> < JOURNAL Kriegskind: Armin Mueller-Stahl über Todesangst und Lebensmut. Seite 54 AM SONNTAG Kriegsenkel: Familientherapeutin Angelika Grabow über späte Kriegsfolgen. Seite 64 Niedergang und Neubeginn: Auf einem Berg von Schutt im Zentrum Lübecks zeichnet ein Maler die zerstörte Stadt. Das Foto stammt aus dem Archiv des verstorbenen Pressefotografen Karl Kirchner. Foto: LN-Archiv Als Europa in Trümmern lag Von Uwe Nesemann D er Satz taugte nicht mehr für das 20. Jahrhundert. Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, fabulierte der preußische Generalmajor Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz (1980-1831), aber die Geschichte hat ihn widerlegt. Krieg ist die Entmenschlichung der Welt und dies im doppelten Sinne. Krieg ist ein Verbrechen, die Außerkraftsetzung von Moral, Gewissen und Mitgefühl. Krieg ist nicht nur die Abwesenheit von Frieden, sondern das Leugnen jeglicher Ordnung. Und Krieg verwischt die Wahrheiten – wer mag noch auseinanderhalten, wer Opfer ist und wer der Täter? „Wo warst du, Adam?“ – „Ich war im Weltkrieg.“ Diese Worte des erbitterten Nazi-Gegners Theodor Haecker (1879-1945) stellte einst Heinrich Böll seinem gleichnamigen Roman voran, geschrieben unter den unmittelbaren Eindrücken des Weltenbrandes, verfasst inmitten von Ruinen. „Wo warst du, Adam? Im Weltkrieg?“ Manch einem wird dieser Tage wieder die Frage gestellt werden, aber es werden immer weniger. 70 Jahre nach dem Ende dieser Katastrophe wird der Weltkrieg zur Geschichte. Für die meisten von uns ist er es schon. Es werden immer weniger, die noch davon erzählen können, und selbst bei manchen von denen nimmt die Unschärfe der Erinnerung zu, verwischen die Linien zwischen den Wirklich- Vor 70 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Als die Kämpfe am 8. Mai 1945 endlich vorbei waren, wusste niemand in Deutschland, woraus er Hoffnung schöpfen sollte für die Zukunft. keiten. Aus der Asche ist längst eine neue Welt entstanden, und den Krieg kennen die Nachgeborenen nur noch aus Bildern, Büchern und Erzählungen. Zum Glück, möchte man hinzufügen. Die Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands am 8. Mai 1945 war, wie der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren der staunenden Welt ins Gesicht sagte, ein „Tag der Befreiung“. Er sagte auch, es sei für die Deutschen kein Tag zum Feiern, aber das ging weitgehend unter. Der Befreiungs-Satz war es, der dem Staatsoberhaupt Beifall und Respekt einbrachte; diejenigen, die das Kriegsende am eigenen Leib erlebten, mögen das im Moment des Zusammenbruchs anders gesehen haben. Mit dem 8. Mai war das Kämpfen auf den Schlachtfeldern Europas vorbei – die Not aber war noch da und mit ihr die Angst vor dem Heute und vor dem Morgen, wenn es denn eines gäbe. Und die Angst vor der Rache der Sieger. Die war bisweilen fürchterlich. Als der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende ging, tat er dies mit un- # glaublicher Brutalität, auch abseits der Schlachtfelder. Zwischen der Invasion in der Normandie im Sommer 1944 und den letzten Schüssen in Berlin im Mai 1945 starben mehr Soldaten und Zivilisten als in den knapp fünf Kriegsjahren zuvor. Das untergehende Nazi-Regime schlug in seinem Todeskampf tollwütig um sich, im Innern wie nach außen. In den Monaten vor und nach dem 8. Mai marodierten Truppen der Sieger durch Deutschland. Vor allem im Osten, aber auch im Süden und Westen wurde geplündert, gemordet, vergewaltigt. Im Schatten der Gewalt vermochte kaum jemand an Befreiung denken. Mit dem Abstand der Jahrzehnte versuchen Historiker heute, die Geschehnisse besser zu verstehen. Manchmal gelingt dies, manchmal nicht. Lange Zeit blieben die Verbrechen der Alliierten unter jenem Teppich, unter den sie der Staatsraison wegen gekehrt wurden. In der DDR – also dort, wo sich die Gräueltaten der Russen abgespielt hatten – durfte nicht schlecht über den großen Bruder im Osten gesprochen werden. Erst nach der Wende begann die Front des Schweigens zu 70 Jahre Kriegsende bröckeln, mancherorts aber hält sie bis heute. Im Westen, wo vor allem in Bayern schwerste Übergriffe von amerikanischen und französischen Soldaten dokumentiert sind, wollte man nicht am Bild der freundschaftlichen Befreier kratzen, die wirtschaftlichen Aufschwung und Demokratie ins Land gebracht hatten. Selbst über Gerichtsverfahren und Todesurteile gegen US-Soldaten, die wegen Mordes oder Vergewaltigung angeklagt waren, wurde kaum berichtet. Heute weiß man, dass die Deutschen überall im Lande den Siegermächten sehr skeptisch gegenübertraten. Das Misstrauen war groß – zum Teil zu Recht. Aus der Feder des Dichters und Propagandisten Ilja Ehrenburg stammen Flugblätter wie: „Tötet! Tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht!“ Russland spricht von 27 Millionen Toten, die der deutsche Vernichtungsfeldzug allein in der Sowjetunion gefordert habe – nun brachten hasserfüllte Rotarmisten den Krieg zurück in das Land, von dem er ausgezogen war. Europa war verwüstet in diesem Mai des Jahres 1945. 60 Millionen Tote waren zu beklagen – die Welt wäre beinahe verblutet. Und Deutschland? Ein Chaos aus Ruinen, Schmutz und Tod, ein Land, in dem es keine Ordnung mehr gab, kein Recht und keine Wahrheit. Der totale Krieg, den Goebbels den Deutschen im Februar 1943 im Berliner Sportpalast abgepresst hatte, mündete in die totale Niederlage, in die totale Katastrophe. Dass aus der blutgetränkten Asche überhaupt jemals ein neues Land erstehen könnte, mag damals kaum jemand geglaubt haben. Inzwischen aber gibt es Wissenschaftler, die denken, dass Deutschland ohne diesen totalen Zusammenbruch niemals das hätte werden können, was es heute ist – ein stabiler, demokratischer Staat inmitten eines vereinten Europa, ungeachtet aller Mängel und Probleme. Der britische Historiker Ian Kershaw (72) betonte vor Jahren, nur durch die bedingungslose Kapitulation Deutschlands sei ein Neubeginn überhaupt möglich gewesen. Selbst wenn das Attentat vom 20. Juli 1944 geglückt wäre, hätten die Alliierten wohl darauf bestanden. Kershaw: „Die Siegermächte wollten nicht nur Hitler erledigen, sondern auch die alten Eliten beseitigen.“ Alles andere als eine totale Niederlage war inakzeptabel. „Wo warst du, Adam?“ Die Frage zieht sich durch die Jahrzehnte. Aber nur die, die dabei waren, kennen die Wahrheit. Man darf nicht aufhören, ihnen zuzuhören. Immer wieder, solange es noch geht. 30. Januar, 13.10 Uhr. Das Kreuzfahrtschiff „Wilhelm Gustloff“ legt in Gotenhafen ab. An Bord befinden sich über 10 000 Menschen, die meisten sind Flüchtlinge. #Twitterprojekt Geschichte in Echtzeit vermittelt derzeit ein außergewöhnliches Projekt: Unter dem Twitterprofil @digitalpast erzählen fünf junge Historiker in 140 Zeichen kurzen Tweets das Geschehen in den letzten Kriegsmonaten nach – vom 27. Januar 1945, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, bis in die ersten Wochen nach der Kapitulation am 8. Mai. Tweet für Tweet wird unter der Überschrift „Heute vor 70 Jahren“ der Alltag bei Kriegsende aus deutscher Perspektive wiedergegeben. Je nach Anlass und Ereignissen gibt es 3 bis 300 Twitter-Nachrichten pro Tag unter: twitter.com/digitalpast. Für das Team bestehend aus Moritz Hoffmann, Charlotte Jahnz, Christian Gieseke, Petra Tabarelli und Michael Schmalenstroer ist es eine neue Art der Geschichtsvermittlung mit zeitgenössischen Mitteln. Wir drucken eine Auswahl der Tweets am Fuß der Seiten dieses Kriegsende-Journals ab. Begleitend zum Twitter-Projekt ist im Propyläen Verlag das Buch „Als der Krieg nach Hause kam“ erschienen. (16,99 Euro oder E-Book, 14,99 Euro). Moritz Hoffmann schildert darin die Hintergründe des Kriegsalltags und ordnet so die Tweets in ihren geschichtlichen Zusammenhang ein.
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