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Achtsame Alltagspraxis
Michael Seibt
Übersicht:
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3.
4.
5.
6.
achtsam essen
achtsame Körperpflege
Drei-Schritte-Atemraum (Kurzmeditation im Alltag)
achtsame Hausarbeit
achtsames Warten
achtsames Wahrnehmen von Übergängen
1. Achtsam essen
Im Alltag bieten sich uns viele Gelegenheiten, Achtsamkeit nicht „formal“ (wie in den besonderen Übungen), sondern
„begleitend“ zu allem, was wir tun und erleben, zu praktizieren.
Beginnen wir mit dem Essen und Trinken. Das nimmt einen festen Platz im Alltag ein. Viele räumen beidem nur wenig
Zeit ein oder sind nebenher mit anderen Dingen beschäftigt. Wahrscheinlich hast du dich selber auch schon einmal
dabei ertappt, dass du gar nicht gemerkt hast, was und wie viel du gerade isst, weil du zeitgleich ein Gespräch geführt,
Zeitung gelesen, eine SMS beantwortet oder Fernsehen geschaut hast.
Achtsam zu essen bedeutet, die eigene Aufmerksamkeit ganz auf das Essen zu richten und es bewusst mit allen Sinnen
wahrzunehmen. Plane hierfür ausreichend Zeit ein und lass dich nicht durch andere Tätigkeiten oder Personen ablenken.
Möglichkeiten für achtsames Essen bieten beispielsweise: die drei Hauptmahlzeiten oder auch das Essen und das Trinken während eines Pausensnacks. Auch im Vorfeld der Nahrungsaufnahme lässt sich schon Achtsamkeit üben, etwa
beim Einkauf der Nahrungsmittel, bei der Zubereitung der Speisen oder beim Tischdecken.
Dazu ein Beispiel: Lasse dir etwas Zeit, bevor du mit dem Essen beginnst. Sehe dir erst einmal in Ruhe an, was du essen
möchtest. Wie sehen die Speisen aus? Wie riechen sie? Und wie sind sie angerichtet? Führe das Essen bewusst zum
Mund und kaue langsam. Welche Empfindungen kannst du jetzt wahrnehmen? Wie ist der Geschmack des Essens? Und
wie die Konsistenz? Wie fühlt sich das Essen am Gaumen an? Und wie auf der Zunge? Spürst du Unterschiede? Bemerkst
du den Impuls des Schluckens? Welche Empfindungen spürst du während und nach dem Schlucken? Wenn du magst,
kannst du in der Mitte der Mahlzeit innehalten und spüren, welche Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen oder Verhaltensimpulse in dir entstehen. Du kannst deine Aufmerksamkeit auch darauf richten, wo das Essen herkommt, wie
es produziert wurde und welche Schritte notwendig waren, damit du es jetzt essen kannst.
2. Achtsame Körperpflege
Weil die tägliche Pflege unseres Körpers einen festen Platz im Alltag einnimmt, verrichten wir sie häufig im Modus des
Autopiloten. Das heißt, wir schenken ihr keine bewusste Aufmerksamkeit. Deshalb bietet die Körperpflege eine gute
Gelegenheit zu üben, wie es ist, den Autopiloten zu verlassen und einzelne Handlungen achtsam durchzuführen.
Möglichkeiten für eine achtsame Körperpflege bieten beispielsweise: das Duschen - das Zähneputzen - das Händewaschen - das Baden - das Haarewaschen - das Abtrocknen - das Eincremen - das Kämmen - das Rasieren - das Schminken
- das Nägelfeilen - und im erweiterten Sinne auch das An- und Auskleiden oder das Anlegen von Schmuck.
Am Beispiel des Duschens lässt sich gut darstellen, wie du dich in dieser informellen Praxis üben kannst: Sei dir während des Duschens bewusst, was du gerade tust. Übe dich darin, den Moment im Hier und Jetzt zu erleben.
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Die folgenden Fragen können dich dabei unterstützen:
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Wie fühlt sich das Wasser auf meiner Haut an?
Wie empfinde ich dessen Temperatur (warm oder kalt)?
Wie riecht meine Seife/mein Duschmittel?
Wie nehme ich meinen Körper während des Duschens wahr?
Welche Körperempfindungen nehme ich wahr, während ich mich einseife?
Wie fühlt es sich beispielsweise an, wenn ich meine Haare shampooniere?
Und wie, wenn ich die Arme oder den Oberkörper einseife?
Wie nehme ich den Kontakt mit dem Boden der Dusche wahr?
Wie fühlt sich das Handtuch an?
Und wie fühlt es sich nach dem Duschen an, wenn ich die unterschiedlichen Körperpartien abtrockne?
Nimm wahr, wenn du dich in Gedanken verlierst und beispielsweise über bevorstehende Aufgaben des Tages nachdenkst. Kehre in diesem Fall, so gut wie möglich, mit deiner Aufmerksamkeit wieder zum Duschen zurück.
3. Drei-Schritte-Atemraum
Der Drei-Schritte-Atemraum ist eine kurze Meditation. Mit seiner Hilfe kannst du jederzeit innehalten, den Autopilotenmodus verlassen und in Kontakt mit dem gegenwärtigen Moment kommen. Falls erforderlich, kann dir diese Kurzmeditation auch dabei behilflich sein, eine annehmende Haltung gegenüber der gegenwärtigen Erfahrung einzunehmen.
Den Drei-Schritte-Atemraum kannst in nahezu jeder Situation des Alltags praktizieren, ein Meditationsplatz ist dafür
nicht erforderlich. Die Übung kann sowohl im Sitzen als auch im Liegen oder Stehen durchgeführt werden. Der DreiSchritte-Atemraum ist nicht zu verwechseln mit einer kurzen Auszeit, die dazu dient, sich innerlich zurückzuziehen
oder zu entspannen.
Ebenso wie bei allen anderen Achtsamkeitsübungen ist seine Basis eine wache, freundliche und offene Präsenz. Indem
du dich der gegenwärtigen Erfahrung öffnest, übst du dich darin, mehr Bewusstheit zu entwickeln und deinen Blickwinkel zu erweitern. Das eröffnet dir die Möglichkeit, eigene Denkgewohnheiten und Verhaltensmuster kennenzulernen und Schritt für Schritt in eine neue Beziehung zu deinen alltäglichen Erfahrungen und Verhaltensmustern zu treten.
Nimm dir zur Einstimmung auf den Drei-Schritte-Atemraum einige Augenblicke lang Zeit, um deinen Körper wahrzunehmen und dich an eine offene und freundliche innere Haltung zu erinnern.
Lasse während des ersten Schritts dein Bewusstsein weit und offen werden für die Erfahrung des gegenwärtigen Moments, unabhängig davon, wie sich dieser gestaltet. Nimm wohlwollend wahr, welche Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen genau in diesem Augenblick da sind. Übe dich darin, die gegenwärtige Erfahrung da sein zu lassen, ohne
sie zu bewerten.
Zentriere im zweiten Schritt deine Aufmerksamkeit, indem du auf den Atem achtest. Versuche den Atem in seinem
eigenen Rhythmus kommen und gehen zu lassen und die mit ihm verbundenen Empfindungen achtsam wahrzunehmen. Das stabilisiert deinen Geist und hilft dir, dich im Hier und Jetzt zu verankern.
Dehne im dritten Schritt dein Bewusstsein um den Atem herum auf die Wahrnehmung des Körpers als Ganzes aus.
Beende die Übung danach in deinem eigenen Tempo.
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1. Schritt: BEWUSSTSEIN
Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen
2. Schritt: SAMMLUNG
Atem
3. Schritt: AUSDEHNUNG
Atem und Körper als Ganzes
Übe den Drei-Schritte-Atemraum anfangs am besten mehrmals täglich, um mit ihm vertraut zu werden. Sich daran zu
erinnern, dass es mindestens genauso viel Zeit in Anspruch nimmt, über etwas nachzugrübeln, wie den Drei-SchritteAtemraum zu praktizieren, kann dich darin bestärken, diese Übung regelmäßig durchzuführen.
Vielleicht gefällt dir die Vorstellung, dass du mit Hilfe des Atemraums bei dir selber an die Tür klopfen und dir inmitten
des Alltags einen Besuch abstatten kannst. Wie viel Zeit du dir für diesen Besuch nimmst, bleibt dir überlassen. Allgemein hat es sich bewährt, die drei einzelnen Schritte innerhalb von etwa einer Minute durchzuführen. Mitunter genügen aber auch schon wenige Augenblicke dafür. In Zeiten hoher innerer Anspannung oder starken Aufgewühlt-Seins
kann es sinnvoll sein, die Übungszeit um einige Minuten auszudehnen.
4. Achtsame Hausarbeit
Das Erledigen der täglichen Hausarbeit bietet vielfältige Möglichkeiten, sich in Achtsamkeit im Alltag zu üben. Viele
Menschen neigen dazu, derlei Tätigkeiten nebenher zu erledigen, ohne ihnen ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Vielleicht hast du selber auch schon einmal bemerkt, wie du während der Hausarbeit über andere Dinge nachgedacht,
mehrere Dinge zur selben Zeit erledigt oder dich durch elektronische Medien hast ablenken lassen. Manche Menschen
reagieren beim Gedanken an Hausarbeit mit Unmut oder Lustlosigkeit und schieben sie vor sich her. Wieder andere
verbinden damit einen hohen Perfektionsanspruch, mit dem sie sich selbst unter Druck setzen. Oft kommen sie erst
dann zur Ruhe, wenn sie die selbstauferlegten Pflichten vollständig erledigt haben.
Das achtsame Ausführen der Hausarbeit lädt dich nicht nur ein, deine Bewegungen und Tastempfindungen zu spüren,
sondern birgt auch die Chance, die eigenen Leistungsansprüche zu erforschen.
Möglichkeiten für achtsame Hausarbeit bieten Tätigkeiten wie: Geschirrspülen - Aufräumen und Ordnung schaffen Staubsaugen und -wischen - Putzen - Bettenmachen - Wäsche aufhängen - Bügeln - Kochen - das Bedienen von Haushaltsgeräten - Blumenpflege und Gartenarbeit - das Sortieren und Entsorgen von Müll.
Folgende Fragen können dich bei der achtsamen Hausarbeit unterstützen:
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Welche unterschiedlichen Tastempfindungen nehme ich wahr?
Was rieche ich?
Welche Körperbewegungen und -empfindungen spüre ich im Verlauf der Tätigkeit?
Welche Geräusche entstehen durch die Tätigkeit?
Welche Gedanken und Gefühle treten auf?
Bin ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz im Hier und Jetzt? Bin ich in Eile?
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5. Achtsames Warten
Unzählige Male werden wir täglich direkt oder indirekt dazu aufgefordert zu warten. Wann warst du das letzte Mal
damit konfrontiert, und wie hast du darauf reagiert?
Für viele Menschen stellen Wartesituationen eine Herausforderung dar, weil sie sie als Zeitverschwendung bewerten.
Statt dich in solchen Situationen von Unruhe oder Hektik beherrschen zu lassen oder dich abzulenken, kannst du dich
darin üben, diese Momente als Geschenke des Alltags zu betrachten. Du kannst dich vom achtsamen Warten dazu
einladen lassen innezuhalten, den Atem zu spüren, und wahrzunehmen, was JETZT ist. Wartesituationen sind außerdem eine gute Gelegenheit für einen Drei-Schritte-Atemraum. Sammle Erfahrungen, mit dem, was ist, zu kooperieren,
statt dich gegen das Warten aufzulehnen und dich in negativen Gedankenmustern zu verstricken.
Gelegenheiten, sich im achtsamen Warten zu üben, bieten beispielsweise: Ampeln - Staus - Warteschlangen - Wartezimmer - Bahnhöfe oder Haltestellen - Fahrstühle - Zugfahrten - Wartezeiten vor dem Beginn einer Veranstaltung - das
Hochfahren des PCs - das Zuspätkommen anderer Personen. Auch innezuhalten, bevor du ein Telefongespräch entgegennimmst, kann eine Gelegenheit sein, um sich im achtsamen Warten zu üben.
Die folgenden Fragen können dich beim achtsamen Warten unterstützen:
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Wie sitze oder stehe ich in diesem Moment?
Wie ist meine innere Haltung?
Wie fühlt sich mein Körper an?
Wie fühlt sich der Kontakt zum Boden und zur Sitzunterlage an?
Welche Gedanken und Gefühle nehme ich wahr?
Bleiben die Gedanken und Gefühle gleich, oder verändern sie sich?
Was nehme ich um mich herum wahr? Was sehe ich? Was höre ich?
Wie ist meine Wahrnehmung nach einem Drei-Schritte-Atemraum? Ändert sich diese, oder bleibt sie gleich?
6. Achtsames Wahrnehmen von Übergängen
Täglich führen wir eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, ohne dass wir uns der Übergänge zwischen den einzelnen Verrichtungen bewusst werden. Dabei sind diese Übergänge eine gute Gelegenheit, um achtsam innezuhalten, den Körper
und den Atem zu spüren und wahrzunehmen, was ist. Sie können dir helfen, den Modus des Autopiloten zu verlassen
und zu realisieren, was du gerade tust. Auch bieten sie dir die Chance zu bemerken, wenn du dich in Gedanken verlierst
oder in Stimmungen und Gefühlen verstrickst. Sicher ist es dir schon einmal passiert, dass du den Raum gewechselt
hast und dann gar nicht mehr wusstest, was du dort eigentlich wolltest, weil du so in Gedanken warst.
Zu Beginn dieser Achtsamkeitsübung ist es hilfreich, einzelne Tätigkeiten auszuwählen, zwischen denen du dich daran
erinnern willst, innezuhalten und die Übergänge wahrzunehmen. Bringe, wenn du möchtest, Markierungen an den
Gegenständen an, die mit diesen Aktivitäten verbunden sind. Beispielsweise könntest du an den Türrahmen deiner
Wohnung für eine Weile Stoppschilder befestigen, die dich daran erinnern, innezuhalten, wenn du den Raum wechselst. Du könnest auch bunte Punkte als Erinnerungshilfen an die Türklinken kleben. Eine andere Merkhilfe könnte ein
kleiner Klebezettel an deinem Wecker sein, der dich daran erinnert, dass du nach dem Aufstehen kurz innehältst.
Gelegenheiten, sich im Wahrnehmen von Übergängen zu üben, bieten beispielsweise:
das Beginnen oder Beenden von Tätigkeiten - das Wechseln von Räumen - das morgendliche Aufstehen - das Zubettgehen am Abend – das Öffnen von Türen - das Verlassen des Hauses - das Beginnen oder Beenden des Arbeitstags das Beginnen des Wochenendes - das Zusammentreffen mit anderen Personen - die Verabschiedung von anderen das Hinsetzen oder Aufstehen - das Verändern der Körperhaltung - das Beginnen oder Beenden eines Gesprächs.
Die folgenden Fragen können dich beim achtsamen Aufstehen am Morgen unterstützen:
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Wie fühle ich mich in dem Moment des Aufwachens?
Was spüre ich im Körper?
Wie nehme ich den Atem wahr?
Wo schaue ich als Erstes hin, nachdem ich meine Augen geöffnet habe?
Was spüre ich, wenn ich einen Moment lang an der Bettkante sitzen bleibe?
An was denke ich?
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