6 LANDESPOLITIK STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 95 | Samstag, 25. April 2015 Heinz Kälberer hört auf Amtswechsel Der Vorsitzende der Freien Wähler geht. Nur ein Kandidat möchte ihn beerben. N ach 28 Jahren an der Spitze der Freien Wähler (FW) hört Landeschef Heinz Kälberer (73) auf. Bei der Jahreshauptversammlung am Samstag in Wiesloch (Rhein-Neckar-Kreis) ist der Bürgermeister von Renningen, Wolfgang Faißt, der einzige Kandidat, der sich um die Nachfolge des früheren Oberbürgermeisters von Vaihingen bewirbt. Der 53-Jährige Faißt, der seit Dezember 2000 in Renningen Rathauschef ist, sagte: „Die Freien Wähler müssen an der Basis wieder mehr erkennbar sein.“ Die Organisation müsse sich in die politische Debatte verstärkt einmischen. Als Beispiel nannte er die geplante Pkw-Maut. „Wir brauchen mehr Geld für den kommunalen Straßenbau.“ Um die Vereinigung noch stärker im Land zu verankern, soll der künftige Landesvorsitzende von vier geschäftsführenden Vorständen aus den vier Regierungsbezirken unterstützt werden. Foto: dpa Die Freien Wähler sehen sich nicht als Heinz Partei im klassischen Kälberer Sinne, weil sie nur auf geht nach kommunaler Ebene aktiv sind. Sie sind aus 28 Jahren der letzten Kommuan der Spitze nalwahl im Jahr 2014 der Freien als stärkste Kraft in den Gemeinderäten Wähler. hervorgegangen: Rund 10 000 Freie Wähler vertreten dort die Interessen der Bürger. Die Selbstbeschränkung auf die Kommunalpolitik passt nicht jedem. Im Jahr 2010 hat sich vom Landesverband der Freien Wähler eine neue Gruppierung abgespalten. Sie nennt sich Freie Wähler Landesvereinigung Baden-Württemberg. Sie zählt rund 100 Mitglieder, wie der Landesvorsitzende Johannes Butscher mitteilte. „Es gilt, den Menschen eine echte inhaltsgeladene Alternative zu den Altparteien zu bieten, aber auch eine seriöse Alternative zu den extremen Protestparteien“, begründete er den Schritt. dpa Doping-Kommission Singler tritt zurück und kritisiert Paoli In der jüngsten Doping-Affäre hat der Wissenschaftler Andreas Singler seinen Rücktritt aus der Evaluierungskommission zur Freiburger Sportmedizin angekündigt. Dabei kritisierte er am Freitag auch die Kommissionsleiterin Letizia Paoli scharf. Er wolle mit Mitgliedern des Gremiums, „die zwar die öffentliche Wahrnehmung dominieren, aber kaum mit inhaltlicher Arbeit in Erscheindung getreten sind, insbesondere mit der Vorsitzenden Frau Professor Letizia Paoli“, nicht mehr zusammenarbeiten, sagte Singler. Die Arbeit der Kommission sei nicht nur von schweren Konflikten mit der Universität belastet, sondern „vor allem von schweren internen Konflikten“. Paoli warf er in mehreren Punkten „Unfähigkeit“ vor. Vor seinem „bevorstehenden Rücktritt“ werde er zunächst noch ein Gutachten zu dem umstrittenen, im Jahr 2000 verstorbenen Freiburger Sportmediziner Joseph Keul fertigstellen, teilte Singler mit. dpa Rechnungshof Bund will Geld vom Verkehrsminister Baden-Württemberg muss aus Sicht des Bundesrechnungshofs vom Bund finanzierte Personalkosten in Millionenhöhe zurückzahlen. Das Land und SchleswigHolstein hätten seit mehr als zehn Jahren Personalkosten für die Steuerung von Anlagen zur Beeinflussung des Verkehrs vereinbarungswidrig aus Bundesmitteln bestritten, kritisierten die Bonner Kontrolleure. Das Verkehrsministerium in Stuttgart argumentierte, das Geld stünde dem Land zu. Die Kontrolleure beziffern die offene Summe auf neun Millionen Euro. dpa Kontakt Redaktion Landespolitik Telefon: 07 11/72 05-11 81 E-Mail: [email protected] Weitere Nachrichten aus Baden-Württemberg finden Sie auf SEITE 27 Zukunftsaufgabe Sie sind jung, sie sind allein und sie sollen eine Perspektive finden. Eindrücke aus einer Vorbereitungsklasse. Von Renate Allgöwer Flüchtlinge I ch finde Sigmaringen schlecht, weil es im Winter so kalt ist“, witzelt Danial aus Gambia. Im Klassenzimmer in der Bertha Benz-Schule in Sigmaringen sitzen 15 Schüler und zwei Schülerinnen in Gruppen an ihren Tischen und würfeln. Je nach Augenzahl müssen sie bestimmte Sätze bilden. „Ich finde Sigmaringen schlecht...“, ist der Anfang für den Sechserwurf. Wer eine Drei würfelt, sagt, „es ist gut in Deutschland...“. Madeusz (16) vollendet, „weil es hier viele gute Autos gibt“. Er träumt davon, KfZ-Mechatroniker zu werden. Die 17 jungen Leute bilden die Klasse VABO1, das ist amtsdeutsch für Vorqualifizierung Arbeit und Beruf ohne Deutschkenntnisse und bedeutet, dass hier im Berufsschulzentrum wie überall im Land Flüchtlinge im Alter von 16 bis 21 Jahren Deutsch lernen und mögliche Berufsfelder erkunden sollen. Sie kommen aus Gambia oder Guinea, aus Syrien oder dem Irak, neun Nationen sind im Klassenzimmer versammelt. Auffallend viele Schüler haben das Geburtsdatum 1. Januar. Das sind die, die nicht wissen, wann sie geboren sind. Aber in den Erstaufnahmestellen werden Papiere erstellt und für Formulare braucht es ein Geburtsdatum. Das ist noch das geringste Problem. „Jeder einzelne der Schüler hat ein Schicksal, das ich nicht haben möchte“, sagt Dietmar Lehmann, der als stellvertretender Schulleiter die drei Vorbereitungsklassen koordiniert. Die meisten Jugendlichen sind alleine in Deutschland. Die Schüler aus VABO1 sind schon seit Schuljahresbeginn da. Inzwischen kommen sie alle regelmäßig zum Unterricht und bleiben bis zum Schluss. Das war nicht immer so. „Einer hat einfach in der Pause zusammengepackt und wollte gehen“, erinnert sich Lehmann. Dass sie den Jugendlichen eine Struktur beibringen mussten, damit haben Lehmann und auch der Schulleiter Klaus Peter nicht gerechnet. Sie hatten reichlich zu tun, die Klassen zu strukturieren. Im Juli erfuhren sie, dass sie im September eine Flüchtlingsklasse einrichten sollten. Elf Schüler waren bekannt. Ende August war die Rede von 70, bei Schuljahresbeginn waren es 55. „Von null auf nichts haben wir drei Klassen eingerichtet“, erinnert sich Schulleiter Peter. Deutsch lernen in der Schicksalsgemeinschaft: Paul aus Nigeria, Zaki aus Syrien sowie die beiden Iraker Amin und Layth (von links) gehen konzentriert ans Werk. Foto: Allgöwer Ein junger Syrer jedoch ist schwer ge- nen konnte die Schulleiterin für die Flüchtschlagen. Am Anfang hat er kaum reagiert. lingskinder neu einstellen. „Aber jetzt lächelt er manchmal und er liest Die Grundschüler sollen ebenso wie die auch vor“, sagt die junge Lehrerin strah- angehenden Berufsschüler möglichst den lend. „Das freut mich“. Alle Lehrer, die Vor- ganzen Vormittag an der Schule sein. Im bereitungsklassen unterrichten, haben Berufsschulzentrum stellen sie momentan sich freiwillig gemeldet. Diana Müller wur- 22 Stunden pro Klasse auf die Beine. Damit de eigens eingestellt und sie will nächstes erreichen sie die vom Kultusministerium Jahr weiter machen. Allerdings hat sie gewünschten 30 Stunden nicht. Doch im einen befristeten Vertrag. In der Flücht- nächsten Schuljahr will Schulleiter Peter lingsklasse ist vieles anders als am Gymna- die Unterrichtszeit auf 32 Stunden ausweisium Pfullingen, wo die Deutschlehrerin ten. Drei Stellen darf er dafür noch unbevorher gearbeitet hat: „Die Schüler brau- fristet besetzen. Er ist zuversichtlich, dass chen hier ein kleines Zuhause. er das geeignete Personal finDie Beziehungen sind ganz an- „Die Schüler det. Die Bewerbungen jedenders. Die Schüler vertrauen vertrauen mir falls liegen bereits auf seinem mir ganz anders, ich bin ganz anders, Schreibtisch. Freundin und Schwester.“ Donnerstag ist Praxistag. An der Grundschule, zum ich bin Freundin Modou aus Gambia ist hell beBeispiel in Laiz, fallen die und Schwester.“ geistert. Er fährt jeden DonÄngste eher auf. Die Schullei- Diana Müller unterrichtet nerstag nach Saulgau zum terin Gabriele Beuter hat in einer Flüchtlingsklasse Praktikum in einer Kfzeinen Zehnjährigen mit HerzWerkstatt. Der 21-Jährige hat und Atembeschwerden zum zu Hause eine dreijährige Arzt geschickt. Die Sechs- bis Elfjährigen Kfz-Ausbildung absolviert. Motoren, sagt fürchten sich, wenn die Abschiebung droht. er stolz, könne er schon reparieren, „mit „Da fehlt jede Sicherheit und Ruhe“. In der der Elektronik habe ich aber Probleme.“ Grundschule kümmern sich zwei Lehrerin- Die hofft er hier beheben zu können. Vier nen um die mehr als 30 Flüchtlingskinder. weitere Flüchtlinge haben PraktikumsAngefangen hat man zu Schuljahresbeginn plätze in Betrieben. Die Schule will zusammit 22. Allein in dieser Woche kamen fünf men mit der Agentur für Arbeit und der neue Kinder dazu. Die wollen integriert Kreishandwerkerschaft weitere Angebote sein. Acht von ihnen hatten noch nie einen schaffen. Während sich andere Sorgen maStift in der Hand. Man kann nur in unter- chen, dass zu viele Flüchtlinge kommen, schiedlichen Gruppen arbeiten. Jeden Tag sagt Dieter Lehmann, „wir wollen, dass die gibt es zwei bis drei Stunden Extraförde- Schüler im Landkreis Sigmaringen bleiben. rung, den Rest des Vormittags verbringen Wir investieren hier viel Zeit und Herzdie Kinder in den Regelklassen. Das geht, blut.“ Doch viele der Jugendlichen zieht es weil die Klassen klein und die Schule im in die Großstadt, weil sie glauben, nur dort wesentlichen zweizügig ist. Zwei Lehrerin- gebe es Chancen auf einen Arbeitsplatz. Die Mehrzahl der Schüler schaut sich in der Schule um. Die Bertha-Benz-Schule FLÄCHENDECKEND IM GANZEN LAND deckt viele Berufsfelder ab. Paul etwa genen jedoch auch im kommenden Schule und an drei von Flüchtlingsklassen An den fällt es in der Lehrbäckerei. Amin hat vor, den Schuljahr weiter beschäfGrund-, Haupt-, Real- und Ge- vier beruflichen Schulen. nächstes Jahr seinen Hauptschulabschluss tigt werden, erklärt eine Spremeinschaftsschulen des Lanzu machen. Broula, eine junge Syrerin, will cherin von Kultusminister des gibt es laut Kultusministe- Lehrer Das Land hat für das so gut Deutsch lernen, dass sie auf dem aktuelle Schuljahr 200 zusätz- Andreas Stoch. Inzwischen rium aktuell 1145 FlüchtlingsGymnasium weitermachen kann. Paul käsind für das kommende Schul- me gerne den ganzen Tag in die Schule. liche Lehrerstellen für die klassen. An den beruflichen jahr weitere 162 unbefristete Schulen sind es 108. Im Regie- Flüchtlingsarbeit genehmigt. Zweimal nachmittags hat er noch EinzelDavon entfallen 58 auf berufli- Stellen freigegeben. Davon rungsbezirk Tübingen zum unterricht, den die evangelische Kirche in sind 122 für die beruflichen che Schulen. Diese Stellen Beispiel gibt es die Klassen an der Unterkunft anbietet. Was macht er Schulen vorgesehen. ral jeder vierten allgemein bilden- sind befristet. Die Lehrer könsonst? Paul sagt bedauernd: „Nichts.“ Zwar haben sich Lehrer zu Überstunden bereiterklärt, manche haben ihre Teilzeit aufgestockt, auch Unterricht anderer Klassen wurde gekürzt. „Doch das ging nicht mehr aus Bordmitteln“. Zum Glück konnte man eine Deutschlehrerin einstellen. Es kamen Jugendliche, die Englisch sprachen. Damit konnten die Lehrer umgehen. Es kamen Araber, für die Berufsschüler mit entsprechenden Wurzeln übersetzen. Es kamen Eritreer, für die sich kein Dolmetscher fand. Es kamen Analphabeten und Studenten. Zwölf Sprachen zählt der Schulleiter in den Vorbereitungsklassen. „Amtssprache ist Deutsch“, schmunzelt die Lehrerin Diana Müller. „Am Anfang reden wir mit Händen und Füßen, Bilder werden herangezogen.“ Im Verlauf des Schuljahrs werden die Pantomimen weniger und die Texte mehr. Araber lernen die lateinische Schrift. Auffällig findet Müller, wie sehr die Schüler sich gegenseitig unterstützen. Und wie motiviert sie sind. „Einer ist jetzt schon so weit, dass er für die anderen dolmetschen kann“, sagt Lehmann erfreut. Flüchtlingsströme halten sich nicht an Schuljahre. Vor ein paar Tagen hat man wieder eine Klasse mit Neuankömmlingen eingerichtet. Zwei der bestehenden Klassen wurden zusammengelegt. Das ging, denn in den Osterferien gab es mehrere Abschiebungen. Auch das ist Alltag in den Flüchtlingsklassen. Ebenso wie die Traumata. Davon merkt man bei den Jugendlichen in den Berufsschulen nicht so viel. „Die machen das meist mit sich allein oder untereinander aus“, sagt die Lehrerin, und Dietmar Lehmann weiß von den Betreuern in den Unterkünften, dass die Tränen dort fließen, nicht in der Schule. Für Prominente und nicht Prominente Am heutigen Samstag verleiht der Ministerpräsident in Mannheim den Verdienstorden des Landes an 25 Persönlichkeiten. Ehrung I m Mannheimer Schloss wird der Ministerpräsident des Landes, Winfried Kretschmann, 25 Persönlichkeiten für ihre „herausragenden Verdienste um das Land Baden-Württemberg und seine Bevölkerung“ mit dem Verdienstorden des Landes auszeichnen. Unter den Geehrten sind Politiker, Wissenschaftler und Sportler, aber auch Helfer „von nebenan“. Valeri Belenki, Kunstturner und Kunstturntrainer aus Ostfildern Ellen Brinkmann aus Bötzingen; sie hat sich jahrzehntelang sozial und kommunalpolitisch engagiert Reinhard Bütikofer, Grünen-Politiker mit Parlamentserfahrung in Stuttgart, Berlin und Brüssel Herta Däubler-Gmelin, die Sozialdemokratin war lange Bundestagsabgeordnete und zuletzt Bundesjustizministerin Reiner Ehret ist der Vorsitzende der Lan- desnaturschutzverbandes Baden-Württemberg Barbara und Ulrich Endreß aus Stuttgart betreuen seit drei Jahrzehnten ehrenamtlich ein Männerwohnheim Eric Gauthier, der Tänzer und Choreograf aus Stuttgart wird für sein Engagement für sozial und gesundheitlich benachteiligte Menschen geehrt Alexander Gerst aus Niedernhall war vergangenes Jahr Bordingenieur auf der Raumstation ISS Stefan W. Hell aus Heidelberg ist Nobelpreisträger für Chemie Horst Hippler, einst Chef des Karlsruher Instituts für Technologie und Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Ulrich Höffner, ehemaliger Leiter des Instituts für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg Yavuz, Kazanc, Landeschef des Verbandes Die Sozialdemokratin Herta Däubler-Gmelin ( links) und Barbara Spehr, die sich für obdachlose Jugendliche einsetzt, werden am Samstag ausgezeichnet. Fotos: dpa, Zweygarth der Islamischen Kulturzentren Erich Klemm, war bis 2014 Vorsitzender der Daimler-Gesamtbetriebsrates und im Aufsichtsrat der Daimler AG Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung der Trumpf GmbH für ihr vielfältiges ehrenamtliches Engagement Günther Oettinger, der frühere badenwürttembergische Ministerpräsident und EU-Kommissar Marianne Raven aus Baden-Baden, sie war Geschäftsführerin der internationalen Kinderhilfsorganisation Plan Martin Schäfer aus Leinfelden-Echterdingen, geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für ökologischen Landbau Inge Schöck aus Stuttgart, die Vorsitzende des Landesverbandes Gemeindepsychiatrie Christoph Sonntag, Kabarettist und für Kinder und Jugendliche engagiert Barbara Spehr aus Stuttgart, die sich dort für obdachlose Jugendliche ehrenamtlich einsetzt Gertrud Stihler aus Karlsruhe – sie engagiert sich für Flüchtlinge Johannes Stockmeier, ehemaliger Präsident des Diakonischen Werkes in Deutschland Daniel Strauß aus Neulußheim, der Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Jacek Zieliniewicz aus Bydgoszcz in Polen, der als KZ-Häftling den Holocaust überlebte und sich für Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit einsetzt. StZ
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