Artikel in Dorstener Zeitung

18.03.15 10:52:39
[Seite 'DNLO4' - Ruhr Nachrichten | Verlag Lensing-Wolff | Medienhaus Lensing | Dorstener Zeitung Lokal | Dorsten] von claudia.engel (85% Zoom)
Mittwoch, 18. März 2015
DNLO4, Nr. 065, 12. Woche
Schnörkelloses und
Schonungsloses zur
Schuldebatte
Nachtrag zur Sitzung von A bis Z
HERVEST. Hoch her ging es
am Montagabend in der Diskussion um die Zukunft der
Von-Ketteler- und Wichernschule im Hervester Marienviertel. Wir reichen an dieser Stelle ein kommentiertes
A bis Z (aus leicht nachvollziehbaren Gründen ohne X
und Y) zu den wichtigsten
Fragestellungen um die
Grund- und Förderschule
nach.
A
pplaus der Eltern: Gab
es für die Redner der
SPD (Friedhelm Fra-
gemann), FDP (Florian Zielinski) und Grünen (Günter
Fraund). Sie alle bedienten
mit ihren Beiträgen im hohen Maße die Erwartungen
der Eltern.
esichtigungen der beiden Schulen an der
Bismarckstraße wur-
B
den beschlossen.
hristdemokraten tanzten aus der Reihe.
Sprecher
Bernd
Schwane schloss die Auflösung der Wichernschule als
einziger nicht aus.
C
D
eutliche Worte fand
der Kämmerer der
Stadt, Hubert Große-
Ruiken. An das Schulpaket
Bismarckstraße sind nämlich weitere Einsparungen
geknüpft. 350 000 Euro
müssen kompensiert werden, wenn der Schulausschuss anders entscheiden
sollte.
E
ntwicklung im Marienviertel: Eltern kritisierten, dass die Verwal-
tung diese nicht auf dem
Schirm hat: „In zahlreichen
Neubauten sind überwiegend junge Familien mit
Kindern eingezogen“. Sie
vermuten eine steigende
Schülerzahl für die kommenden Jahre.
F
ragen stellten die Eltern
viele, auch nach der aus
ihrer Sicht nicht immer
nachvollziehbaren Verteilung der Finanzen auf Projekte, die sie für unsinnig
halten: Geld für das marode
Freibad auf der einen Seite,
Geld für Provisorien wie
Container als Klassenzimmer.
G
roße Geduld bewies
Ausschussvorsitzender Dirk Groß (SPD),
der den Eltern in der Fragestunde viel Spielraum gewährte.
H
I
aushalt der Stadt: Der
Etat hat keinen Spielraum, Elternwünsche
der, die dann dort nicht
mehr zur Schule gehen
könnten.
lassenräume fehlen an
der Von-Ketteler-Schule, dazu zahlreiche
Fachräume. Dabei gibt es
viel zu viel Grundschulplatz
(750) für zu wenig Grundschüler (600).
K
L
ernzentrum unter dem
Dach der Von-KettelerSchule wollen die Politi-
ker. Der Elternwille zeigt,
dass Inklusion schön und
gut ist, aber die besondere
Förderung im Lernzentrum
von ihnen vorgezogen wird.
M
arode ist der Zustand der GerhartHauptmann-Real-
schule. Wegen ihrer beschlossenen Auflösung hat
die Stadt seit zehn Jahren
keinen Cent mehr ins Gebäude gesteckt. Der Sanierungsbedarf betrage deshalb
nicht 200 000, sondern zwei
Millionen Euro. Das sagt der
Kämmerer.
O
rtsbegehungen findet
noch vor den Osterferien statt.
auschal kann man sagen, dass der Beschluss
aufgehoben, aber nicht
aufgeschoben werden kann.
Die Bezirksregierung als Finanzaufsicht sitzt der Stadt
im Nacken.
P
ualität des Förderlernzentrums zeigt sich
daran, dass neun
Q
Schüler der Abschlussklasse
ihren Hauptschulabschluss
bestanden haben.
R
ein rhetorisch dürfte
die Frage sein, ob auf
die Schnelle eine Alter-
native gefunden wird, die
die Auflösung der Wichernschule verhindert.
S
achlich sollte die Entscheidung sein.
erminierung ist eng.
Die Verwaltung möchte
nach den Osterferien
einen Beschluss haben.
T
U
mtriebig zeigten sich
auch die Eltern der
Von-Kettler-Schüler:
Sie ermunterten die Politiker, zu ihrer mutigen Entscheidung für ein Förderlernzentrum zu stehen.
V
on-Ketteler-Schule ist
eine Förderschule für
Lernen, sie hat 224
Schüler, die über Mittag in
der Schule betreut werden.
zu erfüllen.
nklusion wird gegen das
beschlossene Förderlernzentrum vor allem von
den Grünen ins Feld geführt.
Sie können sich die sprachliche Integration von AstridLindgren-Schülern auch in
Regelschulen und nicht an
der Bismarckstraße vorstellen.
J
ammer wird groß sein,
wenn die Wichernschule
aufgelöst werden sollte.
Manche Eltern im Marienviertel haben jüngere Kin-
Textbox2
DORSTEN
W
Z
ichern-Grundschüler gibt es zurzeit
130.
ukunft hält drei Optionen bereit: 1. Die
schrittweise Aufgabe
der Wichernschule ab August 2016, 2. ein vorübergehender Umzug der Wichernschule in Gebäudeteile der
Gerhart-Hauptmann-Realschule, wobei die Schule ein
Auslaufmodell bliebe, 3. eine überraschende Alternative. eng
DAS INTERVIEW DER WOCHE
Anrainerstaaten von Krisenländern brauchen mehr Unterstützung von uns
„Asylbewerber sind keine Bittsteller“
Professor Petra Bendel plädiert für eine herzliche Willkommenskultur
DORSTEN. Den „Ansturm der
Armen“, Flüchtlinge aus aller
Herren Länder, die ihre Wurzeln verloren haben, weil sie
aus ihrer Heimat vertrieben
wurden oder politisch verfolgt
werden, fürchten viele Bürger.
Sie betrachten die Neuankömmlinge mit Misstrauen
und Abwehr. Prof. Dr. Petra
Bendel, gebürtige Dorstenerin
und Migrationsforscherin an
der Universität Erlangen/Nürnberg, erläutert in
diesem Interview, warum und
wieso eine Willkommenskultur hierzulande notwendig ist.
Und hält fest, dass Flüchtlinge
ein Recht auf Schutz haben.
„Willkommen in Deutschland“, heißt es auf der Homepage des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge.
Wie sieht die Wirklichkeit
aus?
Eine
Willkommenskultur
entsteht auf verschiedenen
Ebenen: in den Stadtverwaltungen, in den Stadtteilen, in
den vielen Initiativen, die den
Flüchtlingen Wege in unsere
Gesellschaft öffnen. Sie ist für
die Flüchtlinge auch zentral:
Durch ihre Erfahrungen im
Herkunftsland und auf dem
Fluchtweg sind viele Flüchtlinge ja traumatisiert. Wenn
wir ihnen rasch und möglichst unbürokratisch Schutz
gewähren und ihnen Zugang
zu Sprache, Bildung, Arbeit
geben, erleichtert das vieles.
Aber auch wir als Aufnahmegesellschaft haben damit
die Chance zu reflektieren:
Wollen wir eine „Willkommens-Gesellschaft“ sein oder
nicht? Eine Gesellschaft der
Inklusion oder eine der Ausgrenzung? Denn leider erleben wir ja gleichzeitig mit
den vielen Initiativen, die die
Flüchtlinge willkommen heißen, auch Gruppen, die sie
auszugrenzen versuchen.
Sozialwissenschaftliche
Studien zeigen, was dagegen
hilft, nämlich Information
und Begegnung. Je mehr Begegnung es zwischen Mehrheiten und Minderheiten gibt,
desto weniger Ängste und
Vorurteile bestehen auf beiden Seiten. Daraus leitet sich
eine ganz klare Aufgabe an
Politik und Gesellschaft ab.
Spielt das Herkunftsland der
Flüchtlinge eine Rolle bei der
Aufnahme?
Bei einigen Aufnahmewegen schon: Momentan debattieren die Innenminister darüber, ob sie mit dem Kosovo
ein weiteres Herkunftsland zu
einem „sicheren Herkunftsland“ erklären wollen. Ende
letzten Jahres wurden bereits
die Westbalkanstaaten Bosnien und Herzegowina, die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien und Serbien
als „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft. Asylanträge
von Staatsangehörigen diese
Länder werden schneller bearbeitet, und ihr Aufenthalt in
Deutschland kann schneller
beendet werden, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass
die meisten Staatsangehörigen diese Länder nicht als
verfolgt gelten.
Auf der anderen Seite haben der Bund und die meisten
Bundesländer
Sonderprogramme aufgelegt, um solche
syrischen Staatsangehörigen
aufzunehmen, deren Verwandte sie in Deutschland
unterstützen können, die besonders hilfsbedürftig sind
oder die als besonders wichtig für den Wiederaufbau des
Landes gelten. Damit werden
20 000 Personen über solche
humanitären Aufnahmeprogramme nach Deutschland
gebracht.
Welche Rahmenbedingungen
gelten bei der ‚Aufnahme und
Unterbringung von Flüchtlingen?
Die Rahmenbedingungen
regelt zum einen das europäische Asylrecht und bei uns in
Deutschland
entsprechend
das Asylverfahrensgesetz. Danach müssen Asylsuchende
zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung wohnen, die
von den Bundesländern verwaltet wird. Einige Länder
und Bezirke, darunter Nordrhein-Westfalen, aber auch
Mittelfranken, wo ich derzeit
lebe, haben derzeit mehr
Asylsuchende als Schlafplätze, andere Bundesländer haben hingegen durchaus noch
Kapazitäten.
Werden die gesetzlichen Vorgaben eingehalten? Werden
in Deutschland regionale Unterschiede gemacht? Wenn ja,
nennen Sie bitte Beispiele dafür.
In Bayern hat die Überbelegung Ende letzten Jahres dazu geführt, dass die Menschen zeitweise in Festzelten
untergebracht wurden. Das
muss man sich einmal vorstellen! Dabei waren wir ja nicht
unvorbereitet; das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte schon lange vorher prognostiziert, dass infolge des Syrienkrieges mehr
Menschen zu uns kommen
würden. Einige Bundesländer
hatten entsprechend schon
Einrichtungen
ausgebaut,
NRW sogar um das Fünffache. Der Gesetzgeber hat ja
auch Ende letzten Jahres entschieden, das Baurecht zu lockern, um mehr Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Wenn diese aber weit außerhalb der Ortschaften liegen, erschweren wir es den
Asylsuchenden noch mehr,
Anschluss zu finden. Die Unterbringung in Privatwohnungen, wie sie ja in Dorsten
überwiegend
praktiziert
wird, ist für alle Beteiligten
würdevoller, integrationsfördernder – und im Übrigen
auch kostengünstiger.
Was leisten unsere europäischen Nachbarstaaten? Wie
sieht deren Aufnahmepraxis
aus?
435 000 Asylbewerber wurden in den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union registriert. In absoluten Zahlen
liegen wir in Deutschland mit
aktuell rund 173 000 Erstanträgen ganz vorne, gefolgt
von Frankreich und Schweden. Wenn wir die Aufnahmezahlen aber an der Bevölkerungsgröße messen, sind es
die kleinen und mittelgroßen
Staaten, welche die höchste
Verantwortung auf sich genommen haben.
Wie hoch sind die Aufnahmequoten? Gibt es Unterschiede?
Das geltende System innerhalb der EU, das regelt, welcher Mitgliedstaat für ein
Asylgesuch zuständig ist, das
sogenannte
Dublin-Verfahren, basiert aber zumindest
auf der Voraussetzung, dass
in allen Mitgliedstaaten ähnlich hohe Schutzstandards
und Aufnahmebedingungen
zugrunde liegen. Das ist mitnichten der Fall: Noch immer
macht es einen großen Unterschied für die Chance auf An-
Im jordanischen Flüchtlingscamp Zaa’tari, das Petra Bendel
gerade besucht hat, sind 84 000 Menschen nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze untergebracht. Das ist eine
Stadt so groß wie Dorsten, umgeben von Wüste.
FOTO PRIVAT
erkennung, in welchem Mitgliedstaat das Asylgesuch vorgebracht wird.
So liegt die Chance, eine
positive Asylentscheidung zu
erhalten, in Finnland im
Schnitt bei 51 Prozent, in
Deutschland bei 26 Prozent,
in Griechenland aber nur bei
4 Prozent. Dies wirkt sich entsprechend negativ auf den
Rechtsschutz der Antragsteller aus.
Die Aufnahme- und Lebensbedingungen weichen in den
Mitgliedstaaten so stark voneinander ab, dass in den vergangenen Jahren auf Rücküberstellungen nach Griechenland ganz verzichtet
wurde. Auch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im November
vergangenen Jahres entschieden, dass Flüchtlingsfamilien
in Italien eine unmenschliche
und erniedrigende Behandlung drohen kann und dass
deswegen keine Abschiebungen dorthin erfolgen dürfen,
wenn nicht zuvor eine individuelle Zusicherung Italiens
über eine adäquate Unterbringung eingeholt wurde.
Andere Mitgliedstaaten stehen ebenfalls am Pranger.
Wenn also ein Staat nach dem
anderen aus dem Dublin-System herausfällt, weil er nicht
einmal die Mindeststandards
garantiert, führt sich dieses
System ad absurdum. Wir
brauchen dringend ein neues
Verteilungssystem in Europa,
das haben die Innenminister
schon erkannt.
Welche Anstrengungen werden unternommen, das Asylrecht in Europa zu vereinheitlichen?
Das so genannte Gemeinsame Europäische Asylsystem,
2013 verabschiedet, wollte
die Schutzlotterie in Europa
beenden. Gelungen ist es, die
Schutzstandards vor allem in
jenen Mitgliedstaaten anzuheben, die bislang nur über
rudimentäre Asylsysteme verfügten. Was uns im europäischen Asylrecht fehlt, ist aber
vor allem der Zugang zum
Territorium eines Mitgliedstaates. Es wird den Flüchtlingen ja immer mehr erschwert,
überhaupt ein Asylgesuch
vorzubringen; sie müssen mit
Schleusern kommen und gefährliche Routen nehmen. Es
fehlt auch an Solidarität unter den Mitgliedstaaten, wenn
es um die Seenotrettung geht.
Wie lange wollen wir noch
zusehen, wie die Menschen
im Mittelmeer ertrinken?
Und wie gehen die Transitlän-
der mit dem Ansturm aus
Kriegs- und Krisengebieten
um? Berichten Sie bitte über
Ihre Erfahrungen aus dem
Flüchtlingslager in Jordanien.
Wir nehmen in Europa nur
einen Bruchteil der weltweit
52 Millionen Menschen auf,
die auf der Flucht sind. Gerade die Anrainerstaaten der
Krisenländer leisten unglaublich viel. Die Unterbringungsbedingungen sind aber oft
sehr prekär: Die Aufnahmeländer selbst sind nicht gerade reich, und die internationale Gemeinschaft ist im Zahlen von Unterstützungsleistungen oft säumig – deswegen ist dem Welternährungsprogramm ja im letzten Jahr
sogar das Geld für die Lebensmittel der Syrer in den Aufnahmeländern ausgegangen.
Hauptaufnahmeländer
für
Flüchtlinge sind Pakistan mit
1,6 Millionen (praktisch alle
aus Afghanistan), der Libanon mit 1,1 Millionen, Iran,
die Türkei (824 000), Jordanien (736 000), Äthiopien,
Kenya und der Tschad. Der Libanon nimmt 257 Personen
pro 1000 Einwohner auf, Jordanien 114 Personen pro
1000 Einwohner.
Im jordanischen Flüchtlingscamp Zaa’tari, das ich
gerade besucht habe, sind
84 000 Menschen nur wenige
Kilometer von der syrischen
Grenze untergebracht. Das ist
eine Stadt, so groß wie Dorsten, umgeben von Wüste. Obwohl der jordanische Staat
und das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten
Nationen eine erhebliche logistische Leistung erbringen,
um zumindest eine Minimalversorgung zu gewährleisten
und Ansätze von Beschulung
und Ausbildung aufzubauen,
leben die Menschen unter
einfachsten Bedingungen.
Am Schlimmsten ist es, dass
ihre Situation so aussichtslos
ist: Sie werden sehr lange
nicht zurückkehren können,
und in die jordanische Gesellschaft können sie sich auch
nicht integrieren. Noch dazu
sehen und hören sie ständig
die Flieger über ihren Köpfen,
die jenseits der Grenze bombardieren. Ich arbeite jetzt
eng mit der Deutsch-Jordanischen Universität zusammen,
wo wir Sozialarbeiter für den
Umgang mit Flüchtlingen
ausbilden. So etwas gibt es
dort bisher nicht.
Was können eine Stadt
und/oder eine Region tun,
um von sich aus Flüchtlinge
zu integrieren? Wo sehen Sie
dringenden Handlungsbedarf?
Ich finde wichtig klarzustellen, dass die Menschen, die
zu uns kommen, keine Bittsteller und keine Almosenempfänger sind und auch
nicht sein wollen. Sie kommen mit international verbrieften Rechten, mit ihrer
Würde und mit einem erheblichen Potenzial. Und unsere
Gesellschaft ihrerseits hat das
Potenzial, sie aufzunehmen
und zu integrieren.
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Fragen: Claudia Engel
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Einladung zum Vortragsabend
L Mit den Herausforderungen der Flüchtlingspolitik in
Europa setzt sich Prof. Petra
Bendel am Montag, 23.
März, 19.30 Uhr, im Alten
Rathaus am Markt 1 auseinander.
L Karten zu dieser öffentli-
chen Vortrags- und Diskussionsveranstaltung des Lions Club Dorsten-Hanse
sind zum Preis von 7 Euro
bei der Volksbank Dorsten
am Südwall und im Modehaus Mensing, Lippestraße,
erhältlich.