Jürgen Oelkers Sind deutsche Schulen entwicklungsfähig?*) Die PISA-Daten bescheinigen der deutschen Schule insgesamt eine schlechte Qualität, was nicht überraschend war und nun aber auf dramatische Weise öffentlich geworden ist. Der Befund der PISA-Studie ist auf eine international einmalige Weise diskutiert worden, nämlich überzogen, hysterisch und mit einer bemerkenswerten Neigung zur Apokalypse, als sei im Land der Dichter und Denker für immer die Bildungswelt untergegangen, während daran zu erinnern ist, dass man eine solche Vergleichsstudie schon viel früher hätte haben können. Vermutlich hätte man dann auch viel früher mit ernsthafter Systementwicklung begonnen, die heute noch nicht absehbar ist, weil im vielstimmigen und zugleich ganz dissonanten Chor der Kritik ganz unbestimmt geblieben ist, was genau darunter vorgestellt werden soll. Die Reaktion auf PISA kann ja nicht einfach in einer Vier-Milliarden-Euro-Ganztagsschule bestehen, die alles übrige unangetastet lässt. Gemessen an der Wucht der Anklagen und Selbstzweifel überrascht auch, dass eine einfache Frage so gut wie nie gestellt wurde: Wenn die Misere so gross ist, wie die öffentliche Diskussion unterstellt, wer ist daran schuld? Oder umgekehrt: Wie kommt es, dass niemand schuld ist und die Verantwortung übernimmt, wenn die Qualität so schlecht ist? Tatsächlich hat bislang niemand gesagt, er oder sie sei Schuld am Niedergang der deutschen Bildung und übernehme aus freien Stücken die Verantwortung. Aber obwohl PISA keine Kausalaussagen macht, die schlechte Qualität der deutschen Bildung muss Ursachen haben und zugleich Verantwortliche, andernfalls müsste man eine okkulte Transmutation annehmen, bei der der Stein der Weisen nichts geholfen hat. Fragt man abstrakt, dann sind freilich sehr schnell “Ursachen” genannt, die auf auffällige Weise die Akteure entlasten, damit ja niemand wirklich verantwortlich ist. Was man kausal bemühen kann, ist ein erstaunlich grosses Spektrum, das von der Unterfinanzierung der öffentlichen Schulen bis zu den unbestimmten Folgen der Scheidungsrate reicht, von der ebenso unbestimmten “Medienkindheit” bis zur Erziehungsverweigerung der Eltern oder von der Wohlstandsverwahrlosung bis zum Burn Out der Lehrkräfte. Damit betreibt man freilich nur die Pflege der Klagesemantik, ohne ernsthaft die Ursachen zu bestimmen. Wenn man aber nicht weiss, woran es liegt, ist niemand schuld und keiner verantwortlich. Das legt eine ganz andere Strategie der Bewältigung des PISA-Befundes nahe, das Zeigen auf Andere zur eigenen Entlastung. Die sich vergeblich bemühenden Lehrkräfte verweisen auf die Eltern, die ihrer pädagogischen Verantwortung nicht gerecht werden, die für Qualität eintretenden Eltern verweisen auf die Lehrkräfte, die im Verdacht stehen, sich dem Leistungsdenken zu entziehen, die Gymnasien verweisen auf die im Leistungsbereich versagenden Grundschulen, die Grundschulen verweisen auf die falschen Leistungsansprüche der Gymnasien, die Lehrerverbände verweisen auf die Bildungspolitik, die Bildungspolitik auf die Finanzpolitik, die Finanzpolitik auf die Richtlinienkompetenz, und die wiederum auf das nicht gegebene Ganze. Aber PISA misst das Ergebnis von neun Jahren konkreten Schulunterricht mit realen Kindern, für deren Verlust an Bildung irgend jemand verantwortlich sein muss. Doch das zu bestimmen, scheint unmöglich zu sein. Während man normalerweise in Lehrerkreisen mit der Formel “Auf den Lehrer kommt es an” unmittelbar Zustimmung findet, so scheint dies für diesen negativen Fall nicht zu gelten. Für Qualitätsverlust ist niemand zuständig. Eltern stimmen fast immer zu, wenn auf die unverzichtbaren Erziehungsleistungen der Familie verwiesen wird, das scheint aber wiederum nur für den positiven Fall zu gelten. Lehrerverbände und Bildungspolitik beeinflussen und vertreten konkrete Entscheidungen, aber ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand für die Folgen dieser Entscheidungen verantwortlich gemacht wurde oder selbst Verantwortung übernommen hat. So stehen wir vor dem eigenartigen Phänomen, dass zwar jeder zustimmt, wenn behauptet wird, Bildung sei ein unverzichtbarer Rohstoff, den zu bearbeiten dringend nach neuen Investitionen verlangt, aber niemand zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn eine internationale Studie schlechte und offenkundig sinkende Bildungsqualität bescheinigt. Das lässt sich natürlich erklären: Eine Erklärung bezieht sich auf die lange Dauer von Bildungsprozessen und die unweigerliche Irritation über die Effekte. Die Entwicklung von Bildungssystemen ist nur langfristig möglich, die Effekte zeigen sich erst, wenn die seinerzeitigen Entscheidungsträger nicht mehr im Amt sind oder ihren publizistischen Einfluss verloren haben, und die Effekte sind immer anders, als ursprünglich vorgesehen. Unterwegs hat sich die politische Richtung geändert, die pädagogischen Glaubenssätze des Anfangs haben ihre Überzeugungskraft verloren, die Reformen haben sich abgenutzt, die Forderungen sind verlagert worden und am Ende hat man ein System, das man für die künftige Entwicklung genau nicht brauchen kann. Man denke an die “Bildungskatastrophe” von 1964, deren Folgen sich zwanzig Jahre später gezeigt haben und dies keineswegs im Sinne des Erfinders GEORG PICHT. Genauer muss ich sagen, es waren nicht die Folgen einer tatsächlichen Katastrophe, sondern der dramatischen Bestimmung eines Notstandes, der die Öffentlichkeit massiv beschäftigt und politisches Handeln veranlasst hat, das zuvor kaum denkbar gewesen war. Für die alte Bundesrepublik gilt: Nie zuvor ist das System so weitgehend und zugleich so halbherzig verändert worden wie nach der “deutschen Bildungskatastrophe”, bei der immer übersehen wurde, dass sie die alte DDR nicht betraf und erst 1989 erreicht hat, in Gestalt des gründlich renovierten und doch kaum veränderten westlichen Systems. Es wäre ebenso ketzerisch wie sinnlos, heute zu fragen, wie wohl der Osten Deutschlands mit dem alten System bei PISA abgeschnitten hätte. Eine weitere Erklärung ist die Komplexität des Systems, seine vielfaktorielle Gestalt, die undurchschaubare Verwobenheit aller irgendwie wirksamen Faktoren sowie der hohe Einfluss von wechselnden Randbedingungen, die vom Bildungssystem aus nicht zu beeinflussen sind. Keine Lehrkraft, kein Elternteil, kein Bildungspolitiker ist dafür verantwortlich, wenn sich die deutsche Gesellschaft dafür entscheidet, in Zukunft möglichst nur noch mit einem Minimum von Kindern auszukommen, dieses Minimum einem möglichst hohen Medienkonsum auszusetzen, die Elternbetreuung zu reduzieren und die pädagogischen Erwartungen diesem Trend nicht anzupassen. Eben so wenig kann der Trend gestoppt werden, in Zukunft mehr in Alter als in Kindheit und Jugend zu investieren. Das Bildungssystem kann vermutlich auch nicht den Ritalin-Konsum reduzieren, obwohl es der wesentliche Anlass dafür ist. Und selbst die PISA-Daten sind hinderlich: Wie soll man mit den negativen Herkunftsmilieus kommunizieren, die ja offenbar zum grossen Teil die Misere verursachen? Daraus könnte man einen definitiven Schluss ziehen: das Bildungssystem ist ein Teil der deutschen Krankheit, es wird verwaltet, aber nicht regiert, der Verwaltungsaufwand steigt ebenso wie die Regelungsdichte, echte Perspektiven gibt es nicht, aus diesem Grunde ist das System nicht ernsthaft entwicklungsfähig. Diese These der rückläufigen Stagnation werde ich in einem ersten Teil durchspielen, und dies weniger lustvoll als besorgt (2). In einem zweiten Teil gehe ich auf die Frage ein, wo überhaupt nur Entwicklungen möglich sind, wenn das System nicht neu gebaut werden kann (2). Abschliessend diskutiere ich Strategien und Instrumente der Entwicklung, die nicht zufällig im Ausland entstanden sind und auf das deutsche System hin angepasst werden müssten (3). 1. Ausbau und Stagnation Organisierte Bildung in effizienter Form gilt als deutsche Erfindung, wobei schon GEORG PICHT (1965, S. 9) auf das 19. Jahrhundert verwiesen hat, in dem, wie es heisst, der “Aufstieg Deutschlands” durch den “Ausbau der Universitäten und Schulen begründet” worden sei. Danach jedoch müsse ein steter Qualitätsverlust beklagt werden. Das durchschnittliche Leistungsniveau der höheren Schule und der Studenten, schrieb PICHT 1964, sei “weit hinter den Massstäben zurückgeblieben, die noch vor vierzig Jahren als selbstverständlich galten”. Und wie zur Beantwortung meiner Frage nach der Verantwortung und scheinbar direkt anschliessbar an die PISA-Debatte heisst es dann: “Wir müssen die Irrwege der deutschen Politik durch einen erschreckenden Qualitätsverlust bezahlen. Aber der Niedergang der Qualität tritt nicht nur an den höheren Bildungsanstalten in Erscheinung. Wir treffen ihn ebenso in Industrie und Handwerk, er macht auch vor der Landwirtschaft nicht halt und bestimmt weithin den Stil der Politik. Der Qualitätsschwund ist epidemisch geworden, und eine solche Epidemie lässt sich nicht durch verschärfte Prüfungsbestimmungen bekämpfen” (ebd., S. 19/20). Der “Qualitätsschwund” wird statistisch bestimmt. PICHT bezieht sich wesentlich auf die 1963 veröffentlichte dritte OECD-Studie zur Entwicklung des wissenschaftlichen und technischen Personals, gemäss der die Bundesrepublik “im internationalen Vergleich” als “rückständig” eingeschätzt wird (ebd., S. 23). Sie hat wesentlich zu wenig Abiturienten und mangelhafte mittlere Bildungsabschlüsse, die weit zu geringen Zahlen führen dazu, dass die wissenschaftlich-technische Qualität sinkt und der Standort Deutschland gefährdet ist. Weitere Indizes für die schlechte Qualität der deutschen Schulen sind der fehlende Fremdsprachenunterricht in den Volksschulen, die vor allem von der katholischen Kirche geförderte “Vernachlässigung der ländlichen Schulen”, das “Schulraum-Defizit” und die fehlende Bildungsplanung (S. 24ff.). Wesentlich für die Wirkung von PICHTS Kassandra-Ruf ist allerdings eine entschiedene Verlagerung des Grundthemas der Bildungspolitik: “In der modernen ‚Leistungsgesellschaft’ heisst soziale Gerechtigkeit nichts anderes als gerechte Verteilung der Bildungschancen; denn von den Bildungschancen hängen der soziale Aufstieg und die Verteilung der Einkommen ab” (ebd., S. 21). Exakt das ist die Philosophie hinter PISA: Die Schule, so PICHT, ist “ein sozialpolitischer Direktionsmechanismus”, der, wie es damals noch heissen konnte, die soziale Struktur stärker bestimmt als die Sozialgesetzgebung (ebd., S. 22). Seitdem ist in der deutschen Diskussion das Thema Chancengleichheit angesagt, ohne je wirklich Klarheit zu erlangen. Was genau unter “Chancengleichheit” verstanden und was darunter nicht verstanden werden soll, ist nie bestimmt worden. “Chancengleichheit” war eine Politikformel, kein Konzept, faktisch hiess Chancengleichheit Öffnung der Gymnasien und Anstieg der Abiturientenzahlen, was bei gleichzeitiger Verbreiterung der gymnasialorientierten Mittelschicht keineswegs die Bildungschancen für alle verbesserte. Versucht wurde, mit einem hoch selektiven System eine gerechte Verteilung der Bildungschancen für alle zu erreichen, was im Ansatz scheitern musste. Daher kehrt das Thema nicht zufällig zurück, und nicht nur das, es trifft auf das gleiche System. Das ist auf den ersten Blick eine riskante Behauptung, denn alle Forderungen von GEORG PICHT wurden erfüllt: Seit 1964 wurden die Abiturientenzahlen massiv erhöht, weit über das hinaus was PICHT ursprünglich gefordert hatte, der Fremdsprachenunterricht für Volksschüler ist eingeführt worden, der ländliche Schulraum wurde massiv entwickelt, die von PICHT geforderten “Mittelpunktschulen” (ebd., S. 53), die die Dorfschulen des 19. Jahrhunderts ablösen sollten, sind eingeführt worden, die Schulraumnot ist mit einem hohen Aufwand an Neubauten beseitigt worden, die Bildungsplanung wurde etabliert und auch die Lehrerbildung wurde ausgebaut. Selbst was PICHT die “Reform an Haupt und Gliedern” der Kultusverwaltung nannte (ebd., S. 63), wurde realisiert, wenigstens in Ansätzen. Das Ergebnis dieser Massnahmen scheint eine neue “deutsche Bildungskatastrophe” zu sein. Die Erhöhung der Abiturientenzahlen hat Hauptschulabschlüsse massiv entwertet, der Ausbau des Fremdsprachenunterrichts hat die Lese- und Sprachkompetenz nicht verbessert, die Mittelpunktschulen haben die Dörfer pädagogisch entkernt, die Neubauten der sechziger und siebziger Jahre sind heute Sanierungsfälle, die Bildungsplanung ist weitgehend prognoseunfähig, die Lehrerbildung ist nicht nur uneffektiv, sondern offenbar entwicklungsunfähig, und die Reform der Kultusbürokratie hat diese zu einem Wasserkopf werden lassen. Deswegen kann man auf sehr paradoxe Weise auf PICHT zurückkommen und seinen Satz zitieren: “Jedes Volk hat das Bildungswesen, das es verdient” (ebd., S. 68). Aber das ist auch ungerecht, denn tatsächlich haben die grossen Anstrengungen der Bildungsreform nach 1964 das System sehr nachhaltig verändert, und zwar so sehr, dass GEORG PICHT die heutige Schule nicht wiedererkennen würde. Man muss nur andere Parameter der Systementwicklung betrachten als die, die PICHT in seinem “Entwurf eines Notstandsprogramms” (S. 50) vor Augen hatte, also nicht lediglich die legendäre Verdoppelung der Abiturientenzahl, die drastische Erhöhung der Lehrerstellen und die Neuordnung der Kulturverwaltung (ebd., S. 53ff.). Aber als Reaktion auf die “deutsche Bildungskatastrophe” ist das System insgesamt dynamisiert worden, und dies keineswegs zum Nachteil der Beteiligten. Die Durchlässigkeit, auch wenn sie immer noch nicht ausreichend sein mag, ist massiv verbessert worden. Die Chancen vor allem der Mädchen wurden deutlich erhöht, die Risiken ländlicher Beschulung sind weitgehend verschwunden. Die Ausstattung und die Budgets der Schulen wurden gesteigert, die Besoldung der Lehrkräfte wurde angenähert, die Fort- und Weiterbildung ist ausgebaut worden, das Fächerspektrum wurde ausgeweitet und die demographischen Schwankungen haben bislang nicht zu starken finanziellen Ausschlägen oder massiven Kürzungen des Personals geführt. Aber wieso dann das schlechte PISA-Resultat? Eine Antwort auf diese Frage geht dahin, dass PICHT und die seiner Analyse folgende Bildungsentwicklung nicht die entscheidenden Faktoren in den Mittelpunkt gestellt haben. Was die tatsächliche Qualität der Schule ausmacht, wie sie zustande kommt und was getan werden muss, sie zu entwickeln, ist nie wirklich bestimmt worden. Ausbau des Systems und Steigerung der Ausgaben können dann zu einer Verschlechterung der Qualität beitragen, wenn unbestimmt bleibt, wo und wie Qualitätsgewinne erzielt werden können. Das gesamte System wird einfach angehoben, ohne sich zu verändern; was dann steigt, sind die Besoldung, die Budgets, die Ausstattungen, die Schülerzahlen, die Zahl der Lehrkräfte, aber damit nicht gleichsam automatisch auch die Qualität. More of the same nennt man das in der Bildungsökonomie, und ich vermute, dass mit dieser Formel die Entwicklung des deutschen Systems nach 1964 gut erfasst wird. Die Grundschulen sind reformiert, die Gymnasien sind ausgebaut, die Universitäten entwickelt worden, sie haben sich zum Teil massiv verändert, aber die Struktur des Systems blieb erhalten, und zwar unangetastet. Gesamtschulen wurden am Rande entwickelt und waren am Markt der Elternnachfrage nicht durchsetzbar. Verschoben haben sich die Zahlen, nicht die Systemteile: Immer noch, entgegen allen internationalen Trends, erfolgt die erste und ausschlaggebende Selektion nach vier Schuljahren. Das System nicht gestuft, sondern de facto dreigliedrig. Die Übergänge zwischen den Systemteilen sind weitgehend ungeregelt. Die Lehrkräfte unterscheiden sich mit zum Teil hoch diskrepanten Mentalitäten und Einstellungen. Die Systemteile entwickeln sich auseinander. Was PICHT als dramatischen Qualitätsverlust bezeichnete, ist datenmässig nie nachgewiesen worden und hätte mangels Konzept von “Qualität” auch kaum nachgewiesen werden können. Den Qualitätsverlust gibt es als Klagesemantik, nicht als langfristige Datenaufnahme. Im deutschen System ist “Qualität” nie präzise bestimmt worden, wenn, dann handelt es sich um eine Art Phantombild, und zwar eines, das auf Selbstzuschreibungen beruht. Das erklärt die Verunsicherung nach PISA, sie ist Bestätigung und Kränkung zugleich. Irgendwie hat man es immer geahnt und konnte doch gut damit leben, es nicht wahrhaben zu müssen, weil klare Daten gar nicht vorlagen. Die Schule, nochmals, wird verwaltet, nicht entwickelt. Der unvergleichbar hohe bürokratische Aufwand führt paradoxerweise dazu, Schulen weitgehend unkontrolliert zu lassen. Es gibt, anders gesagt, keine wirklich griffigen Parameter der Qualitätssicherung. Die Schulaufsicht ist schwach und schulfern, die Schulleitung ist kollegial gebremst, echte Entwicklungsziele sind nicht vorhanden und ernsthafte Bilanzen der je erreichten Qualität müssen nicht gezogen werden. Es genügt die Anpassung an die Erlasslage. Aussenbeobachtung gibt es nicht, das System ist geschlossen und kommuniziert weitgehend nur mit sich selbst. Daher kann gesagt werden, dass paradoxerweise der Ausbau des Systems die Stagnation befördert hat. Es ist rückblickend ziemlich leichtsinnig gewesen, eine “Bildungskatastrophe” auszurufen und aber neue Strategien der Systementwicklung gar nicht zur Verfügung zu haben. Dass Bildungsplanung, also vorausschauender Wandel, zum erratischen Block Schule gar nicht passen könnte, ist ebenso wenig erwogen worden, wie die Beharrungstendenzen der Lehrerbildung oder die Macht der historischen Privilegien, die auf höheren Niveaus einfach fortgeschrieben wurden, wie sich am Ressourcenverhältnis zwischen Gymnasien und Hauptschulen gut zeigen lässt. Der Versuch, ein einheitliches Schulwesen zu begründen, ist selbst in der untergegangenen DDR nie wirklich gelungen, und ein erneuter Versuch in dieser Richtung würde vermutlich schon daran scheitern, dass auf das sozialistische Experiment verwiesen werden kann. Aber was soll man ändern, wenn kaum etwas wirklich dem Veränderungsdruck nachgibt? Es bleibt nur übrig, das bestehende System möglichst intelligent zu entwickeln. Aber wie soll das gelingen, wenn dieses System voller Widersprüche steckt, Dilemmata bearbeitet und sicher nicht neu erfunden wird? Die wahrscheinlichste Antwort auf PISA ist, dass nichts geschieht, wenigstens nicht in substantieller Hinsicht, ausgenommen, dass die Studie dreimal wiederholt wird. Soll mehr geschehen, muss überlegt werden, wie die fast 670.000 voll angestellten Lehrerinnen und Lehrer an deutschen Schulen, viele überaltert und berufsmüde, auf Systementwicklungen vorbereitet werden können, die sie oft nicht wollen oder die sie angesichts der eigenen Resignationsgrenzen nicht mehr für möglich halten. Die Frage muss gestellt werden, ob das Personal für eine grössere Veränderung überhaupt zur Verfügung steht und wenn nein, ob damit jeglicher Wandel ausgeschlossen ist. Jede Systementwicklung muss zudem enorme Diskrepanzen zwischen den Ländern, Regionen und Standorten voraussetzen. Die Abnutzungserscheinungen sind nicht zu übersehen, aber das System kann immer noch seine Illusionen pflegen, geschützt durch die schiere Grösse, die verhindert, dass Appelle wirksam werden. Vom Ruck, der im November 1997 ausgerufen wurde, ist bekanntlich kaum die Anspannung eines Muskels zu spüren gewesen, weil der Gegenstand falsch eingeschätzt wurde. Schulentwicklung gleicht einer Springprozession, bei zwei Sprüngen nach vorn sind drei Sprünge zurück nicht unmöglich. Das ist wiederum leicht zu erklären, denn oft findet Entwicklung - also die sichtbare Verbesserung der Qualität innerhalb einer bestimmten Frist - gar nicht statt, weil weder echte Ziele verfolgt wurden noch geeignete Instrumente zur Verfügung standen. Erreicht werden oft nur Placebo-Effekte, man fühlt, was nicht da ist. Die Realitäten sind entsprechend: Gemäss dem OECD-Bericht über die Ergebnisse der PISA-Studie zählt Deutschland zu den Ländern, in denen eine “starke Segregation der Schülerinnen und Schüler nach sozioökonomischen Merkmalen zu beobachten ist” (Lernen für das Leben 2001, S. 233). In solchen Ländern können Privatschulen oder “besonders anspruchsvolle Schultypen oder Bildungszweige innerhalb des öffentlichen Bildungswesens … zur sozioökonomischen Segregation” beitragen. Das ist eine klare Kritik der frühen Selektion und der diskrepanten Leistungserwartungen in einem gegliederten Schulsystem. Es kann nicht folgenlos sein, wenn in einem System ungleiche Anforderungen bestehen und hohe Erwartungen nur gegenüber einer bestimmten Gruppe gestellt werden, was vor allem mit der Selektion nach Schultypen zu tun hat. So gesehen sind die Gymnasien die Hindernisse der Schulreform, und zwar je erfolgreicher sie sind. Was aber tut man, wenn man weder die Gymnasien abschaffen noch die Grund- und Hauptschulen zu neuartigen Gesamtschulen entwickeln kann? Was soll sinnvollerweise geschehen, wenn keine Primarstufe nach angelsächsischem Vorbild kommt, die Selektion nach vier Jahren erhalten bleibt und ein Drittel der Schüler weiterhin unattraktive Restschulen besuchen muss? Ansätze der Systementwicklung sind Thema in meinem zweiten Teil, wobei ich nicht den Propheten spielen werde, sondern aufliste, was denkbar ist und möglich erscheint, vorausgesetzt immer die Unwägbarkeiten der Finanzpolitik. Der Protestant GEORG PICHT (1965, S. 30) scheute sich übrigens nicht, Schuldige zu benennen, die er genau hier auszumachen glaubte. 2. Ansätze zur Systementwicklung Für die OECD ist die deutsche Krankheit kurierbar, allerdings mit Schnitten, die weh tun und in Deutschland vermutlich wohl kaum auf Konsens stossen würden. Soll die durchschnittliche Qualität der Bildung gesteigert und die Chancengleichheit verbessert werden, so die OECD, dann “müsste den Unterschieden zwischen den Schulen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden”. Dazu werden drei allgemeine Strategien in Anschlag gebracht: Abbau der sozioökonomischen Segregation zwischen den Schulen, eine differenzierte Ressourcenzuweisung für verschiedene Schultypen und Lehrprogramme sowie differenzierte, angemessene Bildungsprogramme für Schülerinnen und Schüler. Zentral müsse die Frage gestellt werden, “inwieweit die schulische Ressourcenzuweisung innerhalb eines Landes mit dem sozioökonomischen Hintergrund der aufgenommenen Schülerinnen und Schüler der einzelnen Schulen in Zusammenhang steht” (ebd., S. 233). Übersetzt auf deutsche Verhältnisse ist damit das Prinzip in Frage gestellt, die Investitionen nach der Höhe der Bildungsstufe oder des Bildungstyps auszurichten, also anteilsmässig wesentlich mehr in Gymnasien als in Grund- und Hauptschulen zu investieren. Ressourcen sind ausschlaggebend für den Schulerfolg, sie bestimmen die Gelegenheiten zu lernen, was sie ausschliessen, kann keine Lehrkraft zurückholen. Im Mittelpunkt der künftigen Bildungspolitik, so die Autoren der OECD-Studie, müsse die Orientierung an den Ländern stehen, denen es, wie Finnland, gelungen ist, die Ressourcen optimal einzusetzen, nämlich “sowohl ein hohes Mass an Bildungsqualität als auch an Bildungsgleichheit zu erzielen” (ebd., S. 240; Hervorhebungen J.O.). “Die Frage ist nur, wie dieses Problem in anderen Ländern gelöst werden kann. Die Umsiedlung sämtlicher Schüler in Schulen mit gehobenem sozioökonomischem Status ist logischerweise unmöglich. Der Politik bieten sich somit nur zwei Optionen: entweder zu versuchen, die sozioökonomische Segregation zu beseitigen, oder deren Effekte abzumildern. Im Mittelpunkt muss dabei in jedem Falle die Bemühung stehen, die mit der sozialen Segregation verbundenen Qualitätsgewinne zu reproduzieren und zugleich die Vorteile einer stärkeren Bildungsgleichheit zu realisieren” (ebd.). Die Qualitätsgewinne aus der “sozialen Segregation” beziehen sich auf die These der Herkunftsmilieus. Die ökonomisch starken und zugleich bildungsnahen Milieus tragen nachhaltig zur Bildungsqualität bei, Schüler anderer Milieus müssten davon profitieren können und dürften also nicht ausgeschlossen werden. Das Problem ist, dass die bildungsnahen Milieus in Deutschland fast ausschliesslich gymnasialbezogen sind, sie setzen mit der Option für den Schultyp Ungleichheit und nicht Bildungsgleichheit voraus, während aus der PISA-Studie klar eine Option für selektionsfreie Gesamtschulen wie in Finnland hervorgeht. Das erklärt die Wiederaufnahme der Gesamtschul-Diskussion, wobei zumeist übersehen wird, dass Finnland 1970 eine Gesamtschule im politischen Konsens eingeführt hat, der seinerzeit in Deutschland nicht gegeben war und der auf absehbare Zeit auch nicht zustande kommen dürfte. Zudem sind die bestehenden deutschen Gesamtschulen nicht vergleichbar mit den finnischen, wobei nur am Rande bemerkt werden kann, dass die gesamte Schulorganisation, einschliesslich der hohen Befugnisse der örtlichen Schulleitungen, unterschiedlich ist. Man kann fremde Bildungssysteme, und seien sie noch so erfolgreich, nicht einfach kopieren. Es gibt nur zwei wirkliche Optionen der Bildungspolitik, Bewahrung des Status Quo oder Entwicklung des eigenen Systems. Sollen die schlechten Leistungen, für die der Status Quo verantwortlich ist, verbessert werden, muss sehr genau überlegt werden, an welchen Stellen sich das je eigene System ernsthaft verbessern lässt. Das vor allem wäre die Aufgabe einer an Reform orientierten Bildungspolitik, die von den anderen Systemen lernen kann, was diese zur Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit unternommen haben, in welchen Zeiträumen das geschehen ist und welche Instrumente dabei zur Verfügung standen. Man kopiert damit nicht das System, sondern adaptiert erfolgreiche Parameter der Entwicklung. Auffällig am deutschen System ist, dass regelmässig “Bildungskatastrophen” ausgerufen werden, die zu hektischen Reaktionen zwingen, angesichts derer die langfristige und geduldige Entwicklungsarbeit vernachlässigt wird. Die sanierungsbedürftigen Schulbauten sind dafür nur das sichtbare Zeichen. Bei Einweihung hat niemand daran gedacht, Rücklagen für die Sanierung zu bilden, also sich auf Abnutzung und Renovation einzustellen. Ähnlich haben Schulen und Lehrkräfte trotz Verschleiss keine Entwicklungsperspektive, und vorsorgliche Regeneration des Personals ist eine systemfremde Grösse. Zudem sind zumindest in der Vergangenheit viele Entscheide ideologisch motiviert gewesen, ohne sich auf Forschungsdaten abzustützen. Neue Modelle wurden nicht erprobt, sondern gleich eingeführt, der erste Test war der Ernstfall, und das lässt die Reformresistenz der Praxis in einem anderen Licht erscheinen. Aber was soll nun konkret unternommen werden, die mit PISA bescheinigte, durchschnittlich schlechte Qualität der deutschen Schülerinnen und Schüler zu verbessern? Die OECD-Studie verkennt nicht, dass die “sozialen Hintergrundfaktoren” zu denjenigen gehören, die sich am stärksten auf die Leistungen auswirken (ebd., S. 251) und zugleich nur schwer und in gewissen Hinsichten einzig langfristig zu beeinflussen sind (ebd., S. 232). Aus den Daten geht hervor, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Schulen in Deutschland “hauptsächlich auf die Verteilung der Schüler auf allgemeinbildende oder berufsbildende Schulen zurückzuführen (ist)” (ebd., S. 239; Hervorhebung J.O.). Die Verteilung der Schüler hängt von deren Leistungen ab, “die wiederum in einem sehr engen Zusammenhang mit ihrem sozioökonomischen Hintergrund stehen” (ebd.). Im Blick auf Lesekompetenz etwa erklären familiärer Hintergrund der Schüler und sozioökonomischer Status “66% der Leistungsdifferenzen zwischen den Schulen” (ebd., S. 244). Schulische Faktoren und sozioökonomische Hintergrundfaktoren verstärken sich wechselseitig, und zwar in positiver wie in negativer Hinsicht (ebd., S. 245/246). Direkter beeinflussbar sind die schulischen Faktoren, die 31% der Leistungsunterschiede zwischen den Schulen innerhalb eines Landes erklären können (ebd., S. 244). Gemeint sind Faktoren wie Ressourcenzuteilung und Ressourcennutzung Die Lehrer/Schüler-Quote Qualität der Lehrkräfte Aspekte der Praxis der Schulen Unterrichtspraktiken. Wer überflüssige ideologische Debatten vermeiden will, sollte hier ansetzen, und zwar auch dann, wenn sich soziale Ungleichheit auf durchschnittliche Schulleistungen niederschlägt. Die Massnahmen und Erfahrungen anderer Systeme sind, wie gesagt, nur sehr begrenzt übertragbar, oder anders: Jede Übernahme neuer Strategien muss auf Verträglichkeit hin getestet werden, wenn nicht von vornherein Scheitern in Kauf genommen werden soll. Die aussichtsreichen Stellen der Systementwicklung müssen national bestimmt werden, und dies vor dem Hintergrund von Trägheit und Beharrung. Dass nichts geschieht, nochmals, ist die wahrscheinlichste Variante. Für eine Politik der Veränderung geben die PISA-Daten folgendes Bild vor: Die gezielte Nutzung der schulischen Ressourcen wirkt sich direkt auf die Schülerleistungen aus, ebenso, wenngleich nicht linear, die Schüler/Lehrer-Quote (ebd., S. 241/242). Die Leistungen steigen auch mit der Zunahme der Qualität der Lehrkräfte, also sind dann höher, wenn “ein grösserer Prozentsatz der Lehrkräfte eine besondere Ausbildung für die von ihnen unterrichteten Fächer erhalten haben” (ebd., S. 243). Das spricht zum Beispiel gegen das pauschale Zusammenlegen von Fächern ohne Nachausbildung der Lehrkräfte. Weiter wirken sich statistisch signifikant drei Aspekte der Praxis aus, nämlich das Schulklima, die Arbeitshaltung der Lehrkräfte und die Autonomie der Schule (ebd., S. 243). Auf der Ebene des Unterrichts haben das Schüler-Lehrer-Verhältnis und die Schuldisziplin die höchsten Zusammenhänge im Blick auf das Zustandekommen der Leistungen. Generell gilt: “Länder mit mehr Schulautonomie” können in der Tendenz “bessere durchschnittliche Schülerleistungen vorweisen” (ebd., S. 213). Schulautonomie bezieht sich auf eine Reihe von Faktoren, die von der Einstellung der Lehrkräfte über Verwendung der Budgets bis zur Wahl der Lehrmittel reichen. Gemeinsam ist allen, dass sie Flexibilität voraussetzen. Deutschland gehört zu den Ländern mit dem geringsten Autonomiegrad (ebd., S. 206ff.) und dem höchsten Verwaltungsaufkommen. Schulentwicklung müsste hier ansetzen, einhergehend mit der gezielten Förderung “bestimmter Schülergruppen” (ebd., S. 226), was wiederum nicht möglich wäre ohne hohe innere Flexibilität. Der OECD-Bericht empfiehlt die gezielte Reaktion auf spezifische Problemgruppen, was zum Beispiel einen flexiblen Lektionenpool, Leistungstests oder echte Prioritäten der Schulentwicklung voraussetzt. Das spricht dafür, die Schulleitung grundlegend anders zu fassen und neu zu entwickeln. Die gezielte Förderung von Problemgruppen verlangt hohe innere Koordination und ist im blossen Vertrauen auf Kollegialität nicht zu haben. Ein solches Ziel muss notfalls auch gegen Widerstände durchgesetzt werden können, kontinuierlich angestrebt werden und ist daher ein vorrangiges Entwicklungsziel der Schule, dem die Schulleitung Priorität verleiht. Ohne eine solche Steuerung wird auch die Vier-Milliarden-Euro-Ganztagsschule nur dort die PISA-Bilanz verbessern, wo zufälliges Engagement vorhanden ist. Sollen zum Beispiel Leseschwächen minimiert oder die eklatanten Leistungsunterschiede zwischen den Geschlechtern ausgeglichen werden, muss dafür jemand zuständig und verantwortlich sein. Der Hinweis, dass eine solche Steuerung mit der Lehrerfort- und Weiterbildung erreicht werden kann, ist dünn und lenkt vom Problem ab. Die derzeitige Fortbildung ist keine Personalentwicklung, sie streut Kompetenzen und bündelt sie nicht. Ausserhalb dessen, was PISA gemessen hat und empfiehlt, lässt sich hinzufügen, dass höhere Autonomie einhergehen muss mit besserer Zielsteuerung und neuen Formen des Controlling. Zudem müssen die Systemteile besser als bisher abgestimmt werden, was Standardisierung und Leistungsorientierung nicht zuletzt auch des Primarbereichs voraussetzt. Wenn wirklich Allgemeinbildung in Kompetenzen gemessen werden soll, dann muss das die Zielsteuerung bestimmen, anders bleibt der Aufbau der fachlichen und instrumentellen Kompetenz dem Zufall oder der Herkunft überlassen. Für die Lehrplanentwicklung würde daraus folgen, sie auf Kompetenzstufen anzulegen und dabei ein hohes, durchgehendes Anforderungsniveau zugrunde zu legen. Das setzt allerdings voraus, dass gezielte Förderung der leistungsschwachen Schüler zur Entwicklungsmaxime wird. Andernfalls ist der Milieuvorteil immer stärker und entsteht keine Anhebung des durchschnittlichen Leistungsniveaus, weil die Selektion immer stärker ist als die curriculare Nachsteuerung. Der grosse Anlass der Diskussion, die schlechten Leseleistungen deutscher Schüler, kann nur mit gezielten Förderungen der Schwächsten bearbeitet werden (ebd., S. 66f. u. pass.). Das verlangt wiederum höhere Flexibilität und andere Steuerungsmechanismen. Leseleistungen müssen operativ definiert und objektiv skaliert werden, dafür ist das Kompetenzkonstrukt der PISA-Studie sehr geeignet. Anwendbar ist es allerdings nur, wenn die Diagnosefähigkeit der Lehrkräfte darauf abgestimmt und zugleich die Standards des Lesenlernens darauf eingestellt sind. Das würde eine Überprüfung der Methoden und Lehrmittel nicht lediglich des Erstleseunterrichts, sondern des gesamten schulischen Leselernens verlangen. Zudem muss Lesekompetenz jene Priorität erhalten, die der OECD-Bericht voraussetzt, dies für alle Kompetenzniveaus und aber mit besonderem Gewicht für den Ausgleich der schwächsten Schülerleistungen. Das macht bildungspolitische Grundsatzdiskussionen nicht überflüssig, im Gegenteil, nur sollten sie vom ideologischen Ballast befreit werden. RAY RIST (1970/2000), inzwischen Mitarbeiter der Weltbank, hat bereits 1970 in einem denkwürdigen Artikel für Harvard Educational Review darauf verwiesen, dass zwischen der pädagogischen Rhetorik der Chancengleichheit und der sozialen Wirklichkeit in den Schulen nicht eine abnehmende, sondern eine zunehmende Kluft besteht, die zum politischen Handeln auffordert. Die Politik kann nicht einfach der Rhetorik folgen, wenn wirklich etwas für die getan werden soll, die zu den notorischen Verlierern des Bildungssystems gehören. Sie kann man nicht einfach zum Besuch schlechter Schulen zwingen, zumal dann nicht, wenn diese Schulen sichtbar ihre Qualität nicht verbessern können. Damit würde man, ähnlich wie PICHT dies sechs Jahre zuvor gesagt hat, das soziale Schicksal qua Schulbesuch festlegen, was dem Gebot der Chancengleichheit eklatant widersprechen würde. Auf diese Situation hat die amerikanische Politik inzwischen reagiert. Am 8. Januar 2002 unterzeichnete der amerikanische Präsident GEORGE W. BUSH den lange umstrittenen No Child Left Behind Act of 2001, ein neues Bundesgesetz, das die Bildungsförderung auf eine neue Grundlage stellt. In einer Regierungserklärung vom Januar 2001 hatte BUSH den öffentlichen Schulen sein “tiefes Vertrauen” ausgesprochen, aber gleichzeitig seiner Beunruhigung Ausdruck verliehen, dass “too many of our neediest children are being left behind”, obwohl seit 1965 mehr als $200 Billionen Dollar allein aus Bundesmitteln in die öffentliche Bildung geflossen sind. Das Gesetz No Child Left Behind trägt dieser Frage Rechnung: Wie können die Mittel effizienter so eingesetzt werden, dass auch und vor allem die Kinder profitieren, die die Schule bislang am wenigsten nutzen konnten. Das Gesetz stellt vier Strategien in den Mittelpunkt, die sämtlich auf die Forderung nach mehr Effizienz reagieren: Increased Accountability: Verbesserte Leistungsbilanz und Steuerung des Systems vom Resultat aus More Choices for Parents and Students: Verbesserte Schulwahl und Einsatz von Bildungsgutscheinen Greater Flexibility for States, School Districts, and Schools: Verbesserter Mitteleinsatz und flexiblere Reaktion auf Probleme vor Ort Putting Reading First: Verbesserung der Elementarbildung mit dem Vorrang der Leseförderung Die Leistungsbilanzen von Schulen müssen sich an Standards orientieren, die erreichte Qualität wird regelmässig getestet werden und zwischen den Schulen wird es Wettbewerb geben. Die je erreichte Qualität wird öffentlich gemacht. Die Schulwahl und der Einsatz von Bildungsgutscheinen soll Eltern und Schülern die Chance geben, Schulen, die als schlecht identifiziert wurden, verlassen zu können, ohne dadurch Nachteile zu erlangen. Die lokalen Schulbehörden können dafür Bundesmittel flexibel einsetzen, ebenso wie für die gezielte Verbesserung der schlechten Schulen. Bei dem ganzen Programm spielt die Anhebung basaler Kompetenzen, vor allem Lesen, von Kindern aus bildungsfernen Milieus eine zentrale Rolle. Das Gesetz regelt auch, dass nur noch solche Methoden des Unterrichts zugelassen sind, die mit empirischen Daten nachweisen, dass sie Erfolg haben. Das Gesetz ist als neo-konservativ bekämpft worden, ob allerdings mit dem Kampf gegen das Phantom des “Neo-Konservativismus” der bildungspolitische Trend gestoppt werden kann, ist fraglich. Eher ist wahrscheinlich, dass eine ähnliche Diskussion auch in Deutschland Platz greift, und zwar in allen vier Bereichen, also der Bildungsfinanzierung, der lokalen Kontrolle, der internen Flexibilisierung sowie der empirischen Beschreibung der Effekte. Mit dem Education Reform Act von 1988 setzte in England eine ähnliche Entwicklung ein, die beim Wechsel der politischen Administration nicht etwa aufgegeben, sondern noch verstärkt wurde, verbessert um Elemente zum Beispiel der Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte, die die konservative Regierung nicht durchsetzen konnte oder wollte. Zudem stiegen mit diesem Gesetz unter der Regierung BLAIR die Bildungsausgaben signifikant und wurde die Steuerung vom Resultat her verstärkt (BARBER 2002). Man kann auch vermuten, dass auch in Deutschland erst eine solche innere Flexibilisierung durchgesetzt werden muss, bevor ernsthaft über eine Neuordnung des Systems nachgedacht werden kann (OELKERS 2003). In Deutschland ist es bisher umgekehrt, man denkt periodisch über eine neue Systemordnung nach, die dann nie realisiert wird, weil die ideologischen Widerstände viel zu gross sind. Solange die Gymnasien als Schulen der Begabten erscheinen und die Hauptschule als die Restschule für die Ausländer und Modernisierungsverlierer, solange dürfte es schwer sein, das System neu zu ordnen, weil die Praxis immer als Bestätigung der Ideologie verstanden werden kann. Dagegen ist Systementwicklung mühsame Arbeit, die neue Instrumente und Formate durchsetzen muss, wenn sie gegen die oft kaum greifbaren Widerstände des Systems Erfolg haben will. Diese Frage wird mich abschliessend beschäftigen, und zwar vor dem Hintergrund einer auch in Deutschland aktuellen Frage, nämlich der Einführung von Bildungsstandards. Ich halte die Frage der Standards für zentral, ohne sie ist Qualitätssicherung bei steigender Schulautonomie nicht möglich. Aber wie reagiert darauf ein bürokratisches System? 3. Standards und Qualitätssicherung Wie vermeidet man, dass heutige Massnahmen der Schulentwicklung von der nächsten Generation Kritiker erneut als “Bildungskatastrophe” wahrgenommen wird? Die Antwort ist einfach, man muss diese Generation an der Entwicklung beteiligen, also nicht einfach heute Entscheide treffen, die sich in Zukunft auswirken, aber die von der künftigen Generation weder beeinflusst noch ihrerseits entwickelt werden können. Von “Bildungskatastrophen” ist dann die Rede, wenn Zielsetzungen und Ertrag weit auseinander liegen, was dann der Fall ist, wenn es keine fortlaufenden Zielkorrekturen gibt und die Erfahrungen des Systems nicht ständig auf neue Anforderungen hin angepasst werden. In diesem Sinne ist das deutsche Bildungssystem nicht flexibel, es wird periodisch re-formiert und bleibt doch im Kern erhalten, weil Reform Verordnung ist und nicht wirklich Entwicklung. Das lässt sich an einem zentralen Thema zeigen, das auch demonstriert, wie nahe inzwischen die amerikanische Bildungspolitik an das deutsche System herangerückt ist. Die Rede ist von “Bildungsstandards”, deren Entwicklung als die vermutlich nachhaltigste Reaktion auf PISA angesehen werden kann. Aber wie geschieht das? “Bildungsstandards”, ohne dass von den Lehrkräften jemand genau wüsste, was darunter zu verstehen ist und wo der Gewinn liegt gegenüber den früheren “Lernzielen” (RAVITCH 1995, SCHUPPLI/Z’GRAGGEN 2002), werden von der KMK in Auftrag gegeben, von Experten formuliert, von der Kultusbürokratie den jeweiligen Bedürfnissen der Bundesländer angepasst und dann verordnet. PISA drückt auf das bildungspolitische Tempo, ein Entwicklungsvorlauf wird offenbar nicht angestrebt, aber ohne neuartige Strategien der Qualitätssicherung wird sich mit der Verordnung von “Bildungsstandards” wenig erreichen lassen. Sie bleiben ohne hohen Aufwand an Implementation Fremdkörper im Alltag oder werden vom hoch entwickelten Immunsystem der Schulen abgestossen. Bei der wiederum sehr hektischen Diskussion von “Bildungsstandards” ist auf auffällige Weise übersehen worden, dass Schulen robuste Systeme sind, die schon ganz andere Reformen überstanden haben. Der Unterricht der Lehrkräfte ist weitgehend unkontrolliert, warum sollten sie sich plötzlich an Standards halten? Und wie sollten sie das tun, wenn ihr didaktisches Repertoire keine zweite Entwicklungschance erhält? Die Unterrichtsqualität und so die Leistungen der Schülerinnen und Schüler hängen sehr weitgehend von den Fähigkeiten und dem Geschick der Lehrkräfte ab. Die professionelle Kompetenz entsteht massgeblich in den ersten Berufsjahren (LARCHER KLEE 2002) und wird danach in den meisten Fällen nicht mehr grundlegend erneuert, zumal nicht im Hinblick auf die zeitintensiven Themen und das Repertoire der Unterrichtsfächer. Man kann dann vermuten, das die blosse Verordnung von Bildungsstandards einfach nur zu einem semantischen Austausch führen wird, statt von “Lernzielen” ist nun von “Bildungsstandards” die Rede, ohne dass sich im Blick auf Vergleichbarkeit der Anforderungen, die Verbindlichkeit der Themen, die Formate der Noten oder die Transparenz der Kriterien irgend etwa ändert. Die Einführung von Bildungsstandards ist aber eigentlich gedacht zur Systemveränderung. Standards sind inhaltliche und prozedurale Festlegungen mit verbindlichem Charakter, die die Freiheit der einzelnen Lehrkraft beschneiden. Aber kein Angestellter eines Hotels und kein Mitarbeiter einer Fluggesellschaft könnte und würde von sich aus die Standards seines Betriebes verändern, es sei denn zum Vorteil der Firma. Das Einhalten und die weitere Entwicklung von Standards definieren die Qualität des Unternehmens, wer nicht bereit ist, sich mit seiner individuellen Leistung auf diese Voraussetzung einzulassen, hat nicht nur in dem Unternehmen nichts verloren, sondern wird gar nicht erst eingestellt. Insofern sind Standards für das Kenntlichmachen des Aufgabenbereichs, die persönlichen Leistungsanforderungen, die Bewertung der Leistung und die Strategien der Überprüfung zentral, was nicht dadurch zu konterkarieren ist, dass darauf verwiesen wird, Schulen seien eben keine “Unternehmen”. In der französischen Schweiz heisst dieses “Unternehmen” service publique, und das ist nicht dasselbe wie der deutsche “öffentliche Dienst”. Gemeint ist eine Dienstleistung zum öffentlichen Wohl, als die Schulbildung in Deutschland noch immer nicht verstanden wird. Sie ist Teil der staatlichen Verwaltung, Schulen sind im Kern nachgeordnete Behörden, die wohl weitgehend kontrollfrei operieren, aber über nennenswerte Autonomie nicht verfügen. Nicht zufällig war die Autonomie-Diskussion Mitte der neunziger Jahre systemfremd, sie hätte dazu geführt, den Kontrollverlust zu verstärken, ohne wirklich neue Strategien der Systementwicklung einzuführen. Dafür fehlt bislang alles, die Ziele, die Instrumente, die Mentalität und der Habitus. Ziele sind keine erreichbaren und überprüfungsfähigen Grössen, sondern oft kaum mehr als Wunschprosa in Leitbildern. Die Instrumente dienen der Schulbewahrung und nicht der Systementwicklung. Die Mentalität bezieht sich auf starre, nicht auf flexible Verhältnisse. Der Habitus ist aller Rhetorik zum Trotz konservativ, eingestellt auf Wahrung des Besitzstandes. Wer das deutsche Bildungssystem ernsthaft entwickeln will, hat nicht nur ein technisches und organisatorisches Problem vor sich, sondern sieht sich einem gewachsenen Selbstverständnis gegenüber, das vielleicht nichts besser kennzeichnet als die im 19. Jahrhundert entwickelte Propagandaformel “Vater Staat”. Von ihm, als sei er immer noch der pater familias, wird alles erwartet. In Deutschland sind selbst die Privatschulen “staatlich anerkannt” und werden zum grössten Teil mit Staatsmitteln unterhalten. Der Zufluss dieser Mittel aus dem allgemeinen Steueraufkommen scheint selbstverständlich, die Kontrolle der Mittelverwendung ist verpönt, aber genau diese Mentalität ist mit der Einführung von Bildungsstandards herausgefordert. Standards schreiben vor, was innerhalb einer bestimmten Zeit erreicht werden soll, sie legen damit die Ziele fest und das wäre sinnlos, wenn sie nicht mit neuen Kontrollformen verbunden würden. Ob sich die KMK dieser Konsequenzen bewusst war, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber die Einführung von inhaltlichen und prozeduralen Standards macht nur Sinn, wenn zugleich ernsthaft Qualitätssicherung betrieben wird, und zwar auf eine Weise, die bislang systemfremd ist. Zu den Strategien der Qualitätssicherung gehören die Etablierung von kompetenten, weisungsbefugten Schulleitungen, die Einführung von Leistungsverträgen und Mitarbeitergesprächen, die Umstellung der Personalentwicklung auf den Bedarf der einzelnen Schule, die regelmässige Leistungsbeurteilung der Lehrkräfte, die Veränderung der Schulaufsicht in eine Evaluationsagentur, die Entwicklung von Systemen der Beratung und Förderung der Schüler über den Unterricht hinaus, der Aufbau von Feedback-Systemen. Diese Instrumente und Verfahren sind sämtlich im Ausland entwickelt worden, und sie haben insofern etwas mit PISA zu tun, als die besten Systeme darüber, wenngleich unterschiedlich gewichtet, verfügen und ihren Qualitätsvorsprung offenbar nicht zuletzt damit erreicht haben. PISA beschreibt einen internationalen Wettbewerb, dem sich die deutschen Schulen bislang zum eigenen Nachteil entziehen konnten. Autonomere Schulen wird es erst dann gaben, wenn die Bürokratie Zuständigkeiten abgibt. Das setzt voraus, es ist dafür ein geeigneter Adressat vorhanden, nämlich Schulleitungen, die über echte Entscheidungsmacht verfügen. Sie sind in verschiedenen Hinsichten für die Entwicklung ihrer Schule verantwortlich, darunter auch und eigentlich in erster Linie für die Personalentwicklung. Die PISA-Diskussion in Deutschland hat die Frage, wer eigentlich der verantwortliche Träger der Massnahmen sein soll, nicht nur nicht beantwortet, sondern noch nicht einmal gestellt. Aber wer schwache Schüler unterstützen oder hochbegabte fördern will, braucht nicht nur Leitung, sondern die örtliche und regionale Abstimmung von Leitung, also Management. Eine gezielte und berufslange Personalentwicklung wird es ähnlich nur dann geben, wenn dafür jemand zuständig ist. Leistungsverträge kann man nicht kollegial abschliessen, und es wäre ein merkwürdiges Mitarbeitergespräch, wenn sich darin lediglich die informelle Kommunikationskultur des Kollegiums spiegeln würde. Um es klar zu sagen: Schulleitungen sind nicht mehr Teil des Kollegiums, nur dann können sie für Leistungsbeurteilungen zuständig sein oder mindestens daran mitwirken. Keine vergleichende Berufsgruppe kann dermassen kontrollfrei agieren wie die Lehrkräfte, während die Zunahme der Verschleisserscheinungen demonstriert, dass damit kein beruflicher Komfort verbunden ist. Regelmässige Feedbacks, Leistungsbilanzen und die Überprüfung der eigenen Ziele sind die einzigen Möglichkeiten, die berufliche Einsamkeit zu überwinden. Zudem: Jede Schule sollte von unabhängigen Evaluationsagenturen regelmässig auf ihre Qualität hin extern überprüft werden. Die behördliche Schulaufsicht wird ersetzt durch Zielvereinbarungen auf der Basis transparenter Qualitätskontrollen. Evaluiert werden nicht nur Unterricht und Schulklima, sondern auch die schulischen Unterstützungssysteme, der Grad der Partizipation, die Formen das Konfliktmanagement und die Öffentlichkeitsarbeit. Gute Schulen sind etwa solche, die regelmässig Meinungsumfragen bei Eltern und Schülern durchführen, Beschwerdestellen einrichten, ihre Zielsetzungen transparent und nachvollziehbar kommunizieren, die Formate der Notengebung vereinheitlicht haben und Leistungsbilanzen vorlegen. Kriterien wie diese sind vorher bekannt und gelten für alle Schulen gleich, etwa so wie OFSTED in London dies praktiziert oder die “Neue Schulaufsicht” in Zürich. Beide Agenturen vollziehen einen Regierungsauftrag, aber sind nicht der Hierarchie einer Behörde unterstellt, also unabhängig. Soll “Schulentwicklung” mehr sein als eine rhetorische Zumutung, dann muss sie sich konkret fassen und an den Zielen messen lassen. Eine sehr konkrete Fassung sind schulische Lern- und Verhaltensprogramme, mit denen die Ziele der Schule dargestellt, das curriculare Angebot der Fächer expliziert und die moralischen Standards kommuniziert werden. Dabei ist die Ausführung interessant, nicht lediglich die Absicht. Zur Überprüfung der Ausführungsqualität schlage ich Beurteilungen, Evaluationen und Zielvereinbarungen vor, die sämtlich ohne Schulleitungen nicht möglich wären. Das Gleiche gilt für das Erreichen möglichst hoher Transparenz in den schulischen Leistungsanforderungen und Beurteilungsformen. Förderung schliesslich wäre wiederum zufällig, wenn niemand den genauen Bedarf kennt und eine dringliche Priorität nicht vorhanden ist. Umgesetzt würde das zum Beispiel bedeuten, Jahresprogramme für den Fachunterricht zu entwickeln, in denen präzise bestimmt ist, was das inhaltliche Curriculum ausmacht und wie die Leistungen bewertet werden. Transparent sind Anforderungen aber nur dann, wenn zugleich der absehbare Lernaufwand kalkuliert werden kann, und dies vor Beginn der Beurteilungsperiode. Die Fächer müssten sich im Blick auf die Anforderungen, die an die Schüler gestellt werden, abstimmen, so dass die Schüler individuell ihren Lernaufwand, von dem der Erfolg massgeblich abhängig ist, abklären und einteilen könnten. Nach unseren Daten geschieht das heute zumeist nicht. Die Schüler kennen nicht nur die lehrerspezifischen Beurteilungsstrategien nicht, ausgenommen, was sie davon im Unterricht erleben, sie wissen vor allem nicht, was im Beurteilungszeitraum genau auf sie zukommt. Hier wären transparente Programme mit möglichst realistischen Zielsetzungen zu entwickeln. Verlangt wird dabei ein komplexes Management, das über Befugnisse verfügen muss, die sich nicht auf die Leitung von Sitzungen beschränken darf. Standards in diesem Sinne sind eine zentrale Voraussetzung für die gesamte Systementwicklung. Die Qualitätssicherung wird nicht einfach durch bildungsferne Milieus, die Regelungsdichte der Verwaltung oder die Praxisferne der Politik erschwert. Schwierigkeiten mit der Schule sind auch hausgemacht, und sie betreffen nicht nur die aus schulischer Sicht falschen Milieus. Die Einstellung von Schülern und Eltern zur Schule wird nicht leichter, wenn weder Lernprogramme noch transparente Verhaltensregeln vorhanden sind, die Bewertungsmassstäbe der Schülerbeurteilungen nie explizit gemacht werden, die Lehrkräfte keinem Assessment unterliegen, die Schule nur zum Schein Entwicklungsarbeit betreibt und eine wirkliche Zielorientierung nicht vorhanden ist. Schulen scheuen die Festlegung auf wirkliche Ziele, die erreichbar sein müssen und nicht lediglich dem Zweck der Selbstdarstellung dienen. “Erreichbarkeit” impliziert auch die Erklärung, warum bestimmte Ziele nicht erreicht werden konnten, was der Glaubwürdigkeit der Institution vermutlich weit mehr dienen würde als die heutigen Formen der “Leitbilder” und “Schulprofile”. Faktisch betreiben Schulen nur zum Schein “Entwicklungsarbeit”, wenn die Verfahren zur Qualitätssicherung die eingespielten Abläufe etwa der Leistungsbeurteilung gar nicht berühren. Sie werden nur dann wirklich transparent, wenn sie ihre Daten offen legen. Statt also immer neu über einen Kanon zu diskutieren, der ohnehin nie eingeführt und immer umstritten bleiben würde, sollten die Inhalte über Standards formuliert, das Bewertungssystem entwickelt und die Verfahren transparent gemacht werden. Es wäre eine starke Form von Qualitätssicherung, wenn Schüler und Eltern gemäss offen gelegten Standards nachvollziehen können, wie die Bewertung einer Leistung zustande gekommen ist und ob Regeln der Fairness beachtet wurden. Heute sind Noten Schicksale ohne objektiven Massstab. Die Kriterien sind verschlossen und subjektiv, und wenn sie erläutert werden, dann sind weder Schüler noch Eltern beteiligt. Die Beurteilung setzt die Erfahrungswerte der einzelnen Lehrkraft voraus, die sich nicht mit anderen Lehrkräften abstimmen muss, obwohl im gleichen Fach auf gleicher Stufe im gleichen Schultyp formell identische Ziele verfolgt werden. Aber das ist natürlich verglichen mit den grossen Fragen der Chancengleichheit nur Kleinarbeit, die sozusagen ummittelbar unter Generalverdacht gestellt werden kann. Zementiert man nicht gerade auf diese Weise das schlechte System? Ich vermute, dass man den ideologischen Streit, der in Deutschland, worauf schon PICHT (1965, S. 22) verwiesen hat, mit Positionsnahmen aus dem wilhelminischen Kaiserreich zu tun hat, nur dann auskühlen und versachlichen kann, wenn tatsächlich eine Bildungssteuerung einsetzt, die innere Flexibilität verwirklicht, vom Resultat ausgeht und dafür überzeugende Daten zur Verfügung hat. Freilich müssen diese Einsichten übersetzt und systemtauglich gemacht werden. Wer alles ändern will, wird nichts ändern, auf PISA können alle möglichen, auch stark gegensätzliche Schlüsse gezogen werden, die GEW wird sich nicht mit dem Philologenverband fusionieren. Man kommt nur weiter, wenn man sich auf die Kleinarbeit der Systementwicklung einlässt und die grossen Fragen nicht aus dem Auge verliert. Angesichts der Unübersichtlichkeit des Geländes und der leichten Art, sich zu verirren, ist das kein gelassenes Schlusswort. Literatur BARBER, M.: From Good to Great: Large-scale Education Reform in England. Ms. London 2002. (To be published in: J. OELKERS (Ed.): Futures of Education: Work, Education and the Development of Jobs. 2003) Bundesministerium für Bildung und Forschung: Grund- und Strukturdaten 2000/2001. Bonn 2001. CARNAP, R.V./EDDING, F.: Der relative Schulbesuch in den Ländern der Bundesrepublik 1952 bis 1960. Frankfurt am Main 1962. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im Vergleich. Opladen: Leske+Budrich 2001. LARCHER KLEE, S.: Identitätsentwicklung von Lehrer/innen in ihrem ersten Berufsjahr. Begleitung der Berufseinführung: qualitative und quantitative Längsschnittuntersuchung. Diss. Phil. Universität Zürich, Pädagogisches Institut (Fachbereich pädagogische Psychologie I) Ms. Zürich 2002. Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000. Paris: OECD Publications 2001. OELKERS, J.: Wie soll man Schulen entwickeln? Eine bildungspolitische Analyse nach PISA. Weinheim/Basel 2003. (im Druck) PICHT, G.: Die deutsche Bildungskatastrophe. München 1965. (erste Ausg. 1964) RIST, R.C.: HER Classic: Student Social Class and Teacher Expectations: The Self-Fulfilling Prophecy on Ghetto Education. In: Harvard Educational Review Vol. 70, No. 3 (Fall 2000), S. 257-301. RAVITCH, D.: National Standards in American Education. A Citizen’s Guide. Washington, D.C.: Brookings Institution Press 1995. Resources of Scientific and Technical Personnel in the OECD Area. Statistical Report of the Third International Survey on the Demand for and Supply of Scientific and Technical Personnel. Paris: OECD Publications 1963. RUTZ, M. (Hrsg.): Aufbruch in der Bildungspolitik. Roman Herzogs Rede und 25 Antworten. München: Goldmann 1997. SCHUPPLI, CHR./Z’GRAGGEN, A.: Explizite Standards als Idee für eine Verbesserung der allgemeinen Bildung der Volksschule. Lizentiatsarbeit Universität Bern, Institut für Pädagogik und Schulpädagogik (Abteilung Allgemeine Pädagogik). Ms. Bern 2002.
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