUMNE ZU 70 JAHREN KRIEGSENDE 09.03.2015
Ukrainer, Russen und Deutsche sollen am 8./9. Mai zusammenkommen
Von Götz Aly
Viele Leser wollen sich dem Vorschlag unseres Kolumnisten anschließen, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai in
Berlin die Soldaten und Gefallenen aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion zu würdigen, die den Sieg über Hitlerdeutschland
erkämpft haben. Eine Veranstaltung nimmt Konturen an.
Die vorangegangene Kolumne „Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche“ fand ein starkes Echo: Nicht wenige Berliner wollen am
Vormittag des 9. Mai, dem 70. Jahrestag des Kriegsendes nach Moskauer Zeit, am sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten Blumen
niederlegen. Sie wollen die Soldaten und Gefallenen aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion würdigen, die den Sieg über
Hitlerdeutschland erkämpft haben, ebenso die von Deutschen ermordeten Kriegsgefangenen und die vielen Millionen Zivilisten, die
dem deutschen Raub, Rassen- und Versklavungsterror zum Opfer fielen. Sieben Wochen vor dem Überfall hatten deutsche
Staatssekretäre am 2. Mai 1941 festgelegt: In der Sowjetunion werden „zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn für uns
das für uns Notwendige aus dem Land herausgeholt wird“. Nachdem die Wehrmacht bis kurz vor Leningrad und Moskau
vorgedrungen war, erklärte Hermann Göring Ende November 1941: „In diesem Jahr (1942) werden 20 bis 30 Millionen in Russland
verhungern. Vielleicht ist das gut so, da bestimmte Völker dezimiert werden müssen.“ Keine Frage: Die Rotarmisten führten einen
Verteidigungskrieg auf Leben und Tod.
Am 9. Mai sollen in Berlin die Niederlage, die Befreiung Europas und die zwangsweise Befreiung der Deutschen von sich selbst
gefeiert werden. Die aktuelle Politik steht nicht zur Debatte. Vielmehr geht es um eine versöhnliche Botschaft des Mitgefühls, der
Anteilnahme und des Andenkens, adressiert nicht von einem Präsidenten an den anderen, sondern von Tausenden Berlinern an die
Millionen Familien derer, die infolge des deutschen Vernichtungskriegs ihre Lieben verloren, schwere materielle, körperliche und
seelische Schäden erlitten – ob sie nun in Russland leben, in der Ukraine, in Weißrussland, in Kasachstan oder im Baltikum.
Um das zu verdeutlichen ein Beispiel: Die Blockade Leningrads begründete die Wehrmachtsführung mit der Absicht, die fünf
Millionen Einwohner verhungern zu lassen; tatsächlich starben während der 900 Tage andauernden Belagerung etwa eine Million
Menschen, darunter der eineinhalbjährige Viktor, der ältere Bruder Wladimir Putins. Die Blumen am Denkmal gelten nicht dem
Präsidenten, aber eben auch der Familie Putin.
Bolschewistische Kurkapelle will auftreten
Inzwischen hat die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot zugesagt, mit 17 Bläsern, Gitarristen und Sängern das Ihre zum 9. Mai
am sowjetischen Ehrenmal beizutragen. Die Gruppe wurde 1986 in Berlin-Prenzlauer Berg gegründet und ist dort fest verwurzelt.
Die Musiker, darunter ein Brite und ein Amerikaner, kombinieren bayerische, russische und ukrainische Volksmusik mit
amerikanischem und französischem Punk, mit polnischer Polka und jiddischen Hochzeitsmärschen.
Sie wollen die Menschen zum Tanzen bringen und nachdenklich stimmen. In Berlin wohlbekannt, sind sie in Kopenhagen, Paris, Le
Havre, Wien, Brno, Amsterdam aufgetreten und erklären zur aktuellen Lage: „Wir haben noch nie in Moskau oder Kiew gespielt,
aber vielleicht lädt uns dorthin einmal jemand ein.“ Nun sind noch einige organisatorische Fragen zu klären. Das hat
dankenswerterweise der 1990 ebenfalls in der Gorbatschow-Ära gegründete Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI übernommen
(www.kontaktekontakty.de). Auf zum 9. Mai!
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