Sowjetisches Ehrenmal in Seelow, in Erinnerung an die Schlacht um die Seelower Höhen im April 1945 8. Mai 2015 – 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus Argumentationshilfe und Materialsammlung DIE LINKE Bundesgeschäftsstelle Bereich Politische Bildung Kontakt: Annegret Gabelin [email protected] April 2015 Die nachstehenden Thesen sind als Anregung zur Diskussion in Kreisverbänden gedacht und fassen Positionen und Erkenntnisse aus folgenden Materialien zusammen, die als Anlagen zur Verfügung gestellt werden: • 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus - 8. Mai soll gesetzlicher Gedenk- und Feiertag werden. Erklärung des Parteivorstandes vom 28. und 29. März 2015 • Geschichtspolitik und Machtpolitik um den 70. Jahrestag der Befreiung. Beitrag von Dr. Stefan Bollinger auf der 23. Tagung der Historischen Kommission am 7. März 2015 • Die vergessenen Opfer: Sowjetische Kriegsgefangene. Höchste Zeit für ihre Anerkennung und Entschädigung. Jan Korte. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Standpunkte 08/2015 • Den 8. Mai als Befreiung begreifen. Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN zum 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, 23. April 2010 • 8. Mai 1945. Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, 5. April 2005 • Nichts darf vergessen werden! Niemand darf vergessen werden! Diskussionsbeitrag auf der Konferenz: „Der Krieg 1941 - 1945 im Gedächtnis der Generationen. Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart. Europa ohne Kriege?“ Moskau, 22. Juni 2001. Von Michael Brie • Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche. Von Götz Aly, Berliner Zeitung, 2. März 2015 • Ukrainer, Russen und Deutsche sollen am 8./9. Mai zusammenkommen. Von Götz Aly, Berliner Zeitung, 9. März 2015 1. Nachdem der „Ausbruch“ des Ersten Weltkrieges, der sich 2014 zum 100. Mal jährte, mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen, Diskussionen und Veranstaltungen ins öffentliche Bewusstsein gehoben wurde, entschließt sich die Bundeskanzlerin, nicht an den offiziellen Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung in Moskau teilzunehmen. Die historischen Leistungen der Völker der Sowjetunion werden aufgerechnet gegen das heutige Russland als Störfaktor der Politik der USA und mit ihr verbündeter Staaten Europas. Die Auseinandersetzung um die Bewertung von Geschichte wird zur Stellvertreterpolitik im aktuellen Kampf um Hegemonie in den Beziehungen insbesondere zwischen dem westlichen Bündnis und Russland. Bundesregierung und Bundestag gehen in der Umwertung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs noch einen Schritt weiter: Erstmals wird zum 20. Juni 2015 ein gesetzlicher „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ eingeführt. 2. Der Zweite Weltkrieg war in erster Linie ein beispielloser Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands gegen Osteuropa. Mit 27 Millionen Toten, darunter 14 Millionen Zivilisten, entrichtete die Sowjetunion den größten Blutzoll. Insgesamt starben in diesem Krieg 60 Millionen Menschen bei Kampfhandlungen, durch Repressalien, Massenvernichtungsaktionen und Kriegseinwirkungen. Von 18 Millionen in Konzentrationslager verschleppten Menschen wurden 11 Millionen ermordet oder durch Arbeit vernichtet. Unfassbar bleibt der industrielle Massenmord an den europäischen Juden (Holocoust). Die Hauptlast des Krieges trug die Sowjetunion. Die Ostfront war die Hauptfront des Krieges. Lange vor Eröffnung der Zweiten Front im Westen hatten sowjetische 2 Soldaten den Feind vor Moskau gestoppt, in Stalingrad und im Kursker Bogen die Wende des Krieges erzwungen. Die Eröffnung der Zweiten Front durch die Westalliierten trug dazu bei, dass der Krieg schneller beendet werden konnte. 3. 1945 folgte der Versuch eines demokratischen Neuanfangs. In einer kurzen Phase basisdemokratischer Entwicklung von unten gelang in allen Besatzungszonen Deutschlands gemeinsames Handeln von Kommunisten, Sozialdemokraten sowie demokratisch und antifaschistisch gesinnter Bürger. Diese „Phase eines zu früh und zu radikal abgebrochenen demokratischen Aufbruch mit offener, möglicherweise demokratisch-sozialistischer Perspektive“ (S. Bollinger) wurde beendet durch alle vier Besatzungsmächte und die sich neu formierenden Parteien. Unterschiedlich in Ost und West waren 1945 die Sichtweisen auf die Niederlage des deutschen Faschismus. Während Linke und dann die spätere DDR aus dieser Niederlage den notwendigen Bruch mit der Kapitallogik ableiteten, sah man in den Westzonen und in der späteren BRD in dieser Niederlage die Notwendigkeit, mit den faschistischen Methoden der Verwirklichung kapitalistischer Politik zu brechen. Diese auseinanderstrebenden Tendenzen verfestigten sich mit der Einbindung beider deutschen Staaten in die sich gegenüberstehenden politischen und militärischen Blöcke. 4. Die BRD brauchte 40 Jahre, um den 8.Mai 1945 als Tag der Befreiung artikulieren zu können. Es ist das Verdienst des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der am 8.Mai 1985 sagte: „Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. … Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Diese Aussage manifestiert einen Wandel in der Geschichtspolitik der alten BRD, dessen Stationen u. a. der Auschwitz-Prozess ab 1963, die Versöhnung mit Frankreich und die neue Ostpolitik Willy Brandts sind. Die Veränderungen in der Weltpolitik und die 1968er Bewegung sind weitere Faktoren dieses Wandels. 5. Die Geschichtspolitik der Bundesrepublik ist gekennzeichnet durch einen interessengeleiteten und selektiven Umgang mit den Ergebnissen des 2. Weltkrieges. Jeder Fortschritt im Gedenken an die Opfer und in der Aufarbeitung der Geschichte war von massiven Widerständen in der Gesellschaft der BRD begleitet. So versuchte man zunächst die Schuld auf die Haupttäter Hitler, Himmler und Göring zu reduzieren. Vom Judenmord habe ja die Bevölkerung nichts mitbekommen. Man versuchte, die Deutschen als die eigentlichen Opfern zu betrachten – Opfer Hitlers, Opfer des Krieges und des Bombenkrieges, dann Opfer der Entnazifizierung – dies alles zur Abwehr von Kollektivschuld. Spät – beginnend erst mit den 1960er Jahren und dem Auschwitz-Prozess ab 1963 – begann das staatsoffizielle Gedenken an die 6 Millionen Opfer der Shoah. Gut in Erinnerung ist die Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung 1995. Bis 2002 brauchte es, ehe Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert wurden. Sogenannte „Kriegsverräter“, die Juden und Kriegsgefangenen halfen, mussten bis 2009 auf ihre Rehabilitierung warten. 6. Eine der größten Opfergruppen waren die 5,7 Millionen Angehörigen der Roten Armee, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten. 3,3 Millionen von ihnen starben an Hunger, Kälte, Krankheiten und Zwangsarbeit oder wurden in massenhaften Erschießungen getötet. Diese Opfergruppe spielt im offiziellen Gedenken der Bundesrepublik eine völlig untergeordnete Rolle und wird gerade durch die Oppositionsparteien ins Blickfeld gerückt, die politische Anerkennung und finanzielle Entschädigung der wenigen noch lebenden Opfer verlangen. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden „vergessen“, weil • der Antikommunismus auch die Vergangenheitspolitik der alten Bundesrepublik bestimmte, 3 • es erst den mit der Wehrmachtsausstellung 1995 erreichten Durchbruch brauchte, um Verbrechen der Wehrmacht als tragende Säule des NS-Regimes ins öffentliche Bewusstsein zu heben, • die Sowjetunion unter Stalin Kriegsgefangene als Verräter betrachtete und nach ihrer Rückkehr teilweise weiteren Repressionen aussetzte (erst 1995 wurden sie in Russland offiziell rehabilitiert), • weil die Perspektive der Totalitarismustheorie und die aktuellen außenpolitischen Auseinandersetzungen mit Russland die Anerkennung dieser Opfergruppe weiter behindern. Unser Ziel muss sein, nicht nur im Parlament dafür einzutreten, sondern Bündnispartnerinnen und Bündnispartner in der Gesellschaft zu gewinnen, um die noch rund 2000 lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen anzuerkennen und zu entschädigen. 7. Heute fällt die Politik der Bundesrepublik hinter die Einsichten von Richard von Weizsäcker zurück. Ziel ist es, endlich einen Schlussstrich unter die Debatte zu setzen und im Bewusstsein neuer Stärke die Führungsrolle in Europa auszubauen, was bewusst oder unbewusst von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geteilt wird. So werden zum Beispiel • die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges umgedeutet (die Einverleibung der Tschechischen Republik und das Opfern Spaniens werden kaum beklagt, dafür die sowjetische Flucht in Verträge mit Hitlerdeutschland in den Mittelpunkt gerückt); • die Westfront als vermeintlich entscheidend für den Sieg kontinuierlich aufgewertet (siehe Feiern zum D-Day); • deutsche Kriegsopfer betont (z. B. Bombardierung Dresdens u. a. Städte) und dabei ausgeblendet, dass das Folgen des verbrecherischen Krieges Deutschlands gegen Europa sind; • Flucht und Vertreibung als besondere Last für Deutschland dargestellt und die historischen Ursachen dafür ausgeblendet (neuer Gedenktag am 20. Juni, Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung); • bei der Benennung der Dimension und Einzigartigkeit des Mordes an 6 Millionen Jüdinnen und Juden zugleich der Charakter des faschistischen Krieges als Vernichtungskrieg ausschließlich gegen Juden umgedeutet und das imperiale Streben nach „Lebensraum“ nicht thematisiert. So ist die Völkervernichtungsabsicht und –praxis („Generalplan Ost“ gegen Slawen, Sinti und Roma, politisch Missliebige) nicht Thema der Analyse; • sozialökonomische Kriegsziele ausgeblendet zugunsten einer abstrakt moralisierenden Betrachtungsweise jenseits von Fakten. Damit wird verschleiert, dass die sozialökonomische Grundlage des Faschismus ihn als gefährliche Abart des Kapitalismus ausweist. 8. Die sowjetische Politik war 1945 nicht nur auf die Niederwerfung des Faschismus gerichtet, sondern zielte darauf, in den befreiten und eroberten Staaten soziale Umbrüche in Gang zu bringen und zu befördern, die zugleich ihre Einflusszone erweiterten und ihren Sicherheitsinteressen dienten. So wurde das sowjetische Modell exportiert. Allmacht der kommunistischen Partei, Überzentralisierung, Verschärfung des Klassenkampfes, Unterordnung unter sowjetische Ziele in der Systemauseinandersetzung bestimmten die Befreiung von faschistischer Unterdrückung und den 4 Versuch, den Nährboden zu beseitigen, auf dem Faschismus und Kapitalismus gedeihen. Doch das erweckte neuen Widerstand bei Sozialistinnen und Demokraten, die diese diktatorischen Mittel nicht wollten. 9. Linke Geschichtspolitik muss die politischen und sozialen Fragen benennen und analysieren. Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges wurden der deutsche und italienische Faschismus sowie der japanische Imperialismus vernichtet. Der Kampf gegen die Kriegstreiber und Völkermörder wurde in einem breitest möglichen Bündnis antifaschistischer, demokratischer Kräfte über politische und soziale Grenzen hinweg geführt. In Deutschland jedoch war der Widerstand in der Minderheit, sodass die Befreiung von außen kommen musste. 10. Der Zweite Weltkrieg tobte weltweit: in Europa, Asien und Nordafrika. Der Kampf gegen die faschistische Aggression erforderte große Opfer der Linken, besonders der Kommunisten. Sie erwarben Anerkennung und Respekt. Daher gab es in Westeuropa – außer in der alten BRD und den faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland – eine kurze Phase der möglichen Linkswendung. Das Versagen der nationalen kapitalistischen Eliten und die Krisenerfahrungen der 1930er Jahre schufen eine kurzzeitige Offenheit für einen anderen, einen antikapitalistischen Weg. 11. Die Lehren des Zweiten Weltkrieges sind hochaktuell. Das Wiedererstarken imperialistischer Politik, das erneute Setzen auf Widersprüche zwischen kapitalistischen Staaten und das Ringen um hegemoniale Macht zwingen, sich auf die Erfahrungen des Miteinanderlebens von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen in Zeiten des Kalten Krieges zu stützen. Das Erstarken nationalistischer, rassistischer und religiös-fundamentalistischer Ideologien und Bewegungen als Krisenreaktion unterschiedlicher Kräfte und deren zunehmende europäische Vernetzung sind besorgniserregend und begünstigen faschistoide Bewegungen. Wir haben es mit einem bedrohlichen Verfall antifaschistischer Einsichten und demokratisch-toleranter Ansätze zu tun, die sich in den Nachkriegsjahren in Ost und West mühsam durchgesetzt haben. Dieser antifaschistische Konsens wird unter der Flagge eines vermeintlichen Antitotalitarismus aufgeweicht. 12. DIE LINKE setzt sich dafür ein, dass der 8. Mai endlich auch in der Bundesrepublik ein bundesweiter gesetzlicher Gedenk-und Feiertag wird. Praktische Erinnerung an die Befreiung und die Befreier bedeutet für uns, neben der Organisierung von und der Teilnahme an öffentlichen und offiziellen Kranzniederlegungen und Veranstaltungen auch dem Aufruf von Götz Aly in der Berliner Zeitung zu folgen, dem Aufruf, selbst den Tag der Befreiung zu feiern, wenn es die Regierenden nicht tun. Als große, öffentlich wirksame Geste des Mitgefühls, der Solidarität und der Freundlichkeit, die sich an die von Deutschland überfallenen Völker der Sowjetunion, an die Familien der Soldaten der Roten Armee richtet, sind wir aufgerufen, am 9. Mai um 11 Uhr zum Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten zu kommen und Blumen niederzulegen. Eine besondere Verantwortung haben die älteren Generationen, ihr Wissen und ihren Umgang mit der Geschichte an jüngere Generationen weiterzugeben, die nur wenig davon in der Schule erfahren. Der 8. Mai ist für uns sowohl antifaschistischer Gedenktag für Demokratie, Humanität und Toleranz als auch Tag der Mahnung vor Krieg als Mittel der Außenpolitik. Erinnern wir an den Schwur von Buchenwald: „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus!“ Anlagen 1 – 8 5 Anlage 1 Beschluss 2015/54 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus - 8. Mai soll gesetzlicher Gedenk- und Feiertag werden Erklärung des Parteivorstandes vom 28. und 29. März 2015 Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum siebzigsten Mal. Die Alliierten siegten über den deutschen Faschismus, beendeten millionenfaches Morden, das Leiden und die Verfolgung Andersdenkender, Andersglaubender, Anderslebender. Die Totalität der nationalsozialistischen Rassenpolitik und des Vernichtungskriegs machte aus gegensätzlichen ökonomischen und politischen Systemen Verbündete. Am 8. Mai 1945 endete der gemeinsame Kampf der Sowjetunion und der westlichen Alliierten gegen eine einzigartige Bedrohung grundlegender Werte des Humanismus und der Menschlichkeit, gegen Liberalität und Demokratie. Die Opfer der faschistischen, antisemitischen und rassistischen Brutalität in den Jahren der Nazi-Herrschaft sind uns heute noch Verpflichtung, gemeinsam zu handeln, aufzustehen gegen den braunen Ungeist, rechte Hetzer, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder gegen die Intoleranz neurechter Pegida-Bewegungen. Die Morde des NSU, die Naziaufmärsche und die Hakenkreuz-Schmierereien erinnern uns daran, dass der Schoß, aus dem Nazideutschland, Krieg und Zerstörung erwuchsen, noch immer fruchtbar ist. Das Erstarken rechtsextremer, rassistischer, antimuslimischer und antisemischer Kräfte in Deutschland und in Europa erfüllt uns mit Sorge. Deshalb müssen alle demokratischen und antifaschistischen Kräfte das höchste Gut Leben in Frieden und Demokratie energisch verteidigen. Dies gelingt nur, wenn die Gesellschaft zusammensteht, wenn die Politik Projekte gegen Rechts weiter unterstützt und verstärkt fördert, in Schulen qualifiziert Zusammenhänge dargestellt werden, Medien sensibel berichten und aufklären und antifaschistisches und zivilgesellschaftliches Engagement gewürdigt und nicht kriminalisiert wird. Der Tag der Befreiung ist ein Tag des Gedenkens an die Opfer rassistischer und politischer Verfolgung. Er ist ein Tag des Gedenkens an den antifaschistischen Widerstand. Als LINKE sind wir dem kommunistischen und dem sozialistischen Widerstand historisch besonders verbunden, in dessen Traditionslinie wir uns sehen. Aber wir verneigen uns ebenso mit tiefem Respekt vor allen anderen politischen Strömungen des Widerstands gegen das Hitler-Regime. Der 8. Mai 1945 markiert den Sieg über faschistische Barbarei und Krieg. Er beendete das millionenfache Morden der Nazis. Damit der 8. Mai als Tag der Befreiung von der faschistischen Barbarei, als Gedenktag für Humanität, Toleranz und Demokratie und als Tag der Erinnerung an die Opfer sowie an die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer in der gesellschaftlichen Erinnerung den Platz bekommt, der ihm gebührt, wollen wir, dass der 8. Mai ein bundesweiter gesetzlicher Gedenk- und Feiertag 13.4.2015 DIE LINKE: 8. Mai soll gesetzlicher Gedenk- und Feiertag werden wird. Schließlich er nicht irgendein Tag in der Geschichte Deutschlands. Er war die Stunde des demokratischen Neubeginns nach dem Scheitern der Weimarer Republik. Vor gerade einmal 30 Jahren sagte Richard von Weizsäcker, dass der 8. Mai für die Deutschen ein Tag der Befreiung wurde. Das Wort "wurde" ist wichtig, denn auch nach 1945 sahen viele Deutsche den 8. Mai einen Tag der "Niederlage". Ein bundesweiter gesetzlicher Gedenk- und Feiertag würde Weizsäckers Diktum in besonderer Weise unterstreichen. Wir erleben gegenwärtig allerdings auch zunehmend problematische geschichtspolitische Gesten rund um die Jahrestage des Zweiten Weltkriegs. So ist die Bundesregierung offenbar nicht Willens, diesen Tag mit 6 einer angemessenen Gedenkveranstaltung zu würdigen. Die Bundeskanzlerin hält es nicht für notwendig, am 70. Jahrestag an der Gedenkveranstaltung in Moskau teilzunehmen. Wir müssen zu Kenntnis nehmen, dass Bundespräsident Gauck bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Beginns des Zweiten Weltkriegs die Rolle und die Opfer der sowjetischen Bevölkerung nicht würdigt und stattdessen einer gegen Russland gerichteten Militarisierung der Außenpolitik das Wort redet. Dies nennen wir vor dem Hintergrund der über 30 Millionen sowjetischen Kriegsopfer geschichtsvergessen. Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist für uns daher auch stets ein Erinnern an die großen Opfer, die die Sowjetunion erbrachte, Europa vor dem faschistischen Terror zu befreien. Diese Opfer waren, was heute oft vergessen oder ignoriert wird, eine Voraussetzung für die Demokratie in Westeuropa ab 1945. Der 8. Mai ist als Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs sowohl antifaschistischer Gedenktag für Demokratie, Humanität und Toleranz als auch Tag der Mahnung vor Krieg als Mittel der Außenpolitik. "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!" so lautet der Schwur von Buchenwald. Dieser Schwur ist aktueller denn je. Für uns bedeutet die Erinnerung an den 8. Mai 1945 daher stets auch dafür einzutreten, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf. Aber wir stellen in großer Sorge fest, dass weder der Schwur von Buchenwald noch die Botschaft des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, dass Krieg nicht mehr die "ultima ratio" sondern die "ultima irratio" der Politik sei, für große Teile der politisch Verantwortlichen in Deutschland noch gilt. Für die anderen im Bundestag vertretenen Parteien ist die Kriegsführung wieder zur selbstverständlichen Option geworden. Damit werden wir uns niemals abfinden. Für uns gilt in Erinnerung an den 8. Mai 1945 weiterhin unmissverständlich: Nein zum Krieg! 7 Anlage 2 Dr. Stefan Bollinger Beitrag auf der 23. Tagung der Historischen Kommission am 7. März 2015 Geschichtspolitik und Machtpolitik um den 70. Jahrestag der Befreiung Muss der 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung feierlich begangen werden, muss eine deutsche Regierungschefin gar nach Moskau reisen, um die Siegermacht Russland zu ehren? Oder geht es eine Nummer kleiner? Denn Russland ist heute für die US-Politik, damit auch für die BRD, zu einem Störfaktor geworden, der die 1989/91 eingeleitete Neuordnung Europas und der Welt nicht mehr hinnehmen will, wie jüngst die Ukraine-Krise demonstriert. Damit stehen auch die historische Leistung der Sowjetunion im Krieg gegen den deutschen Faschismus und der Wert ihres Sieges zur Disposition. Linke werden sich dem stellen müssen, um Position in den heutigen Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden zu beziehen und sich ihrer eigenen Geschichte zu vergewissern. Geschichtspolitik als Kampffeld Denn wieder einmal wird Geschichtspolitik zum Stellvertreterschauplatz politischer Kämpfe und in ihrer spezifischen Interpretation zum Stichwortgeber politischer Grabenkämpfe. Im Kern der aktuellen Auseinandersetzung geht es um die Rolle der Sowjetunion, respektive Russlands, in den deutsch-russischen Beziehungen und genereller in den Beziehungen des westlichen Bündnisses zum als bedrohlich empfundenen, wiedererstarkten und aufmüpfig gewordenen östlichen Nachbarn. Dabei reduziert sich diese Auseinandersetzung nicht auf den Mai 2015, sie wird ihre Weiterführung im nun bundesweit neu etablierten "Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung" am 20. Juni finden und sie wird auch nicht im nächsten Jahr anlässlich des 75. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion beendet sein. Was im Streit um die Teilnahme an Festveranstaltungen seinen skurrilen, allerdings für Russland höchst verletzenden Ausdruck findet, das hat im Kontext der Ukraine-Krise längst zu einer neuen Eiszeit in den Beziehungen zwischen Berlin und Moskau geführt, allerdings einem, wenn auch wesentlichen Nebenschauplatz des Konflikts USA-Russland. Manche Sorge um eine neue Vorkriegszeit gewinnt Kontur. Mit Unglauben und Verachtung haben nicht nur linke Politiker zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Bundesregierung mit dem bevorstehenden Jahrestag der Befreiung nichts zu tun haben will. Genauer, dass diese trotz ihrer sonst so großen Begeisterung für geschichtspolitische Themen und Jubiläen keinen Handlungsbedarf sieht. Das ist umso bemerkenswerter, als sie es sich im Vorjahr nicht nehmen ließ, an den "Ausbruch" des Ersten Weltkriegs zu erinnern und durchaus wohlwollend die umfängliche geschichtspolitische und geschichtswissenschaftliche Hype um diesen Jahrestag begleitete. Dies ist auch verwunderlich angesichts der angemessenen Aufmerksamkeit, die höchste Repräsentanten dieses Staates dem 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz mit seinen letzten Überlebenden des Holocaust widmeten. Freilich betont die Bundesregierung, so auf eine entsprechende Anfrage der Fraktion der Partei Die Linke, dass sie "sich ihrer immerwährenden 8 Verantwortung bewusst (ist), an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zu erinnern und seiner Opfer zu gedenken, und (sie) fördert daher insbesondere dauerhaft Gedenkstätten, die sich der Aufarbeitung dieser Verbrechen und dem Gedenken an die Opfer widmen". Die Bundesregierung ist in der Antwort nicht bereit, einen Widerspruch zwischen der breiten Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg und den diesjährigen erinnerungspolitischen Aktivitäten zu erkennen. Vielmehr betont sie: "Aus diesem gesteigerten Interesse den Schluss zu ziehen, dass damit eine Entlastung von der Schuld Deutschlands an Angriffskriegen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schweren Kriegsverbrechen während des NS-Regimes verbunden sei, ist abwegig. Im Gedenkjahr 2015, in dem das Ende des Zweiten Weltkrieges wie auch die Befreiung der meisten Konzentrationslager sich zum 70. Mal jähren, wird die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sicherlich auch in den Medien und in der Öffentlichkeit wieder stärker in den Fokus treten." Wenn die Bundesregierung letztlich die zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteure dieses Landes in der Pflicht sieht, allerdings bei besonderer Betonung der Rolle von "fachkundigen (insbesondere bundesunmittelbaren) Einrichtungen der politischen, historischen und kulturellen Bildung ...", garantiere dies, "dass kein staatlich verordnetes Geschichtsbild, sondern ein wissenschaftlich fundiertes und gesellschaftlich verankertes Erinnerungswesen gefördert wird". Dieses Vorgehen entspricht der generellen Herangehensweise an Geschichtspolitik, vornehmlich im Sinne von Erinnerungspolitik, die deutsche Politik betreibt. Also ein scheinbar über den Dingen stehender Umgang mit Geschichte. Praktisch wird jedoch durch die Lenkung der finanziellen Mittel, durch symbolische politische Aktivitäten, aber auch einem im Mainstream verankertem Geschichtsbild selbstredend handfest Politik gemacht. Die diesjährige Zuspitzung in dieser Frage entzündete sich am Verhalten gegenüber Russland. Das Gerangel um eine mögliche Teilnahme der Bundeskanzlerin an den Gedenkfeierlichkeiten in Moskau endete vorerst mit der Teilnahmeabsage zur Militärparade auf dem Roten Platz am Tag des Sieges. Ersatzweise kündigte die Kanzlerin ihren Besuch in Moskau am Folgetage mit einer Kranzniederlegung u.a. am Grabmal des unbekannten Soldaten an. Scheinbar ist dies nur ein besonderes Problem angesichts der heutigen Politik Russlands gegenüber seinen Nachbarn und dem harten Widerstand, den die westlich dominierte Weltgemeinschaft dagegen einnimmt. Aus Moskauer Sicht stellt sich dies naturgemäß anders, als Versuch zur Abwehr einer neuen Einkreisung dar. Für den Westen ist aber klar: Ein als aggressiv eingestuftes Land könne dafür nicht belobigt und geehrt werden, dass es vor Jahrzehnten einen anderen Aggressor in die Schranken wies und vernichtete. Besonders unter dem Eindruck der Vorbehalte der osteuropäischen postkommunistischen Regime kommt hinzu, dass diese Wertschätzung auch keinem Lande gelten dürfe, das eigentlich die Befreiung von einer totalitären Diktatur nur genutzt habe, sie durch eine andere zu ersetzen. Unter diesem erweiterten Blickwinkel wird die Episode 2015 zu einem Teil genereller Neuausrichtung von Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zumindest in Europa in Bezug auf die östliche Großmacht mit der Hauptstadt Moskau und ihrem jeweiligen Einzugs- und Interessenbereich. 9 Die bundesdeutsche Entdeckung der Befreiung Hier müssen konsequent etwas größere Zeiträume bundesdeutscher Geschichtspolitik in den Blick genommen werden, die immer Teil einer generellen außenpolitischen Strategie und des kapitalistischen ordnungspolitischen Selbstverständnisses waren und sind. Allerdings mit der Besonderheit, dass nach der Herstellung der deutschen Einheit – mit ausdrücklicher sowjetischer Zustimmung, die für einen vergleichsweise geringen Preis politisch erkauft wurde, - das vereinte Deutschland wirtschaftlich, politisch, bedingt auch militärisch sich einer neuer Verantwortungsrolle in Europa und der Welt bewusst ist und sie mit seinen Mitteln entschlossen durchsetzt. Dass dies eine Führungsrolle ist, für die die Berliner Republik auf Zustimmung stößt, die sich vornehmlich mit ihrer wirtschaftlichen Stärke paart, aber konsequent neoliberal daherkommt, gehört zu den Besonderheiten der neuen Weltordnung. Bundespräsident Joachim Gauck dechiffrierte der interessierten Welt der Mächtigen auf der Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Jahr das heute offen ausgesprochene deutsche Verantwortungsgefühl – für sich und die Welt. "Nun vermuten manche in meinem Land im Begriff der 'internationalen Verantwortung' ein Codewort. Er verschleiere, worum es in Wahrheit gehe. Deutschland solle mehr zahlen, glauben die einen. Deutschland solle mehr schießen, glauben die anderen. Und die einen wie die anderen sind überzeugt, dass 'mehr Verantwortung' vor allem mehr Ärger bedeute." Für ihn trifft dies alles zu. Doch er bleibt blumig: "Lassen Sie uns also nicht die Augen verschließen, vor Bedrohungen nicht fliehen, sondern standhalten, universelle Werte weder vergessen noch verlassen oder verraten, sondern gemeinsam mit Freunden und Partnern zu ihnen stehen, sie glaubwürdig vorleben und sie verteidigen." Und die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen meldet 2015 auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise forsch: "'Is Germany ready to lead?' Meine Antwort: Ja, wir sind bereit." Wenn es denn doch etwas verklausuliert als "Führen aus der Mitte" daherkommt, was unterstellt, dass die lieben Partner gefälligst akzeptieren sollen, dass sie geführt werden wollen. Noch ist manchmal bundesdeutsche Politik zu oft zögerlich, zu abwartend. Das lässt einen kleinen Rest Hoffnung ob einer rationalen Einsicht in die Risiken einer solchen Politik. Einen sehr kleinen Rest … Nicht nur fragende Gesten der Verbündeten, zuallererst die USA, treibt deutsche Politik voran. Denn die wollen nicht nur Geld sehen, sondern auch deutsche Soldaten an den Brennpunkten der Welt. Deutsche Politiker begreifen, dass neben dem Scheckbuch militärische Präsenz zählt. Wie ideal, dass sich linksliberale publizistische Unterstützung schnell findet, wie vom einflussreichen französischen Soziologen Alain Minc, der sich und die Welt fragt "ob uns eine Bundesrepublik lieber ist, die sich aus der Geschichte weitgehend verabschiedet hat, oder, im Gegenteil, ein Deutschland, das bereit ist, eine gemäßigte Machtposition einzunehmen?" Die Frage stellen heißt sie beantworten – nur dass heute die Eliten und ihre Intellektuellen darüber sprechen, was seit Jahrzehnten bereits funktioniert. Macht- und Hegemoniefragen haben immer eine Geschichte, haben Nutznießer und Verlierer. Das trifft auf den Weltmachtanspruch des deutschen Faschismus und seine gewaltsame Zurückweisung ebenso zu wie auf die Bedingungen einer neuen Weltordnung nach dem Ende der sich auf 1945 bezogenen Nachkriegszeit und -ordnung. Das wirft aber die Frage nach genau dem Verständnis von Geschichte, von deutscher, europäischer und Weltgeschichte seit 1945 auf. Dazu gehört, dass die Mehrzahl der Bürger Deutschlands bewusst oder unbewusst dieses neue Bewusstsein der Stärke und des Neuanfangs – auch in der Geschichte, die endlich einen Schlussstrich verdiene – teilt. Denn sie profitieren bislang davon, 10 weil sie durch eine breite mediale Manipulation und Desinformation auf diesen Kurs eingeschworen werden. Selbst die linke Opposition wirkt unentschlossen ob des Behauptens ihrer friedenspolitischen Konsequenz. Noch sichert Bequemlichkeit mehr als Einsicht, dass der Ruf nach den Waffen übermäßig beliebt ist. Aber die pazifistische Grundeinstellung der Deutschen ist längst gebröckelt. Nicht nur Konservative, auch Sozialdemokraten und Grüne, vermehrt selbst Politiker der Partei Die Linke wollen weltpolitische "Verantwortung übernehmen" und nicht mehr abseits stehen. "Humanitäre Katastrophen", was und wo auch immer diese sein sollen, erforderten auch friedenserhaltende Maßnahmen, zur Not mit "robusten Mandat", also der Bereitschaft zum Krieg. Die Erfahrungen des Krieges, das Versprechen, nie wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen, die Erwartungen an die große Friedensordnung mit der noch größeren Friedensdividende nach dem Ende der Blockkonfrontation scheinen vergessen. Die Bundesrepublik spielt hier zweifellos eine Schlüsselrolle, denn es geht um das Schicksal ihres Vorgängerstaates, der 1945 in Blut und Trümmern unterging und der nach übereinstimmender Auffassung der damaligen alliierten Sieger durch Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung, auch Demontage verschwinden sollte und als friedliebender Staat im Herzen Europas wieder auferstehen sollte. Es geht um den eigenen Platz in der Geschichte, die dieses Programm verwirklicht haben und verwirklichen mussten. Wobei schon bald statt des einen zwei Staaten diese Erbschaft antreten mussten und sich unterschiedlich, lange Zeiten auch feindselig zu einander, entwickelten. Für eine radikale Linke und dann für die DDR war es leichter, die Zäsur 1945 als einen Neuanfang zu begreifen, denn sie wollten tatsächlich einen Ausbruch aus dem Kapitalismus, der den Faschismus mit seinem Terror, seiner Rassenvernichtung und seinem Versuch zur Eroberung der Weltherrschaft hervorgebracht hatte. Auch wenn diese Politik bei den einsichtigeren Teilen der herrschenden Klasse im Westen – nicht zuletzt unter dem Eindruck ihres blutigen Scheiterns – ebenfalls verworfen wurde und der antifaschistische, antidiktatorische Impetus unter dem Eindruck der alliierten Reeducation ernst genommen werden muss, es blieb ein Bruch in den Methoden der Verwirklichung kapitalistischer, imperialistischer Politik, nicht – wie im Ostblock, in der DDR erstrebt – ein Bruch mit der Kapitallogik und ihren Konsequenzen. Die Neuorientierung deutscher Politik blieb eingebunden in eine Systemauseinandersetzung, die Zuschreibungen vereinfachte, die aber auch das konkrete Verhalten der politischen Akteure vorbestimmte: Sie ging einher mit einer Auseinandersetzung um die Gesellschaftsziele, um die Unterordnung und Zuordnung zu den Blöcken und ihren führenden Supermächten – Sowjetisierung versus Amerikanisierung. Sozialismus versus Kapitalismus. Hier waren innenpolitische Frontlinien schnell zu ziehen und hier war vor allem für den Westen Deutschlands und seine neue Verbündeten klar: Antisowjetismus, Antibolschewismus sind für jene Elitenangehörigen, die nach 1945 zeitweise ausgegrenzt wurden, nun eine Eintrittskarte in bundesdeutsche Sicherheits- und Machtstrukturen. Fremde Heere Ost und SD, Organisation Gehlen und schließlich der BND konnten hier Kontinuitäten wahren, ebenso wie die gradlinige Verbindung von Wehrmacht zu Bundeswehr, die nur wenig durch eine antitotalitaristische Selbstverklärung kaschiert wurde. Die Überwindung solcher Traditionslinien dauerte in der Bundesrepublik Jahrzehnte. Nachdem alle Akteure das zeitliche gesegnet haben finden sechs, sieben Jahrzehnte nach der vertanen Chance zum radikalen Bruch mit der Nazivergangenheit Untersuchungen Platz, in denen bundesdeutsche Ministerien, Wissenschaftsorganisationen oder 11 Wirtschaftsunternehmen sich dieser braunen Vergangenheit auch nach 1945 stellen – mit allen Grenzen und allen Rechtfertigungen. Ein historisches Faktum ragt aus dieser deutschen Nachkriegsgeschichte, genauer der west-, der bundesdeutschen heraus, weil sie ein Umdenken markieren mochte. Aus heutiger Sicht ist es fast lässlich ob des großen zeitlichen Abstandes zum 8. Mai 1945 zu mäkeln. Denn die Bunderepublik brauchte im Unterschied zu ihrem ostdeutschen, DDR-Gegenentwurf 40 Jahre, um in ihrer politischen Klasse zur Kenntnis zu nehmen, dass es nicht nur um das Erinnern an eine Kapitulation, an eine Niederlage, an einen Zusammenbruch ging, sondern um eine Befreiung. Das brachte erst der konservative Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 zum Ausdruck: "Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg." Und trotz dieser Einschränkungen hob er hervor: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Es war auch für die Bundesrepublik ein schwieriger Weg, sich bis hinein in konservative Eliten diesen neuen Einsichten zu öffnen. Hatten sie sich schon schwer getan, den konservativen Widerstand des 20. Juli 1944 für eine demokratischen, antinazistische Legitimation der eigenen Armee und des Staates zu vereinnahmen, so brauchte es doch weiterer Jahrzehnte, um sich mühsam ein breiteres, positives Bild des Widerstands aller politischen Kräfte einschließlich der Kommunisten zu stellen. Das hieß auch, sich der Schuld zu stellen, die das faschistische Deutschland und seine Terrorapparate auf sich geladen hatten. Das betraf den langen Weg bis in die Mitte der 1960er Jahre zur Auseinandersetzung mit den Morden in den Konzentrationslagern und hinter den Fronten durch die Einsatzgruppen, denen insbesondere Juden unterschiedlicher Nationalität zum Opfer fielen. Der Ausschwitz-Prozess war hier die wesentliche Zäsur. Das betraf die relativ schnelle, aber durchaus schwierige Versöhnung in Richtung Frankreich, dann auch Israel, schließlich den neuen Blick auf den kommunistisch beherrschten Ostblock. Hier war es vor allem der durch die katholische Kirche beider Länder geebnete Weg, der aber einen entschiedenen Schritt seitens des polnischen Episkopats im November 1965 erforderte. Trotz der "fast hoffnungslos mit Vergangenheit belasteten Lage ... rufen wir Ihnen zu: Versuchen wir zu vergessen! Keine Polemik, kein weiterer kalter Krieg, aber der Anfang eines Dialogs ... In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung." So hieß es im "Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder". Eine vom Osten ausgehende Initiative ebnete der Weg zu verbesserten Beziehungen, die zugleich im Interesse einer beginnenden Neuen Ostpolitik der Bundesrepublik lag. Für diesen schwierigen und langwierigen Umdenkprozess – zumal in den Zeiten der Systemauseinandersetzung – waren die Wandlungen der Weltpolitik; aber ebenso die Studentenbewegung der 1960er Jahre zweifellos wichtige Eisbrecher, auch wenn unverändert die Widerstandsleistung politisch abgewogen wurde mit den vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Trotzdem war bei aller zeitlichen Verzögerung Richard von Weizsäckers Neujustieren des Geschichtsbildes bahnbrechend. Denn es schloss auch ein, sich der Befreier und Sieger zu erinnern, die ebenso ambivalent waren wie die Antihitlerkoalition. Dabei verzichtete auch der Bundespräsident nicht, die sowjetische 12 Entscheidung von 1939 zugunsten Hitlerdeutschlands und gegen Polen zu thematisieren, ebenso wenig die Folgen des sowjetischen Einmarsches in Osteuropa. Trocken konzedierte er allerdings: "Die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion. Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden." Dieser Durchbruch in der bundesdeutschen Sicht auf den Krieg und sein Ende hing allerdings nicht zuletzt mit einer Entwicklung zusammen, die mit einer veränderten weltpolitischen Situation begründet war. Eine erfolgreiche bundesdeutsche Politik in Zeiten eines neuen Kalten Krieges musste die zarten Pflänzchen einer Entspannung beachten und pflegen. Mit dem gerade begonnenen Weg der Perestroika bot sich – unabhängig von den damals noch nicht abzusehenden weitergehenden Veränderungen – eine solche Möglichkeit, die auch ein anderes Geschichtsverständnis erforderte. Der bislang ungeliebte östliche Sieger wurde ob seines Reformeifers akzeptabler. Dies ist heute ebenso Geschichte. Dreißig Jahre sind wiederum vergangen und die bipolare Welt von Jalta scheint erledigt. Die einstigen Prämissen der Blockspaltung, des notwendigen Arrangements mit den Siegermächten, auch der östlichen, werden nicht mehr gebraucht. Was interessiert noch der dank großzügiger Moskauer Politiker erfolgreiche Bittgang Kanzler Konrad Adenauers nach Moskau 1955, der nicht nur die letzten Kriegsgefangenen und Internierten in die Heimat zurückbrachte, sondern die Grundlage für gleichberechtigte diplomatische Beziehungen brachte und erstmals den Bonner Alleinvertretungsanspruch untergrub. Was interessieren die zähen, aber erfolgreichen Verhandlungen der Neuen Ostpolitik, um im Moskauer Vertrag vom August 1970 und den dadurch möglich gewordenen Verträgen mit der DDR 1971/72 so etwas wie Normalität im noch gespaltenen Nachkriegsdeutschland zu erreichen. Selbst das zu Lasten der DDR ausgegangene sowjetische Plazet für die Herstellung der deutschen Einheit zählt nunmehr wenig, ebenso wie die einstigen Versprechungen hinsichtlich einer ausgewogenen und nicht aggressiven Politik gegenüber Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wenn Deutschland wieder einen Führungsanspruch in Europa und der Welt wahrnehmen will, dann muss sie mit ihrer Geschichte fertigwerden. Demut ob der Verbrechen ist sicher ernst gemeint, aber ebenso wie in Zeiten des Kalten Krieges interessengeleitet und selektiv. Die deutsche Staaträson hinsichtlich der Anerkennung und Verteidigung des Existenzrechtes des Staates Israel ist leichter zu bekommen als eine offenherzige und großzügige Entschädigung für Zwangsarbeiter, Ghettobewohner, Kriegsgefangene oder auch die Begleichung von Zwangsanleihen. Der Streit um die Entschädigung der Zwangsarbeiter – solange hintertrieben, bis es marginale Summen für wenigen Überlebenden gab, wobei sich die deutsche Wirtshaft, einstiger Hauptnutznießer dieser perfiden Art der Ausbeutung im Geben schwerer tat als einst im Nehmen und Auspressen – bis hin zu den unwürdigen Streitereien um offene deutsche Kriegs-Rechnungen in Athen lassen die Wunden immer wieder aufbrechen. Wobei anzumerken ist, dass es weniger um das Freikaufen von Schuld als um die moralische und politische Anerkennung dieser Schuld geht. Fiktive zinseszinsverzinste Aufrechnungen helfen da wenig weiter. Leider hat hier auch die zeitliche Distanz ihren Tribut. Unbürokratische Hilfen in den wenigen noch vorhandenen Einzelfällen, gemeinsame Stiftungen und Jugendbegegnungswerke können hilfreich sein. Bedeutsamer bleibt eine konsequente geschichtspolitische Abrechnung mit der Vergangenheit. 13 Korrektur der Geschichte Die jüngsten Entwicklungen zeigen, wir sind heute hinter die Einsichten Richard von Weizsäckers zurückgefallen in der Bundesrepublik. Es ist eine sukzessive Entwicklung, die etwas mit einer wachsenden Bereitschaft zu tun hat, einen Schlussstrich unter der ungeliebten Vergangenheit zu ziehen. Hier kann nur auf einige der zentralen Punkte verwiesen werden, in denen eine Verwässerung der uneingeschränkt kritischen Stellung zu Hitlers Krieg und zum Faktum seiner Niederlage erfolgt: • Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs wird umgedeutet. Das Versagen der westlichen Appeasementpolitik tritt hinter die sowjetische Flucht in die Verträge von 1939 zurück, die allein am fatalen Zweckbündnis zur Abgrenzung von Interessensphären gemessen werden. Moskaus Vorgehen gegen Polen und das Baltikum wird berechtigt angeprangert, das Schicksal der vom Westen zuvor geopferten Spanier und Tschechoslowaken kaum beklagt. Warum auch daran erinnern, dass Hitler zum Krieg gegen die UdSSR ermuntert werden sollte. • Schon seit Jahren erfolgt unter Bezug auf die westalliierte Landung in der Normandie am "D-Day" die Aufwertung der Westfront zur vermeintlich entscheidenden Front des Zweiten Weltkriegs, eindeutig zu Lasten der anderen Fronten dieses Krieges, auch der anderen Kriegsschauplätze. Vor allem geht das aber zu Lasten der Hauptfront des Krieges – die Front gegen die Sowjetunion, an der die meisten deutschen Soldaten während des gesamten Krieges kämpften, an der die größten Verluste zu verzeichnen waren und an der vor allem Sowjetarmee und sowjetische Zivilbevölkerung in ihrer nationalen Vielfalt von Russen, Ukrainern, Juden, Kasachen, Georgiern usw. einen unermesslichen Blutzoll von wohl 27 Millionen Menschen zu zahlen hatten. • Betont werden die deutschen Opfer von dem versenkten Truppentransporter "Gustloff" bis zur Bombardierung Dresdens, nicht als zwangsläufige Folgen eines von Berlin ausgehenden verbrecherischen Krieges, sondern das subjektive Gefühl vieler Deutscher pflegend, die doch auch gelitten und verloren haben. • Als eine besondere Last werden Flucht und Zwangsaussiedlung, als Vertreibung gebrandmarkt, herausgestellt, die die Deutschen besonders betroffen hätten und sie in eine gleiche Opferrolle brächten wie vergleichbare Opfer in allen Kriegen. Deshalb wird der erstmals am 20. Juni 2015 zu begehende "Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung" faktisch zuvörderst die deutschen Opfer in den Mittelpunkt rücken - unter weitgehendem Ausblenden der historischen Ursachen. Die Auseinandersetzungen um ein "Zentrum gegen Vertreibung", das vor Jahren der Bund der Vertriebenen initiierte und das heute durch die Bundesregierung in einer breiter angelegten unselbständigen "Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung" mit gesamteuropäischer Ausrichtung umgesetzt werden soll, ist dabei ein wesentliches geschichtspolitisches Zeichen. • Berechtigt wird der in Dimension und Konsequenz einzigartige Mord an den Juden hervorgehoben. Dabei wird jedoch der Charakter des faschistischen Krieges zu einem Vernichtungskrieg gegen die Juden umgedeutet und der Holocaust zu der zentralen Erfahrung und dem Verbrechen dieses Krieges erklärt. Abgesehen davon, dass dies Ursachen und Bedingungen faschistischer Kriegstreiberei ins Irrationale verfälscht, gehen 14 die konkreten imperialistischen Gelüste auf "Lebensraum" und Unterwerfung Europa wie der Welt ebenso verloren wie die Völkervernichtungsabsichten und vor allem –praxis im Zuge der "Neuordnung" Europa und eines "Generalplanes Ost" gegen Slawen, Sinti und Roma, politisch Missliebige, gegen alle als "minderwertig" eingestuften Menschen. • Mit dem weitgehenden Ausblenden der sozialökonomischen Dimension des Weltkrieges wie auch der meisten anderen politischen Ereignissen hat in der Auseinandersetzung mit der Geschichte oft ein abstraktes Moralisieren jenseits dieser harten Fakten, aber auch jenseits einer historisierenden Einordnung von Ereignissen, Handlungsweisen und Personen Raum gegriffen. Mit Wertmaßstäben von heute wird mit Kriegspraktiken, etwa dem Partisanenkrieg und seiner möglichen Nähe zum Terrorismus umgegangen oder mit der Rekrutierung von Minderjährigen in diesem Krieg, um nur auf zwei Aspekte zu verweisen. Bezeichnenderweise entsprechen diese moralisierenden, sicher ehrenwerten, aber oft weltfremden oder diskreditierenden Herangehensweisen auch nicht den realen Praktiken heutiger Politik und Konfliktaustragung, gerade beim Engagement der westlichen Staaten- und Wertegemeinschaft. Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien stehen dafür nur stellvertretend. Wenn auch seit den die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher die Notwendigkeit eines durchsetzbaren Völkerrechts postulierten bleibt dies einseitig und wie jedes Recht auch politisch beeinflusst, wenn sich ihm nicht alle Staaten gleichermaßen unterwerfen. All dies passt in eine Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik, die sich vermeintlich von macht- und geopolitischen Zügen klassischer Politikgeschichte ebenso löst wie von sozialökonomischen Fragestellungen einer Gesellschaftsgeschichte, geschweige denn einer marxistischen Auseinandersetzung mit Geschichte. Das Vorgehen bleibt interessengeleitet, relativiert deutscher Schuld und soll jeglichen Bezug auf die sozioökonomischen Grandlagen eines Faschismus, der eine gefährliche Abart des Kapitalismus bleibt, vernebeln. Nicht umsonst gehört es zum Dauerrepertoire allen Redens über die Zeit von 1933-1945, dass vom Nationalsozialismus, nicht vom Faschismus gesprochen wird. Dabei müsste mehr Max Horkheimers Diktum gelten, dass "wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, ... auch vom Faschismus schweigen (sollte)". Dafür ist im Mainstream der Seitenhieb auf sozialistische Ideen und Politik ebenso beabsichtigt wie das Verhindern, nach Gemeinsamkeiten mit anderen diktatorischen, antidemokratischen, antilinken, nationalistischen, gelegentlich auch rassistischen Regimen zu suchen. Lieber werden das ewig Böse des Menschen, sein Irrationalismus, seine Emotionen beschworen. Nicht soziale Gruppen, Klassen hätten gehandelt, sondern einzelne Personen, die mit ihrem Verhalten oder Versagen eher wie Schlafwandler, so das treffende Wort eines Weltkriegs I-Historikers ins Verhängnis hineingeschlittert sind. Eine Großmacht in Befreiungsmission mit sozialistischer Option? Eine der komplizierten Fragen für linkes Erinnern an das Jahr 1945 ist die Stellung zur Sowjetunion. Ja, ein diktatorisch verfasstes Staats- und Gesellschaftswesen unter Josef Stalin führte diesen Krieg und drang als Befreier in das Herz Europas vor. Die Sowjetunion Stalins handelte als sozialistische Macht, aber auch als Großmacht mit eigenen machtpolitischen Interessen. Großmachtpolitik und revolutionärer Anspruch kollidierten nicht selten, auch zu Lasten der jeweiligen linken Bündnispartner – sie konnten wie im griechischen Bürgerkrieg fallen gelassen werden, wenn sie außerhalb der sowjetischen Einflusssphäre handelten. Sie 15 konnten wie die deutschen Kommunisten der SED hingehalten werden, wenn es um die Alternative eines starken, neutralen prosowjetischen Deutschlands oder um einen kleinen prosowjetischen Rumpfstaat DDR ging. Für Zeitgenossen und überzeugte Kommunisten war es schwierig, die neue Rolle des sowjetischen Staates stets zu erfassen. Um zu überleben handelte dieser Staat nach klassischen nationalen, machtpolitischen Interessen. Bündnisse ergaben sich nicht unbedingt aus weltanschaulicher und politischer Übereinstimmung sondern aus der Einsicht, dass der Feind meiner Feinde nun Verbündeter sein konnte. Konservative Partner waren hier durchaus willkommen, wie die sowjetisch-deutsche Zusammenarbeit spätestens nach dem Vertrag von Rapallo offenbarte. Wirtschaftlicher Austausch und enge militärische Zusammenarbeit ermöglicht den Paria der Nach-Versailler-Welt einen erfolgreichen Neubeginn. Solange hier gleichberechtigt gehandelt wurde überstand dieses Bündnis manche Bedrohungen und Irritationen. Erst in dem Moment, da Nazideutschland seine Weltmachtansprüche erhob und sich gegen eine widernatürliche Zusammenarbeit mit der bolschewistischen Macht wandte zerfiel dieses Bündnis. Umso problematischer und verhängnisvoller waren der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt und die Geheimprotokolle über die Abgrenzung von Einflusssphären, die unmittelbar mit Gewaltakten gegen Polen und mit dem Anschluss der baltischen Republiken umgesetzt wurden. Die Atempause war gering für Moskau, die Irritation der eigenen Genossen in der Welt groß. Erst der Überfall Hitlerdeutschlands im Juni 1941 sorgte für klare Fronten. Die Politik des Großen Terrors der 1930er Jahre hatte zudem die Sowjetunion bei Kriegsbeginn entscheidend geschwächt, die eindringenden deutschen Verbände konnten auf Sympathien unter Teilen der örtlichen Bevölkerung rechnen. Allerdings hielten die nicht lange vor, denn die deutschen Faschisten erwiesen sich als jene Mörder und Brandschatzer, die die sowjetische Propaganda berechtigt in ihnen sah. Die nicht wenigen rekrutierten und erpressten "Hilfswilligen" wurden zum Kanonenfutter der deutschen Seite und später zu jenem tödlichen Strandgut des Krieges, das in Osteuropa, auch in der Sowjetunion Banden- und Bürgerkriege praktizierte, von den sowjetischen und osteuropäischen Behörden schonungslos verfolgt wurde. Heute erinnern sich die postkommunistischen Staaten in Osteuropa an diese Helfershelfer der Faschisten, oft unmittelbar in der SS, die am Mord an ihren eigenen Landsleuten, Juden und Nichtjuden, Partei- und Staatsfunktionären, Partisanen beteiligt waren. In Osteuropa wird nicht zuletzt ausgeblendet, dass die Vorkriegsregime oft selbst nahe den faschistischen idealen errichtet waren, selbst antidemokratisch, nationalistische, antikommunistische, gelegentlich auch antisemitische Diktaturen waren. Auf der anderen Seite dieser sowjetischen Politik stand die ehrliche Überzeugung, nicht nur die faschistische Besatzung und Barbarei im eigenen Land und in den anderen von Hitlerdeutschland besetzten Staaten zu beseitigen. Die Politik zielte auch darauf, in den nun befreiten und eroberten Staaten jene sozialen Umbrüche in Gang zu bringen und erforderlichenfalls auch künstlich zu beschleunigen, die kapitalistische Verhältnisse beseitigen und sozialistische Verhältnisse bringen sollte. Dafür gab es in diesen Ländern nicht nur bei den Kommunisten und anderen Linken Sympathien, auch wenn sich schnell herausstellte, dass die sowjetischen Helfer alsbald nur ihre eigene, stalinistische Blaupause eines solcherart sich sozialistische gebenden Neubaus der Gesellschaft kannten: Allmacht der kommunistischen Partei, Überzentralisierung, Verschärfung des Klassenkampfes, strikte Unterordnung unter die sowjetischen Ziele in der Systemauseinandersetzung. Widerstand dagegen, auch versuchte Diskussion wurde rasch 16 unterbunden je mehr der Kalte Krieg sowjetisches Handeln bestimmte. Es war eine Befreiung von der faschistischen Unterdrückung und zugleich der Versuch, ein für alle Mal den Nährboden zu beseitigen, aus dem Faschismus und Kapitalismus seine Kraft zog. Es war ein Versuch, dies mit allen Mitteln zu betreiben, der neuen Widerstand erzeugte bei denen, die Demokratie und Sozialismus wollten, aber nicht mit diesen diktatorischen Mitteln. Linke Geschichtspolitik und die Befreiung Linke Geschichtspolitik muss mit nüchterner Analyse und dem Benennen der sozialen Fragen gegenhalten. Sie muss verdeutlichen, dass der 2. Weltkrieg und sein Ende die Vernichtung des deutschen Faschismus wie des japanischen Imperialismus brachte. Dieser Sieg war mit Besonderheiten verknüpft, die nicht zuletzt die Linke, auch und gerade ihren radikalen kommunistischen Flügel, die Legitimation in ihrem antikapitalistischen Anspruch gab und auch heute noch gibt. Es war ein Krieg gegen die Kriegstreiber und Völkermörder in einem breitestmöglichen Bündnis von antifaschistischen, demokratischen Kräften über alle politischen und sozialen Grenzen hinweg. Kommunisten, Linkssozialisten, Sozialdemokraten, Christen, Konservative, Adlige hatten den gleichen Feind, der sie aufs Blut bedrohte und der aufs Blut bekämpft werden musste. Der Lernprozess der einzelnen Gruppen dauerte unterschiedlich lang. In Deutschland blieb es eine Minderheit. Die Befreiung musste hier trotz großer Opfer des inneren Widerstandes von außen gebracht werden. Dieser Sieg von außen war der Sieg einer Antihitlerkoalition, die eigentlich ursprünglich verfeindete sozialistische wie kapitalistische Staaten, westliche Demokratie wie sowjetische Diktatur gegen einen Todfeind zusammenstehen ließ. Nicht vergessen werden darf, dass dieser Krieg weltweit, in Europa, Asien, Nordafrika tobte, dass in ihm zuallererst Linke, nicht zuletzt Kommunisten, einen hohen Blutzoll entrichteten. Mit ihrem Kampf und ihren Opfern erwarben sie auf Jahrzehnte im Volk, auch bei ihren sonstigen politischen Gegnern Achtung und Respekt. Allein die alte Bundesrepublik, die faschistischen Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland stellten sich dieser Wahrheit lange quer und verfolgten über Jahrzehnte Kommunisten und deren Sympathisanten. Zu den Folgen des antifaschistischen Kampfes gehört, dass in weiten Teilen Europa und Asiens dieser Kampf und die Befreiung eine kurze Phase einer möglichen Linkswendung auch außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs eröffnete. Das war auch Reaktion auf den Umstand, dass die nationalen herrschenden Klassen sehenden Auges in die Niederlage 1939/40 gelaufen waren und nicht unerhebliche Teile von ihnen mit den deutschen Besatzern kollaborierten. Dies und die Krisenerfahrungen der 1930er Jahre hatten viele Menschen überzeugt, dass es einen anderen, antikapitalistischen Weg geben müsse. Auch in den sowjetisch besetzten Gebieten zwangen keineswegs nur Moskaus Bajonette die künftige Entwicklung in Richtung sowjetischen Block. Vielmehr versuchten Kommunisten und linke Sozialdemokraten gemeinsam mit erheblichen Teilen ihrer Völker tatsächlich einen Neuanfang jenseits von Dogmen und Zwängen. Das gilt auch für die Zeit unmittelbar nach der Befreiung und des beginnenden Wiederaufbaus in allen Besatzungszonen Deutschlands. Auch hier waren lange Entscheidungen offen, abhängig vom Kalten Krieg, vom Geschick der Linken, dem Druck der Reaktion. Die Wege Finnlands oder Österreichs zeigten z.B., dass es keine Zwangläufigkeiten gab. Sowjetische Politik war immer zuerst Sicherheitspolitik und der konnte man in vielfältiger Weise gerecht werden. 17 Am nachdrücklichsten wurde im Buchenwalder Manifest linker Sozialisten ausgesprochen, was ein möglicher linker in Europa und Deutschland sein konnte. Diese Sozialisten orientierten im April 1945 auf einen "revolutionären demokratischen Sozialismus". In breiter linker Einheit waren sie überzeugt: "Deutschland kann ökonomisch nur auf sozialistischer Grundlage wiederaufgebaut werden." Deutschland müsse sich mit den französischen und polnischen Nachbarn verständigen, in den "angelsächsischen Kulturkreis" eintreten, aber zugleich seine Außenpolitik im Einvernehmen mit der Sowjetunion gestalten. Tatsächlich gab es von unten her eine kurze Phase basisdemokratischen, auf gemeinsames Handeln von Kommunisten und Sozialdemokraten, vieler Demokraten gerichteten Neubeginns. Es waren Monate und wenige Jahre, die nicht allein durch Chaos, Zerstörung, Anarchie, Rache gekennzeichnet waren, wie aktuelle Publikationen glauben machen wollen, sondern die Phase eines zu früh und zu radikal abgebrochenen demokratischen Aufbruchs mit offener, möglicherweise demokratisch-sozialistischer Perspektive. Alle vier Besatzungsmächte ebenso wie die sich wieder formierenden Parteien, auch die der Arbeiterklasse, sorgten dafür, dass so viel Spontanität schnell in geordnete Bahnen gelenkt und damit auch abgewürgt wurde. In Deutschland war das Programm der Potsdamer Konferenz der Großen Drei, respektive Vier ein Versprechen auf einen einheitlichen Staat auf dem Trümmern des Nazireiches. Allerdings markierte diese Konferenz mit der Abschluss der Aufteilung der Interessen- und Machtsphären zwischen den sich abzeichnenden Blöcken, mit der Einführung der Kernwaffen als militärischen und vor allem politisches Gestaltungsmittel durch die USA den Umschwung zu einer Nachkriegsphase, die alsbald in den Kalten Krieg einmündete. Sie brachte das Ende des demokratischen Aufbruchs, den Bürgerkrieg in Griechenland, die Ausschaltung der kommunistischen Minister in Frankreich und Italien, die Sowjetisierung der osteuropäischen Staaten, die Spaltung Deutschlands und die Unterordnung der beiden besetzten Teile Deutschlands unter die jeweiligen Supermächte. Der Sieg der Staaten der Antihitlerkoalition ermöglichte zugleich Ansätze einer neuen Weltordnung, die trotz der Einbindung in die sich abzeichnende Blockkonfrontation jahrhundertelange Unterdrückungsstrukturen aufbrach. Im antifaschistischen und antiimperialistischen Kampf gegen Deutschland, Japan und Italien gewannen nationale Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika politisches Gewicht und den Drang, sich jeglicher Unterdrückung zu entledigen. Das betraf nicht nur die Achsenmächte sondern auch die Unterwerfung seitens der vermeintlich so freien westlichen Demokratien, die als Kolonial- und Hegemonialmächte wenig zivilisierten, aber umso mehr ausbeuteten. Nationale Bewegungen hatten ebenso wie die massenhaft rekrutierten Soldaten aus diesen Ländern erfahren, was Befreiungskampf sein konnte und wollten dies nun einlösen. Das dauerte zwar nach einer ersten Unabhängigkeitswelle unmittelbar nach dem Krieg noch zwei Jahrzehnte. Aber auch dank der Präsenz eines von Moskau geführten realsozialistischen Blocks konnten diese Kräfte ihren Ausbruch aus dem bisherigen Kolonialstatus erzwingen und sich zunehmend zu einem zwar umworbenen, auch in die Ränke der beiden Blöcke hineingezogenen, aber doch eigenständigen weltpolitischen Faktor entwickeln. Die weitere Geschichte muss sich messen lassen an der Erfahrung mit dem Faschismus in all seinen Spielarten und seiner Niederwerfung. Es zeigt sich, dass antidemokratische, nationalistische, rassistische aggressive Kräfte gestoppt werden können von einer breiten politischen Front unterschiedlichster Kräfte, ja von einem Staatenbund wie die 18 Antihitlerkoalition. Es zeigte sich, dass Menschen bereit sein können, für ihre Freiheit zu kämpfen und dass Linke hier eine herausragende Rolle spielen vermögen. Die entscheidende Schlussfolgerung müsste sein, wie Gesellschaften zu organisieren sind, die mit dem faschistischen Gedankengut radikal brechen. Hier gewann nicht zuletzt die DDR ihre Legitimation als antifaschistischer Staat. Trotz vieler Kontinuitäten gerade in den Eliten und die strikte antikommunistische und antisowjetische Ausrichtung ließ auch die westdeutsche Gesellschaft und ihren Staat so demokratisch sich entwickeln, dass eine Wiederkehr des Nazitums als gesellschaftlich bestimmende Kraft verhindert werden konnte. Das Wiedererstarken imperialistischer Politik und das Neusetzen zwischenimperialistischer Widersprüche im Ringen um möglichst hegemoniale Vorherrschaft machen die Lehren dieses Krieges und des Sieges hochaktuell. Solchen Vorherrschaftsbestrebungen muss Einhalt geboten werden. Die Erfahrungen eines zwar nicht immer leichten Gegen-, aber zunehmend Miteinanderlebens von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung in Zeiten des Kalten Krieges verdienen bewahrt werden. Selbstbescheidung, politischer Widerstand und nicht zuletzt Massenbewegungen halfen, die Kriegsgefahr einzudämmen. Ebenso besorgniserregend ist das Erstarken von nationalistischen, chauvinistischen und rassistischen, religiös-fundamentalistischer Ideologien und Bewegungen als Krisenreaktion unterschiedlichster Kräfte. Das Ausgrenzen und Bedrohen andersdenkender, anderslebender, andersgläubiger, verachteter Bevölkerungsgruppen im Inneren und von außen in Gesellschaften hineinströmend begünstigen faschistoide Bewegungen. Als partielle Staatsideologien massenmedial verbreitet sind sie an die Stelle des Antikommunismus getreten und rechtfertigen eine aggressive Politik, die mit allen, auch militärischen Mittel "westliche Werte" allen Völkern aufzwingen will. Bedrohlich ist der Verfall jener antifaschistischen Einsichten und demokratischen wie toleranten Ansätze, die in den Nachkriegsjahrzehnten in Ost wie West sich mühsam durchsetzten. Der antifaschistische Grundkonsens wird in einem vermeintlichen Antitotalitarismus aufgeweicht, der genau die Kräfte diskreditiert, die bei allen Schwächen, Irrtümern und auch zu verantwortenden Verbrechen Widerstand geleistet hatten und schließlich siegten. Die heutigen Streite um das Erinnern an den Krieg und die Befreiung, insbesondere an den 8. Mai 1945 und damit an die entscheidende Rolle der Sowjetunion und ihrer Roten Armee bestimmt den Umgang mit der Geschichte, aber auch mit dem heutigen russischen Staat. Natürlich hat Egon Bahr Recht, wenn er betont: " Den 70. Jahrestag des Kriegsendes wird am 9. Mai die Welt in Moskau begehen. Wer die Seele Russlands erreichen will, wird dabei nicht fehlen dürfen." Es geht um die praktische Erinnerung an die Befreiung an die Befreier. Veranstaltungen, offizielle Kranzniederlegungen oder die von Götz Aly empfohlene individuelle Erinnerung am sowjetischen Ehrenmal in Berliner Tiergarten können ebenso dazu beitragen wie die Forderungen der Partei Die Linke nach einem Erinnerungstag zur Befreiung, die Rückbenenneng der Straße der Befreiung in Berlin oder die Forderung nach Entschädigung für sowjetische Kriegsgefangene. Entscheidender wird das Handeln gegen jede neue Aggressionspolitik, gegen jeden neuen Versuch oder genauer die Praxis einer Weltbeherrschung durch eine Macht und ihren Block sein müssen, wie dies die USA und deren europäische Verbündete einschließlich der Bundesrepublik praktizieren. Sie stoßen heute auf Widerstand von anderen Saaten, nicht zuletzt Russlands und Chinas, aber auch von anderen mittleren Mächten, die ihre eigenen imperialistischen Interessen 19 verfolge, aber vor allem die Vorherrschaft der einen Supermacht verhindern wollen. Auch Linke werden sich in diesem Streit positionieren müssen. Nicht zuletzt: Die entscheidende, wenn auch nicht alleinigen Rolle der Sowjetunion als Sieger und als Befreier 1945 zu betonen liegt im Interesse jener Linken, die sich als – wenn auch kritische und selbstkritische - Nachfolger jener radikalen Linken, jener Kommunisten und Antifaschisten verstehen, die als Teil der Antihitlerkoalition und als Verbündete der Sowjetunion im Kampf um die Befreiung und einer sozialistische Zukunft standen. 20 Anlage 3 STANDPUNKTE 08 / 2015 ROSA LUXEMBURG STIFTUNG JAN KORTE DIE VERGESSENEN OPFER: SOWJETISCHE KRIEGSGEFANGENE HÖCHSTE ZEIT FÜR IHRE ANERKENNUNG UND ENTSCHÄDIGUNG Im 70. Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es unzählige Publikationen und Veranstaltungen zum Gedenken an die Millionen Toten, die der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg gekostet hat. Wie in den Jahrzehnten zuvor spielt aber eine besonders große Opfergruppe dabei bislang kaum eine Rolle: die Opfer der Sowjetunion im Allgemeinen und die ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen im Speziellen. Das ist kein Zufall, sondern hat geschichtspolitische Gründe, vor allem den über Jahrzehnte staatlich sanktionierten und gesellschaftlich mehrheitsfähigen Antikommunismus sowie die langlebige Legende von der sauberen Wehrmacht. Es ist höchste Zeit, die Opfer der sowjetischen Kriegsgefangenen anzuerkennen und ihre letzten Überlebenden zu entschädigen. Im Zweiten Weltkrieg starben rund 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion. Ungefähr 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, von denen etwa 3,3 Millionen an Hunger, Kälte, Krankheiten, Zwangsarbeit zugrunde gingen oder durch massenhafte Erschießungen getötet wurden.1 Die Opfergruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen spielte und spielt trotzdem im offiziellen Gedenken der Bundesrepublik (wie zuvor schon in DDR und BRD) eine völlig untergeordnete Rolle. Immerhin befasst sich aktuell der Bundestag mit diesem Thema. Sowohl die Fraktion der Partei DIE LINKE. im Deutschen Bundestag als auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen haben Anträge eingebracht, die eine finanzielle Entschädigung und eine politische Anerkennung der Opfer verlangen.2 Zunächst stellt sich die Frage, warum diese Debatte erst jetzt, sieben Jahrzehnte nach Ende des Krieges, dort begonnen wird. Zwar gab es viele engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und etliche Initiativen, die dieses Thema immer wieder angesprochen haben, doch fand das Gedenken an diese «vergessene Opfergruppe» bis dato keinen Weg in die offizielle Politik (von einzelnen parlamentarischen Initiativen abgesehen). Zu verstehen ist dieses bewusste «Vergessen» nur durch Betrachten der Zeitläufte und der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der letzten 70 Jahre. SCHULDABWEHR UND TÄTERPERSPEKTIVE Blickt man auf die 1950er Jahre zurück, so kann man erahnen, auf welch organisierten Widerstand das Gedenken an die Opfer stieß. Das Gedenken an und die Würdigung des Widerstandes des 20. Juli 1944 beispielsweise hat erst der spätere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im sogenannten Remer-Prozess3 entscheidend vorangebracht. Die bis dahin allgemein in Staat, Gesellschaft und Eliten vertretene Auffassung, Stauffenberg sei ein Hochverräter, aber bestimmt kein zu ehrender Widerständler gewesen, erschütterte Bauer durch den – brillant hergeleiteten – Nachweis, dass es ein Recht und eine Pflicht auf Widerstand gegen die «Diktatur der Menschenverachtung» (Alexander und Margarete Mitscherlich) gegeben hat. Er brachte es auf die Formel: «Unrecht kennt keinen Verrat!»4 Das ist ein Beispiel dafür, dass jeder Fortschritt, jedes Gedenken, jede offizielle Würdigung von Widerstand und Opfern von engagierten Einzelpersonen mühsam erkämpft werden musste. Von selbst geschah gar nichts. In einer Gesellschaft, in der die «Unfähigkeit zu trauern»5 und die Abwehr von Schuld und Reflexion dominierten, gab es für die Opfer keinen Platz. Das noch an den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher relativ große Interesse ebbte danach merklich ab.6 Dazu trug auch die Schuldabwehr von Leuten wie Albert Speer bei, der wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden war, und die dankend in der Gesellschaft aufgenommen wurde. Die Schuld wurde zunehmend auf drei Haupttäter reduziert – Hitler, Himmler und Göring (allesamt tot) –, ansonsten war man verführt worden, hatte vom Judenmord nichts mitbekommen und eigentlich nur seine Arbeit erledigt. Eine weitere Figur der Schuldabwehr war die Stilisierung 21 der Deutschen zu den eigentlichen Opfern. Erst Opfer von Hitler, dann Opfer des Krieges und des Bombenkrieges und schließlich Opfer der Entnazifizierung. Und last but not least wollte man nichts von einer angeblichen Kollektivschuld wissen, die allerdings auch niemand behauptet hatte. In diesem Kontext spielte selbst das Gedenken an die sechs Millionen Opfer der Shoah kaum eine Rolle. Erst das bahnbrechende Werk von Raul Hilberg über die «Vernichtung der europäischen Juden» (1961),7 der (wiederum von Fritz Bauer initiierte) Frankfurter Auschwitzprozess (ab 1963), unzählige lokale Gedenkprojekte und schließlich die US-amerikanische TV-Serie «Holocaust» (1978) brachten das Gedenken und die kritische Auseinandersetzung mit dem industriell betriebenen Massenmord, dem Zivilisationsbruch Auschwitz, in die gesellschaftliche und staatliche Gedenkpolitik. Und nicht zu vergessen die große und wichtige Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, in der das erste Mal von staatsoffizieller Seite der 8. Mai als Tag der Befreiung bezeichnet wurde und ein westdeutsches Staatsoberhaupt dem «Widerstand in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, dem Widerstandes der Kommunisten» gedachte und Anerkennung zollte, wenngleich Weizsäcker damit endlich auch «nur» eine nicht länger haltbare Sicht revidierte. Noch viel später wurde auch der Widerstand des kleinen Mannes und des einfachen Soldaten gewürdigt – im Jahr 2002 wurden die Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert. Bis dahin galten sie als vorbestraft und de facto zu Recht verurteilt. Das Wesen der mörderischen NS-Wehrmachtsjustiz wurde jahrzehntelang als legitim und rechtens betrachtet, ihr Unrechtscharakter negiert. Damit reproduzierte man den Blick der Täter und schloss die Perspektive der Opfer aus. Das Credo Hans Filbingers – im Krieg Marinerichter und von 1966 bis 1978 baden-württembergischer Ministerpräsident – «Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein» dominierte über Jahrzehnte das juristische, politische und gesellschaftliche Denken und Handeln.8 Daran änderte auch nichts, dass dieses Denken durch Menschen wie Fritz Bauer, Beate und Serge Klarsfeld, Martin Niemöller oder Eugen Kogon infrage gestellt wurde; selbst die 68er-Bewegung blieb in dieser Hinsicht eine Minderheit.9 Und erst im Jahr 2009 wurden die sogenannten Kriegsverräter rehabilitiert. Diese zu Tausenden zum Tode verurteilten, meist einfachen Wehrmachtssoldaten hatten Juden geholfen, Kriegsgefangenen ein Stück Brot zugesteckt oder sich kritisch zu Verbrechen und dem Kriegsverlauf geäußert – und waren dem «gesetzlichen Unrecht» (Gustav Radbruch) der NS-Militärjustiz zum Opfer gefallen. Auch über diese Rehabilitierung musste drei Jahre im Bundestag debattiert werden. Nur aufgrund der Unterstützung von wichtigen Medien wie Spiegel, ARD und Süddeutsche Zeitung schwenkten SPD und schließlich auch CDU ein und kennzeichneten die Kriegsverratsbestimmungen als das, was sie waren: mörderisches Unrecht.10 Diese Beispiele, deren Liste sich noch erheblich verlängern ließe, zeigen, dass jeder Fortschritt im Gedenken und im Aufarbeiten von enormen Widerständen in der Gesellschaft begleitet war. Und sie lassen erahnen, warum gerade die sowjetischen Gefangenen bis heute im Gedenken nicht den Stellenwert haben, der anderen Opfern inzwischen eingeräumt wird. VERNICHTUNGSKRIEG GEGEN «JÜDISCHEN BOLSCHEWISMUS» Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde als Angriffs- und Vernichtungskrieg konzipiert und geführt, der alle bis dato geltenden Rechts- und vor allem Zivilisationsregeln suspendierte. Schon vor Beginn des Angriffes wurde in Befehlen und Weisungen klargemacht, dass jedwede Brutalität erlaubt und notwendig sei. Das thematisierte auch Jan Philipp Reemtsma 1995 bei der Eröffnung der «Wehrmachtsausstellung» in München: «Der Krieg der deutschen Wehrmacht im – pauschal gesprochen – ‹Osten› ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Kriege nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht dieses Krieges selbst. Der Terminus ‹Kriegsverbrechen› ist aus einer Ordnung entliehen, die von Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als dieser Krieg begann.»11 Der Vernichtungskrieg wurde aktiv und mit ideologischer Überzeugung von der Wehrmacht umgesetzt. Dabei gingen der in der Wehrmacht verbreitete übersteigerte Nationalismus, Antislawismus, Antisemitismus und besonders der Antikommunismus eine Verbindung ein, die alle Empathie und humane Selbstbeschränkung gegenüber dem Feind aufhob.12 Mit Unterstützung der Wehrmacht wüteten hinter der Front die Einsatzgruppen, die rund 2,5 Millionen Frauen, Kinder und Männer ermordeten. Damit bildete der Krieg gegen die Sowjetunion auch den Eintritt in die systematische, verwaltungsbürokratisch flankierte und arbeitsteilig organisierte Ermordung der Jüdinnen und Juden. Dass die Wehrmacht genauestens über das Wüten der SS-, Polizei- und SD-Einheiten informiert war, ist belegt. «Die Einsatzgruppe B, die mit der Heeresgruppe Mitte nach Osten vorgerückt war, hatte bis Mitte August 1941 17 000 Juden ermordet. Die Wehrmachtseinheiten waren, wie die erhaltenen Kriegstagebücher belegen, über diese Aktion genau im Bild und beteiligten sich vielerorts an den Massakern.»13 Der Krieg gegen Sowjetunion war ein entgrenzter Vernichtungskrieg, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hatte. 22 DIE SOWJETISCHEN OPFER Die Sowjetunion hat den höchsten Blutzoll während des Zweiten Weltkrieges entrichtet: 27 Millionen Tote, davon 14 Millionen Zivilisten. Fast jede Familie in der UdSSR hatte Opfer zu beklagen.14 In besonderer Art und Weise waren die sowjetischen Kriegsgefangenen betroffen, die die ersten Opfer der Vergasungen in Auschwitz waren. Die Schätzungen über die Anzahl der Kriegsgefangenen gehen auseinander. Man kann aber davon ausgehen, dass rund 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee in deutsche Gefangenschaft gerieten. Davon sind rund 3,3 Millionen umgekommen. 15 Den sowjetischen Gefangenen wurden alle Rechte, wie sie etwa in der Genfer Konvention festgeschrieben waren, verwehrt. Tausende wurden erschossen, die meisten starben durch Hunger, Kälte, Seuchen und Krankheiten. Die ersten Lager befanden sich entlang der Grenze zur UdSSR. Später wurden immer mehr Gefangene nach Deutschland deportiert. Die Zustände in den Lagern waren dort nicht viel besser. «Die Gefangenen gruben sich Erdhöhlen, um dort Schutz vor Kälte und Regen zu finden, und aßen Gras und Baumrinde, um ihren Hunger zu stillen.»16 Die sowjetischen Kriegsgefangenen gehören damit zu den größten Opfergruppen des Vernichtungskrieges. Die Sterblichkeitsrate lag bei rund 60 Prozent. Zum Vergleich: Bei westlichen Kriegsgefangenen lag die Todesrate bei 3,5 Prozent. An diesem Zahlenverhältnis wird deutlich, welche verbrecherische und dehumanisierte Ideologie und Kriegsführung beim Angriff auf die UdSSR dominierte. WARUM DIE SOWJETISCHEN KRIEGSGEFANGENEN «VERGESSEN» WURDEN Gedenken, Entschädigung und Rehabilitierung von NS-Opfern mussten, wie gezeigt, stets gesellschaftlich erkämpft werden. Dass dies hinsichtlich der sowjetischen Kriegsgefangenen immer noch nicht gelungen ist, liegt auch an einigen bis heute wirkmächtigen Komponenten einer reaktionären Geschichtspolitik. Erstens: Der quasi zur Staatsreligion erhobene Antikommunismus prägte die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik. 17 Der Antikommunismus legitimierte die massenhafte Rückkehr der alten Eliten aus Staat, Wirtschaft, Justiz und Militär, sprach die Wehrmacht de facto von jeder Schuld und Verantwortung frei und erlaubte der Gesellschaft, sich nicht mit der eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus auseinandersetzen zu müssen. In einem Klima, in dem der Kommunismus/Sozialismus für schlimmer als der Nationalsozialismus angesehen wurde, konnte der Krieg gegen die Sowjetunion noch nachträglich fast als ein legitimer Krieg erscheinen. «Der kalte Krieg und die Staatsdoktrin des Antikommunismus taten ein Übriges, den Verbrechen der Wehrmacht in Polen, in der Sowjetunion und in Jugoslawien im Nachhinein sogar den Anschein von Berechtigung zu verleihen.»18 Vor diesem Hintergrund spielten die Opfer des NS-Terrors insgesamt kaum eine Rolle, erst recht nicht das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, das überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde. Zweitens: Einen wirklichen Durchbruch brachte erst die Wehrmachtsausstellung 1995. Mit ihr wurde erstmals öffentlichkeitswirksam an die Verbrechen und die tragende Rolle der Wehrmacht innerhalb des NS-Regimes erinnert und wurde der verbrecherische Charakter des Krieges gegen die Sowjetunion, gegen Polen und gegen Jugoslawien für breitere Teile der Bevölkerung deutlich. Bis dahin hatte die Lüge von der irgendwie sauber gebliebenen Wehrmacht den geschichtspolitischen Diskurs beherrscht, der eben von jenen geprägt worden war, die willfährige und überzeugte Anhänger Hitlers gewesen waren. Ähnlich wie die «feinen Herren» im Auswärtigen Amt versicherten auch die Führungsfiguren der Wehrmacht, sie und ihre untergebenen Offiziere und Soldaten hätten nur ihre Arbeit und Pflicht getan; mit den Verbrechen des Nationalsozialismus hätten sie gar nichts zu schaffen gehabt. Die Schuldigen waren für sie – analog zu der Haupttäterthese (Hitler, Himmler, Göring) – die SS und die Einsatzgruppen. Diesen Eindruck vermittelten auch die Memoiren der Offiziere und unzählige Landserhefte, die vieles waren, nur nicht reflexiv und kritisch. Was blieb, war das Bild des heroischen Kampfes, auch und gerade gegen die Sowjetunion. Drittens: Dass es so wenig Aufmerksamkeit für das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gab, hat auch etwas mit dem Umgang der Sowjetunion selbst mit diesem Thema zu tun. Unter Stalin galten die Kriegsgefangenen als Verräter und waren teilweise nach ihrer Rückkehr weiteren Repressalien ausgesetzt. Sie kamen in dem offiziellen Gedenken an die Kriegsopfer nicht vor, wurden also auch auf sowjetischer Seite «vergessen». Erst 1995 wurde diese Gruppe endgültig und offiziell rehabilitiert. Zusammenfassend und viertens: Die gegenwärtige Debatte, die die Oppositionsfraktionen im Bundestag angestoßen haben, wird durch die Perspektive der Totalitarismustheorie und wegen aktueller außenpolitischer Auseinandersetzungen mit Russland behindert. Namentlich die Unionsfraktion mauert in bemerkenswerter Weise. Zwar erkannte Erika Steinbach als Rednerin der Union das opferreiche Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen an, hob aber in ihrer Rede völlig unverhältnismäßig die Behandlung der überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion hervor. Diese und nicht die Nachfolger der Täter hätten eine Entschädigung zu zahlen: «Was aber bis heute überfällig ist, ist eine Entschädigung der ehemaligen Kriegsgefangenen der Sowjetunion durch das eigene Land selber. Sie wurden stigmatisiert, sie wurden entrechtet, sie wurden umgebracht, in Lager 23 verschleppt. Russland hätte, anstatt die Ukraine zu überfallen, lieber seine noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen entschädigen sollen. Das wäre eine humane Geste gewesen, meine Damen und Herren.»19 An der Position Steinbachs kann man all die Widerstände erahnen, die es noch heute gegen ein angemessenes Gedenken an die sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg gibt. Theoretisch ist dafür im Parlament eine Mehrheit vorhanden, da die Fraktionen von SPD, LINKE und Grünen dieses Anliegen teilen. Doch scheint es – wie bei der Rehabilitierung der angeblichen «Kriegsverräter» – nötig, Bündnispartner auch jenseits des Parlamentes zu gewinnen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen: in der Wissenschaft, in den Opferverbänden, in den kritischen Medien. Die «vergessenen» Opfer, die noch rund 2.000 lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen, verdienen endlich Anerkennung für ihr Leiden und eine Entschädigung. Ihnen läuft die Zeit davon. Deutschlands Politik sollte sich beeilen. Jan Korte, Jahrgang 1977, Politikwissenschaftler M. A., seit 2005 Mitglied des Bundestages, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 1 Vgl. Otto, Reinhard/Keller, Rolf/Nagel, Jens: Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945: Zahlen und Dimensionen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 56 (2008), S. 557–602; Boebel, Chaja/Heidenreich, Frank/Wentzel, Lothar (Hrsg.): Vernichtungskrieg im Osten und die sowjetischen Kriegsgefangenen. Verbrechen, Verleugnung, Erinnerung, Hamburg 2009. 2 Vgl. Antrag der Fraktion DIE LINKE «Finanzielle Anerkennung von NS-Unrecht für sowjetische Kriegsgefangene», Bundestagsdrucksache 18/3316. Fast gleichlautend, lediglich in der Höhe der Entschädigung abweichend, der Antrag der Grünen; vgl. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen «Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und Gewährung eines symbolischen finanziellen Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe», Bundestagsdrucksache 18/2694. Diesen Antrag brachten Bündnis 90/Die Grünen wortgleich bereits in der letzten Wahlperiode am 4. Juni 2013 gemeinsam mit der SPD ins Parlament ein (Bundestagsdrucksache 17/13710). 3 Der Remer-Prozess fand im März 1952 vor der Dritten Großen Strafkammer des Braunschweiger Landgerichts gegen den ehemaligen Generalmajor der Wehrmacht und späteren Mitbegründer der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei Otto Ernst Remer wegen übler Nachrede und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener statt und endete mit der posthumen Rehabilitation der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. 4 Vgl. hierzu zuletzt Steinke, Ronen: Fritz Bauer: oder Auschwitz vor Gericht, München 2013; noch umfassender über Leben und Wirken Bauers: Wojak, Irmtrud: Fritz Bauer 1903–1968, München 2009. 5 So der Titel der 1967 erschienenen exzellenten Studie von Alexander und Margarete Mitscherlich. 6 Zum Gesamtkomplex des Umgangs mit der NS-Vergangenheit vgl. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999; polemischer, aber genauso treffend: Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder von der Last, Deutscher zu sein, Berlin 1990; einen sehr guten Überblick bietet Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Politik und Justiz, München 2007; zur Frage des Denkens und der Rückkehr der alten Eliten in den Justizapparat vgl. Perels, Joachim: Das juristische Erbe des «Dritten Reiches». Beschädigungen der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt a. M./New York 1999. 7 Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1999. 8 Zu Filbinger und den Verbrechen der Wehrmachtsjustiz insgesamt vgl. Kalmbach, Peter: Wehrmachtjustiz, Berlin 2012. 9 Vgl. hierzu z. B. Perels, Joachim: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004. 10 Zur Debatte um die Rehabilitierung der «Kriegsverräter» vgl. Korte, Jan/Heilig, Dominic: Kriegsverrat. Vergangenheitspolitik in Deutschland. Analysen, Kommentare und Dokumente einer Debatte, Berlin 2011. 11 Bilanz einer Ausstellung. Dokumentation der Kontroverse um die Ausstellung «Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944», hrsg. von der Landeshauptstadt München, München 1998, S. 34. 12 Vgl. hierzu insgesamt Wette, Wolfram: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg und Legenden, Frankfurt a. M. 2002. 13 Heer, Hannes/Naumann, Klaus: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 61. 14 Vgl. Quinkert, Babette/Morré, Jörg (Hrsg.): Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944, Paderborn 2014. 15 Vgl. Boebel/Heidenreich/Wentzel: Vernichtungskrieg, S. 7. Über die genaue Zahl der von der Wehrmacht gefangen genommenen Rotarmisten besteht in der Forschung keine Einigkeit. Seriös begründete Zahlen schwanken zwischen 5,7 Millionen (Christian Streit) und 4,5 Millionen (G. F. Krivosheev), vgl. hierzu Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978 sowie Krivosheev, Grigoriy F. (Hrsg.): Soviet Casualties and Combat Losses in the Twentieth Century, London 1997. Streit kommt auf die Zahl von 3,3 Millionen Toten, bei Krivosheev beträgt sie 2,5 Millionen. Die Differenz wird dadurch erklärlich, dass die Wehrmacht alle Männer im wehrfähigen Alter im Operationsgebiet und auch Zivilisten in Uniform und Krankenhauspersonal als Kriegsgefangene registrierte, worauf sich Streit bezieht. Er geht also bei seinen Zahlenangaben, die inzwischen auch von Otto et al. (Otto, Reinhard/Keller, Rolf/Nagel, Jens: Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945: Zahlen und Dimensionen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 56 (2008), S. 557–602) bestätigt wurden, von der Gesamtzahl der in deutschen Wehrmachtslagern gefangen gehaltenen Personen aus. Demgegenüber zählt die russische Forschung nur diejenigen, die dort tatsächlich Angehörige der Roten Armee waren. Entsprechend ändert sich damit auch die Zahl der Toten (58 bzw. 55 % Tote in deutschem Gewahrsam). 16 Jeske, Natalja: Lager in Neubrandenburg-Fünfeichen 1939–1948. Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht, Repatriierungslager, Sowjetisches Speziallager, Schwerin 2013, S. 23. 17 Vgl. Korte, Jan: Instrument Antikommunismus. Sonderfall Bundesrepublik, Berlin 2009. 18 Heer, Hannes: Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Massenmord nach Plan, in: Boebel/Heidenreich/Wentzel (Hrsg.): Vernichtungskrieg, S. 55. 19 Rede Erika Steinbach, Bundestagsplenarprotokoll, 18. Wahlperiode, 5.2.2015, S. 8113. 24 Anlage 4 23. April 2010 Den 8. Mai 1945 als Befreiung begreifen Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN zum 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 unterzeichneten in Berlin-Karlshorst Vertreter des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht sowie die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine vor den Vertretern der Streitkräfte der AntiHitlerKoalition die offizielle Urkunde über die bedingungslose Kapitulation. Zuvor war bereits am 7. Mai in Reims die Kapitulation erklärt und unterzeichnet worden. Der Versuch, die Alliierten auseinander zu dividieren und eine separate Vereinbarung nur mit dem Hauptquartier der vereinten amerikanischen, britischen, kanadischen und französischen Streitkräfte auszuhandeln, scheiterte aber. Auch die sowjetische Seite hatte sich bei der Einnahme Berlins einseitigen Abmachungen verweigert. Gemeinsam hatten die Armeen und Verbände der Alliierten den Aggressor auf seinem eigenen Boden niedergerungen. Gemeinsam nahmen sie auch die bedingungslose Kapitulation entgegen. Die Völker Europas konnten aufatmen. Für sie war ein Krieg zu Ende, dessen Ausmaße, Zerstörungen und Opfer alles bis dahin Gekannte übertraf. In das kollektive Bewusstsein gingen diese Tage deshalb nicht allein als das Ende des Krieges, sondern vor allem als Tage des Sieges und der Befreiung ein. Der Sieg über den deutschen Faschismus und die Befreiung Europas bleibt eine Leistung aller Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition. Nur in einer gemeinsamen Anstrengung konnte die menschliche Zivilisation vor einem Terrorregime gerettet werden, das vor keinem Verbrechen zurückschreckte. Die Bedrohung führte Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und Menschen unterschiedlichster Weltanschauung und politischer Orientierung zusammen. Die Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschland trug die Sowjetunion. Die langerwartete zweite Front im Westen verkürzte die Endphase des Krieges erheblich. Das "Volk der Dichter und Denker" hatte sich selbst als "Volk der Mörder und Henker" diskreditiert. "Nie wieder Faschismus und Krieg", lautete deshalb die Botschaft, die sich 1945 aus bitterer Erfahrung ergab und die auch in Deutschland Widerhall fand. Das schloss die Frage nach Verantwortung und Schuld ein. Während für die Frauen und Männer, die aus Zuchthäusern, Konzentrationslagern und aus der Emigration zurückkehrten, der Mai 1945 als Befreiung und Chance nie in Frage stand, sprachen traditionelle Eliten von Zusammenbruch. Bis heute halten die Versuche an, die Bedeutung dieser Tage unter Verweis auf deutsche Opfer zu relativieren. Gewiss zählen auch viele Deutsche – wenn auch nicht generell ohne Schuld – zu den Opfern des Regimes und des Krieges, dem sie zuvor zugejubelt hatten. Doch gilt für alle Überlebenden: Sie waren befreit von den Schrecken des Krieges. Sie waren befreit von der Rolle, die sie als Gefolgschaft eines mörderischen Regimes gespielt hatten. Sie waren befreit von der Möglichkeit einer schandbaren Perspektive als Sklavenhalter Europas. Die Aufforderung, den 8. Mai 1945 ungeachtet widersprüchlicher Erfahrungen auch als Tag der Befreiung zu begreifen und 1945 nicht von 1933 zu trennen, die Richard von Weizsäcker vor 25 25 Jahren als Bundespräsident an die Gesellschaft der Bundesrepublik richtete, bleibt ein Maßstab für die demokratische Erinnerungskultur. Die vorliegende Erklärung wurde von Jürgen Hofmann erarbeitet und vom Sprecherrat am 23. April 2010 verabschiedet. Quelle: http://www.dielinke. de/partei/weiterestrukturen/berufenegremien/historischekommission/ erklaerungenundstellungnahmen/den8mai1945alsbefreiungbegreifen/ 26 Anlage 5 05. APRIL 2005 8. Mai 1945 Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus Als in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst Vertreter des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht vor den Vertretern der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition die offizielle Urkunde über die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatten, atmeten die Völker Europas auf. Für sie war ein Krieg zu Ende, dessen Ausmaße, Zerstörungen und Opfer alles bis dahin Gekannte übertraf. Mit dem Großdeutschen Reich war ein verbrecherisches System niedergerungen, dessen Weltherrschaftspläne und Herrschaftspraxis sowie Rassenwahn die menschliche Zivilisation generell in Frage gestellt hatten. In das kollektive Bewusstsein der Völker Europas gingen diese Tage deshalb nicht allein als das Ende des Krieges, sondern vor allem als Tage des Sieges und der Befreiung ein. Der Sieg der Alliierten beendete den Zweiten Weltkrieg in Europa. Während hier die Waffen schwiegen, hielten die verlustreichen Kämpfe zwischen Japan und den USA sowie deren Verbündeten im asiatisch-pazifischen Raum an. Der auf Wunsch der USA erfolgte Eintritt der Sowjetunion in die Kampfhandlungen veränderte die Situation. Mit drei Fronten zwang diese in wenigen Tagen die Kwangtung-Armee auf dem chinesischen Festland zur Aufgabe. Mit der bedingungslosen Kapitulation Japans am 2. September 1945 wurde das Ende des Weltkrieges besiegelt. Die Bilanz des Zweiten Weltkrieges bleibt auch nach sechzig Jahren eine Bilanz des Schreckens, die das menschliche Vorstellungsvermögen überfordert. Nach neueren Berechnungen starben mehr als 60 Millionen Menschen bei Kampfhandlungen, durch Repressalien, Massenvernichtungsaktionen und Kriegseinwirkungen. Von den 18 Millionen Menschen, die das NS-Regime in Konzentrationslager verbrachte, wurden elf Millionen ermordet oder durch Arbeit vernichtet. Unfassbar der industrielle Massenmord an sechs Millionen europäischer Juden, die wie auch Sinti und Roma dem Rassengenozid zum Opfer fielen. In Deutschland mussten fast acht Millionen und in Japan über zwei Millionen Menschen aus den eroberten Ländern Zwangsarbeit leisten. Mit über 27 Millionen Menschen hatte die Sowjetunion die mit Abstand größten Verluste zu beklagen. China zahlte mit 15 Millionen, Polen mit sechs Millionen, Jugoslawien mit 1,7 Millionen, Frankreich mit etwa 800.000, die USA und Großbritannien mit jeweils 400.000 und Italien mit 300.000 Toten ebenfalls einen hohen Blutzoll. Das "Dritte Reich" verheizte für größenwahnsinnige Weltherrschaftspläne allein an den Fronten über sechs Millionen deutscher Staatsbürger. Die unermesslichen materiellen Schäden, die Zerstörungen der Natur und deren Langzeitfolgen entziehen sich exakten Berechnungen. Seit Monaten werden die Landung in der Normandie und das Vorrücken der alliierten Streitkräfte im Westen als die kriegsentscheidenden Ereignisse für die Befreiung Europas gewürdigt. Dem Vormarsch der Roten Armee im Osten hingegen wird diese Qualität nicht zugebilligt. Dort habe sich die Befreiung erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des sozialistischen Staatensystems am Ende des Jahrhunderts vollendet. Der Verweis auf das stalinistische System hebt aber die Leistung, die die Sowjetunion für die Befreiung der Völker Europas und Asiens erbrachte, nicht auf. Die politischen und gesellschaftlichen Gegensätze unter den Teilnehmern der Anti-Hitler-Koalition waren angesichts der Bedrohung durch den Faschismus in Europa und Asien von untergeordneter Bedeutung. Erst die gemeinsame Abwehr der 27 existenziellen Gefahr setzte die Völker wieder in die Lage, um zivilisatorische Perspektiven zu konkurrieren. Der Sieg über den deutschen Faschismus und die Befreiung Europas bleiben eine Leistung aller Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition. Nur in einer gemeinsamen Anstrengung konnte die menschliche Zivilisation vor einem Terrorregime gerettet werden, das vor keinem Verbrechen zurückschreckte. Die Bedrohung führte Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und Menschen unterschiedlichster Weltanschauung und politischer Orientierung zusammen. Die Lieferungen von Waren, Waffen und Ausrüstungen halfen der Sowjetunion, dem Druck des hochgerüsteten Aggressors standzuhalten. Die lang erwartete zweite Front verkürzte die letzte Phase des Krieges in Europa erheblich. An der Seite der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition kämpften Partisanen und Widerstandskämpfer in allen okkupierten Gebieten für die Freiheit ihrer Heimatländer. An der abschließenden Berliner Operation nahmen auch polnische Soldaten teil. Mit dem Überfall auf ihre Heimat hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Deutsche Antifaschisten reihten sich ebenfalls in die Armeen der Anti-Hitler-Koalition und in die Partisanen und Widerstandsgruppen ein. Nicht vergessen werden dürfen die mutigen Frauen und Männer, die aus den unterschiedlichsten Motiven unter ständiger Lebensgefahr im Deutschen Reich Widerstand gegen das NS-Regime leisteten. Diese verschwindende Minderheit verkörperte die Hoffnungen auf ein anderes Deutschland. Die Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschland trug die Sowjetunion. Sie hatte den entscheidenden Anteil am Sieg. Die Ostfront war die Hauptfront des Zweiten Weltkrieges. Das wurde von den westlichen Verbündeten der UdSSR unter dem Eindruck der Ereignisse auch wiederholt gewürdigt. Insgesamt 1.418 Tage und Nächte währten die militärischen Auseinandersetzungen mit dem deutschen Aggressor. Lange bevor endlich die zweite Front eröffnet wurde, hatten sowjetische Soldaten den Feind vor Moskau gestoppt, in Stalingrad und im Kursker Bogen die Wende des Krieges erzwungen. Die sowjetischen Streitkräfte zerschlugen 607 deutsche sowie mit Deutschland verbündete Divisionen. Drei Viertel seiner Kriegsverluste erlitt das Dritte Reich an der Ostfront. Der Preis für diese Leistung war hoch. Über elf Millionen sowjetische Soldaten ließen dafür an der Front ihr Leben. Mehr als 13 Millionen Zivilpersonen wurden getötet oder starben unter den unmittelbaren Kriegseinwirkungen. Belorussland verlor ein Viertel seiner Einwohner. In Städten wie Leningrad, Smolensk oder Pskow überlebten ein Drittel der Einwohner die Kampfhandlungen nicht. Der deutsche Aggressor hinterließ eine Spur der Verwüstung: 1.710 Städte und 70.000 Dörfer, 31.800 Industriebetriebe, 13.000 Brücken und 65.000 Kilometer Eisenbahnnetz zerstört, gesprengt oder niedergebrannt. Diese Bilder hatten sowjetische Soldaten vor Augen, als sie die Grenze des Großdeutschen Reiches überschritten. Der Krieg war im April 1945 an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. In Berlin waren mit der "Machtergreifung" im Januar 1933 die Weichen für die "Neuordnung Europas" gestellt worden. Von hier aus wollte sich ein "Tausendjähriges Reich" über die versklavten Völker erheben. Dem Terror nach innen folgte der Terror nach außen. Die Revision des Versailler Vertrages war das Vorspiel zur Eroberung von "Lebensraum" und Rohstoffquellen, die den planmäßigen Völkermord einschloss. In Berlin befanden sich die Kommandozentralen des verbrecherischen NS-Regimes. Hier fielen die Entscheidungen für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, für den " Fall Barbarossa" und den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sowie zur "Endlösung der Judenfrage". Das "Volk der Dichter und Denker" hatte sich selbst als "Volk der Mörder und Henker" diskreditiert. "Nie wieder Faschismus und Krieg", lautete deshalb die Botschaft, die sich 1945 aus bitterer Erfahrung ergab und die auch in Deutschland breiten Widerhall fand. Das schloss die Frage nach Verantwortung und 28 Schuld, insbesondere nach den Verantwortlichen und den Profiteuren des Krieges und des NS-Systems ein. Deshalb richteten sich die Blicke auf jene Kreise aus Industrie und Grundbesitz, die den Machtantritt der Nazis zumindest wohlwollend geduldet, wenn nicht gefördert, jedenfalls aber von deren Eroberungs- und Vernichtungspolitik profitiert hatten. Diese antikapitalistische Stoßrichtung des Antifaschismus war in den Erfahrungen seit den beginnenden dreißiger Jahren begründet. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verständigten sich in Potsdam im Sommer 1945 auf die "Vernichtung der bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft, dargestellt durch Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Monopolvereinigungen". Neben den Naziführern saßen auf der Anklagebank in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen auch Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft und Staatsbeamte. Die Sanktionen der Siegermächte sollten sicherstellen, dass von deutschem Boden nie wieder eine Gefahr für Europa und die Welt ausgehen kann. Diese Verpflichtung darf nicht in Vergessenheit geraten. Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges hatte die Welt verändert. Die Sowjetunion war trotz ihrer enormen menschlichen und materiellen Verluste gestärkt an Ansehen, Einfluss und militärpolitischer Kraft aus dieser Auseinandersetzung hervorgegangen und eine von allen zu respektierende Größe der Weltpolitik geworden. In Asien erstarkten die antikolonialen Befreiungsbewegungen und setzten erste Zeichen für den sich anbahnenden weltweiten Zusammenbruch des Kolonialsystems. In Europa hatte sich die Arbeiterbewegung mit ihrem überragenden Anteil am antifaschistischen Widerstand Einfluss auf die Gestaltung der Nachkriegsordnung verschafft. Gewerkschaften und Parteien strebten nach stärkerer Zusammenarbeit bisher getrennter Flügel, um politische Gefahrensituationen künftig besser abwenden zu können. Der Ruf nach Einheit war in ganz Europa verbreitet. Internationale Organisationen und Zusammenschlüsse entstanden. Ein herausragendes Erbe der Anti-Hitler-Koalition ist die Organisation der Vereinten Nationen, deren Charta im Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet wurde. Angesichts der dramatischen Erfahrungen verbot sich eine einfache Rückkehr zur Vorkriegsordnung. Die Forderung nach gesellschaftlichen Veränderungen und die Chance ihrer Verwirklichung ergab sich zwangsläufig aus dem Fazit der ersten Jahrhunderthälfte. Sie hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern auf der Tagesordnung gestanden. Es bedurfte nicht des Diktats einer Besatzungsmacht, um diese Fragen auf die Agenda zu setzen. In Westeuropa und Westdeutschland wurde mit der Stärkung der parlamentarischen Demokratie und mit dem Modell der sozialen Marktwirtschaft ein von den Westmächten vorgegebener Weg eingeschlagen. Großen Teilen der alten Eliten eröffneten sich bald neue Karrieren. In Osteuropa und Ostdeutschland wurden dagegen schon in der antifaschistisch-demokratischen Übergangsphase grundlegende gesellschaftliche Veränderungen eingeleitet. Mit der späteren Übernahme des stalinistischen Gesellschaftsmodells wurden jedoch die Chancen vergeben, die diesem Weg innewohnten. Während für die Frauen und Männer, die aus Zuchthäusern, Konzentrationslagern und aus der Emigration zurückkehrten, der Mai 1945 als Befreiung und Chance nie in Frage stand, sprachen traditionelle Eliten, die die Aufbaujahre der Bundesrepublik maßgeblich beeinflussten, von Zusammenbruch oder Kriegsende und beschworen die Fortexistenz des Deutschen Reiches. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde der 8. Mai 1945 bereits kurz nach ihrer Gründung als Tag der Befreiung zum staatlichen Feiertag erhoben. In der Bundesrepublik Deutschland stieß noch 1985 die Aufforderung des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, den 8. Mai 1945 ungeachtet widersprüchlicher Erfahrungen auch als Tag der Befreiung zu begreifen, weithin auf Unverständnis. Bis heute halten die Versuche an, die Bedeutung dieses Tages unter Verweis auf deutsche Opfer zu relativieren. Das in Filmen und Erzählungen der fünfziger Jahre im Westen kultivierte Muster, das eine "anständige" Mehrheit der Deutschen und eine "unbescholtene" Wehrmacht von den Verbrechen des NS-Regimes und seiner Spitzenfunktionäre abhob, wurde nur zu gern angenommen und verfehlte seine 29 Wirkung nicht. Gefolgschaftstreue zu Hitler, massenhafte Loyalität im NS-Regime, Mitverantwortung und Verstrickung in die Verbrechen des Faschismus konnten so weitgehend verdrängt werden. Erst die Achtundsechziger stellten diesen Mythos in Frage. In Ostdeutschland besaßen die Antifaschisten genug Autorität, um viele Menschen zum Umdenken zu bewegen. Die Aufforderung, die antifaschistische Position einer Minderheit als gesellschaftlichen Grundkonsens zu übernehmen und sich bei den "Siegern der Geschichte" einzureihen, förderte einerseits die Integration, ermöglichte aber andererseits ebenfalls Verdrängung. Die einseitige Ausrichtung sowie ritualisierte Formen des Gedenkens an Nazi-Verbrechen und Widerstand lassen sich zwar bemängeln, nicht aber, dass die Verantwortung der im Deutschen Reich wirtschaftlich, politisch und militärisch maßgebenden Kreise und Personen angeprangert und daraus Konsequenzen gezogen wurden. Gewiss zählen auch viele Deutsche wenn auch nicht generell ohne Schuld zu den Opfern des Regimes und des Krieges, dem sie zuvor zugejubelt hatten. Doch gilt für alle Überlebenden: Sie waren befreit von den Schrecken des Krieges. Sie konnten aufatmen. Sie waren befreit von der Rolle, die sie als Gefolgschaft eines mörderischen Regimes gespielt hatten. Sie waren befreit von der Möglichkeit einer schandbaren Perspektive als Sklavenhalter Europas. Obwohl es vorerst nicht selbstbestimmt handeln durfte: Nach dem 8. Mai 1945 hatte das deutsche Volk wieder eine Zukunft. Die vorliegende Erklärung wurde von Jürgen Hofmann erarbeitet, von der Historischen Kommission am 19. März 2005 beraten und vom Sprecherrat am 5. April 2005 verabschiedet. 30 Anlage 6 Nichts darf vergessen werden! Niemand darf vergessen werden! Diskussionsbeitrag auf der Konferenz: „Der Krieg 1941 - 1945 im Gedächtnis der Generationen. Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart. Europa ohne Kriege?“ Moskau, 22. Juni 2001. von Michael Brie Diskussionsbeitrag auf der Konferenz: „Der Krieg 1941 - 1945 im Gedächtnis der Generationen. Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart. Europa ohne Kriege?“ Moskau, 22. Juni 2001 In meiner kleinen Gemeinde Schöneiche am Rande Berlins steht ein Obelisk auf einem roten Ziegelsockel. Er steht am Waldrand, zwei schmale Straßen führen vorbei. Man kann die Amseln hören, wenn man dort steht. Die Inschrift auf dem Obelisken heißt: „Ewiger Ruhm jenen, die im Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit der sowjetischen Heimat gefallen sind“. Es werden 123 Namen von toten sowjetischen Offizieren und Soldaten genannt, darunter der des Hauptmanns Inin und des Unteroffiziers Aljoschin. Auch die Zivilistin Semjonkina gehört dazu. Weitere unbekannte Männer und Frauen sind hier begraben. Die meisten fielen zwischen dem 20. und 23. April 1945. Andere starben erst, nachdem der Krieg schon ein, zwei, drei Wochen vorbei war. Es soll ein wunderschöner Frühling gewesen sein. Sie aber mussten sterben, nachdem der Hitlerfaschismus durch sie bereits besiegt war, nachdem sie die unendlich lange Strecke, geprägt von Kampf, Tod, Niederlagen, ersten Siegen und vielen neuen Toten zwischen Brest und Moskau, Moskau und wieder Brest, von Warschau bis Berlin zurückgelegt hatten. Es gibt viele solche Friedhöfe zwischen Moskau und Berlin. Deshalb sollte es dabei bleiben: „Nichts ist vergessen. Niemand ist vergessen.“ Ich bin dankbar, heute hier sein zu können. Es ist ein Tag, an dem es wichtig ist, hier in Moskau zu sein. Ich danke der Gesellschaft Russland – Deutschland, die uns eingeladen hat, ich danke der Friedrich-Ebert-Stiftung, die diese Konferenz unterstützt hat, vor allem aber danke ich jenen der hier Anwesenden, die als junge Frauen und Männer Hitler und den mörderischen Armeen Deutschlands Einhalt geboten, sie zum Stehen gebracht und den deutschen Nationalsozialismus in seinem Ursprungsland endgültig besiegt haben. Ich verneige mich vor ihnen und vor allen, die damals mit ihnen waren. Der Krieg gegen die Sowjetunion, der am frühen Morgen des 22. Juni 1941 begann, war ein anderer Krieg als der gegen Frankreich oder England. Es war ein Vernichtungskrieg. Es war ein Krieg gegen den Sozialismus und Kommunismus. Dies zu sagen, ist heute nicht populär. Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion richtete sich nicht gegen jene Verbrechen, die unter Stalin am eigenen Volk und an Kommunisten und vielen anderen aufrichtigen Menschen durch Kommunisten begangen wurde. Nein, es war ein Krieg gegen eine große geistige Alternative, gegen jede Vision von wirklicher Volksherrschaft. Und es war ein Krieg der Vernichtung des russischen und aller slawischen Völker. Denn es sollte Raum geschaffen werden für die germanische Rasse, Raum im Osten. Nur kurzzeitig sollten die slawischen Völker als Sklaven noch den Boden bereiten für die neuen Herren. Dieser Unterschied zwischen Krieg im Westen und Krieg im Osten ist fast vergessen. Aber er darf niemals vergessen werden. Vor allem in Deutschland nicht. 31 Fast vergessen ist in Deutschland der Tag der bedingungslosen Kapitulation, der zum Tag der Befreiung wurde. Der Tag der Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz hat als offizieller Gedenktag den Tag der Befreiung abgelöst. Dies aber ist eine Irreführung. Das große Verbrechen des Hitlerfaschismus und seiner Kriege ist nicht nur und nicht einmal vor allem die Vernichtung des europäischen Judentums. Die Vergasung von Menschen begann mit Menschen, die behindert waren. Und die Vernichtung von jenen, die als unterlegene oder konkurrierende „Rassen“ angesehen wurden, richtete sich auf Juden, Zigeuner und auf die Völker Osteuropas insgesamt. Nur die Siege von Moskau, Stalingrad, Kursk und Berlin, die Eröffnung der zweiten Front im Sommer 1944 haben die Vollendung dieses schrecklichen Werkes verhindert. Nur diese Siege waren es, die bewirkten, dass der Shoa der Juden nicht die Vernichtung der großen Völker Russlands, der Ukraine, Belorusslands, Kasachstans und anderer folgten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wird dazu beitragen, dass der Tag der Befreiung wieder ein zentraler Gedenktag in Deutschland wird. Zwei Mal ging im 20. Jahrhundert von Deutschland Krieg gegen Russland aus. Es waren diese Kriege, die den Lauf des ganzen Jahrhunderts wesentlich bestimmten. Die Geschichte Russlands wurde vor allem im Gefolge dieser Kriege zu einer Tragödie seiner Völker. Die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands stehen in dieser Geschichte und haben Verantwortung zu übernehmen. Voller Scham müssen wir bekennen, dass erst 56 Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges die Entschädigung von Zwangsarbeitern beginnen kann. Die Wiedergutmachung von materiellen Verlusten, die deutsche Bürger erlitten, ist schon seit über 40 Jahren faktisch abgeschlossen. Das Feilschen um Rechtssicherheit ist angesichts des brutalen Rechtsbruchs der Vergangenheit unangemessen. Ich denke auch, dass ein weiteres 30-jähriges Moratorium über die Frage einer Rückführung von Kunst nach Deutschland verhängt werden sollte. Es handelt sich um ein gemeinsames Menschheitserbe. Gemeinsam sollte es bewahrt werden. Erst dann, wenn wir es geschafft haben, eine gemeinsame Zukunft unserer Völker, des deutschen und der russischen Völker, in Frieden, Freiheit und Wohlstand aufzubauen, sollte diese Frage erneut besprochen werden. Bis dahin sollten wir uns auf den Erhalt dieses Erbes und den öffentlichen Zugang zu diesem Erbe konzentrieren. Unsere Völker werden wohl ein weiteres halbes Jahrhundert brauchen, um die Folgen der Kriege des 20. Jahrhunderts zu überwinden. Wenn deutsche Politik im 20. Jahrhundert die wesentliche Ursache für die Tragödien Russlands war, so sollte sie heute aus eigenem Interesse und historischer Verantwortung dazu beitragen, dass die Russische Föderation zu einem wirtschaftlich starken, sozialen und demokratischen Staat mit sicheren Grenzen werden kann. Das 20. Jahrhundert hat schreckliche Verluste hinterlassen. Ganze Völker und Kulturen Osteuropas sind verschwunden oder wurden an den Rand der Vernichtung geführt. Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert der Schaffung eines neuen gemeinsamen Europas werden, eines Europas der Vielfalt lebendiger Völker und Kulturen, gegründet auf erfolgreichen Volkswirtschaften und Sozialstaaten. Die Logik der Vernichtung und die Logik gespannter Koexistenz müssen durch die Logik von Kooperation ersetzt werden: Der Reichtum der anderen muss als Bedingung des eigenen Reichtums erkannt werden. Dazu sind Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus zu überwinden. Solange die „Mitte der Gesellschaft“ nicht erkennt, dass Zukunft nur gemeinsam mit anderen zu haben ist, wird sie die Ermordung von Bürgern ausländischer Herkunft und von Obdachlosen durch Duldung befördern, werden sogenannte „national befreite Zonen“ die Chancen auf ein Deutschland von Toleranz und Zusammenarbeit zerstören. Es ist die gemeinsame Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, aller demokratischen Parteien und ihrer Stiftungen, diese Tendenzen zu brechen. 32 Dazu gehört auch, klar zu regeln, dass die Friedhöfe und Denkmäler für die sowjetischen Soldaten und Offiziere auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland bewahrt werden müssen. Es gibt einen schleichenden Verfall vieler dieser Friedhöfe. Was in der DDR möglich war, muss in der Bundesrepublik Pflicht sein. Jene, die Rosa Luxemburg ermordeten, waren es auch, die den Krieg gegen die Sowjetunion vorbereiteten und durchführten. Es war der gleiche Geist und es waren die gleichen Hände. Ich bin heute in Moskau, um der vielen Millionen Toten zu gedenken, die der Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion kostete. Ich bin in Moskau, um jenen zu danken, die unser Land von seinen mörderischen Herren befreit haben. Ich bin in Moskau, um im Namen der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu erklären, dass wir uns der Verantwortung stellen werden, die uns die Geschichte hinterlassen hat. 33 Anlage 7 Berliner Zeitung, KOLUMNE 02.03.2015 Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche Von Götz Aly Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes sollten wir Deutsche vor allem auch die Leistungen der sowjetischen Soldaten bei der Befreiung vom Nationalsozialismus ehren. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht in Berlin? In gut zwei Monaten, am 8./9. Mai, steht der 70. Jahrestag des Kriegsendes ins Haus, und unsere politischen Repräsentanten werden wenig Anstalten machen, an diesem Tag die sowjetischen Soldaten zu ehren, die die Hauptlast des Krieges trugen und schließlich die Deutschen von sich selbst befreiten. Wenn es unsere gewählten Vertreter nicht tun, dann sollten die Berliner die Sache in die Hand nehmen. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt zum 70. Jahrestag? Wo, wenn nicht in Berlin? Der Sieg über das damalige Deutschland musste mit harter militärischer Gewalt erkämpft werden, weil der innere Widerstand schwach blieb. Die damaligen Deutschen betrachteten die Kapitulation weithin als Zusammenbruch, als Katastrophe. Voller Angst warteten sie darauf, dass die Sieger all das rächen würden, was 18 Millionen Landser, SS-Männer und Besatzungsbeamte den Völkern Ost- und Südosteuropas angetan hatten. Blutjunge Wehrmachtssoldaten, die 1944/45 in Gefangenschaft gerieten, zur Desinfektion und zum Duschen geführt wurden, wussten plötzlich ganz genau: „Jetzt werden wir vergast.“ Achim Thom, einst Professor in Leipzig, hat das so erlebt und mir berichtet. Nicht nur er. Anders als unsere Vorväter wissen wir Heutigen, dass wir den Frieden, unseren Wohlstand, das Glück unserer Kinder und Kindeskinder allein der deutschen Niederlage verdanken. Deshalb gilt es, diesen Tag mit einem Volksfest zu feiern. Deshalb muss an diesem Tag der Opfer des beispiellosen deutschen Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieges gegen Osteuropa in besonderer Weise gedacht werden. Fünf Millionen Tote in Polen, 27 Millionen in der ehemaligen Sowjetunion, darüber hinaus ungezählte Menschen, die dauerhaft um ihr Lebensglück gebracht worden sind, Hungersnöte und die vollständige Verwüstung ganzer Landstriche – all das kennzeichnete den von Deutschland gewollten Krieg. Nach Moskauer Zeit wird in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in Israel der 9. Mai als Tag des Sieges über Deutschland gefeiert. In diesem Jahr ist das praktischerweise ein Samstag. Deshalb schlage ich vor, dass sich möglichst viele Berliner am Vormittag des 9. Mai um 11 Uhr am sowjetischen Ehrenmal nahe dem Brandenburger Tor treffen und dort Blumen niederlegen. Eine Blaskapelle sollte zunächst Trauermusik intonieren und dann Stücke spielen, die der Freude über die Befreiung Schwung geben. All das hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob man die Politik der heutigen russischen Führung zu verstehen versucht oder bekämpft, auch spielt keine Rolle, wie und was man über die Verbrechen Stalins oder des Kommunismus denkt. In dieser Stunde und an diesem Morgen kann es nur um eines gehen: um eine große, öffentlich wirksame Geste des Mitgefühls, der Solidarität und der Freundlichkeit der heutigen Berliner, gerichtet an die von Deutschland überfallenen Völker der ehemaligen Sowjetunion, an die Familien der ermordeten, verschleppten und geschundenen Zivilisten, der gefallenen, verkrüppelten und ermordeten Soldaten der Roten Armee. Dazu braucht man ein kleines Komitee, das die Veranstaltung anmeldet – dann wird fast von selbst eine beachtliche Volksbewegung entstehen. Für die Musiker habe ich eine Idee, einen Redner finden wir auch. 34 Anlage 8 Berliner Zeitung, KOLUMNE ZU 70 JAHREN KRIEGSENDE 09.03.2015 Ukrainer, Russen und Deutsche sollen am 8./9. Mai zusammenkommen Von Götz Aly Viele Leser wollen sich dem Vorschlag unseres Kolumnisten anschließen, zum 70. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai in Berlin die Soldaten und Gefallenen aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion zu würdigen, die den Sieg über Hitlerdeutschland erkämpft haben. Eine Veranstaltung nimmt Konturen an. Die vorangegangene Kolumne „Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche“ fand ein starkes Echo: Nicht wenige Berliner wollen am Vormittag des 9. Mai, dem 70. Jahrestag des Kriegsendes nach Moskauer Zeit, am sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten Blumen niederlegen. Sie wollen die Soldaten und Gefallenen aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion würdigen, die den Sieg über Hitlerdeutschland erkämpft haben, ebenso die von Deutschen ermordeten Kriegsgefangenen und die vielen Millionen Zivilisten, die dem deutschen Raub, Rassen- und Versklavungsterror zum Opfer fielen. Sieben Wochen vor dem Überfall hatten deutsche Staatssekretäre am 2. Mai 1941 festgelegt: In der Sowjetunion werden „zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn für uns das für uns Notwendige aus dem Land herausgeholt wird“. Nachdem die Wehrmacht bis kurz vor Leningrad und Moskau vorgedrungen war, erklärte Hermann Göring Ende November 1941: „In diesem Jahr (1942) werden 20 bis 30 Millionen in Russland verhungern. Vielleicht ist das gut so, da bestimmte Völker dezimiert werden müssen.“ Keine Frage: Die Rotarmisten führten einen Verteidigungskrieg auf Leben und Tod. Am 9. Mai sollen in Berlin die Niederlage, die Befreiung Europas und die zwangsweise Befreiung der Deutschen von sich selbst gefeiert werden. Die aktuelle Politik steht nicht zur Debatte. Vielmehr geht es um eine versöhnliche Botschaft des Mitgefühls, der Anteilnahme und des Andenkens, adressiert nicht von einem Präsidenten an den anderen, sondern von Tausenden Berlinern an die Millionen Familien derer, die infolge des deutschen Vernichtungskriegs ihre Lieben verloren, schwere materielle, körperliche und seelische Schäden erlitten – ob sie nun in Russland leben, in der Ukraine, in Weißrussland, in Kasachstan oder im Baltikum. Um das zu verdeutlichen ein Beispiel: Die Blockade Leningrads begründete die Wehrmachtsführung mit der Absicht, die fünf Millionen Einwohner verhungern zu lassen; tatsächlich starben während der 900 Tage andauernden Belagerung etwa eine Million Menschen, darunter der eineinhalbjährige Viktor, der ältere Bruder Wladimir Putins. Die Blumen am Denkmal gelten nicht dem Präsidenten, aber eben auch der Familie Putin. Bolschewistische Kurkapelle will auftreten Inzwischen hat die Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot zugesagt, mit 17 Bläsern, Gitarristen und Sängern das Ihre zum 9. Mai am sowjetischen Ehrenmal beizutragen. Die Gruppe wurde 1986 in Berlin-Prenzlauer Berg gegründet und ist dort fest verwurzelt. Die Musiker, darunter ein Brite und ein Amerikaner, kombinieren bayerische, russische und ukrainische Volksmusik mit amerikanischem und französischem Punk, mit polnischer Polka und jiddischen Hochzeitsmärschen. Sie wollen die Menschen zum Tanzen bringen und nachdenklich stimmen. In Berlin wohlbekannt, sind sie in Kopenhagen, Paris, Le Havre, Wien, Brno, Amsterdam aufgetreten und erklären zur aktuellen Lage: „Wir haben noch nie in Moskau oder Kiew gespielt, aber vielleicht lädt uns dorthin einmal jemand ein.“ Nun sind noch einige organisatorische Fragen zu klären. Das hat dankenswerterweise der 1990 ebenfalls in der Gorbatschow-Ära gegründete Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI übernommen (www.kontaktekontakty.de). Auf zum 9. Mai! 35
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