uwe_englisch-_von_asche_zu_asche

Vorträge
Von Asche zu Asche – Die
Bedeutung der Chemie
für ein Verständnis des Lebens
UWE ENGLISCH1
Manuskript eingerichtet nach Tonaufzeichnung
von Wolfram Eckloff
Friedrich Wöhler beendete mit der künstlichen Harnstoffsynthese 1828 das
Zeitalter der Alchemie und gilt als Pionier der organischen Chemie. Doch wie
begann das Leben? Gibt es eine Vis vitalis? Welche Rolle spielt die Chemie bei
der Optimierung der Organismen in der Evolution? Ist alles nur Chemie – und
gibt es sogar eine Formel für den Tod?
Ich möchte mit Ihnen eine Reise durch die chemische Evolution machen von den
„Schwarzen Rauchern“ bis zum Tod oder Selbstmord von Zellsystemen. Ich
werde das Ganze nicht streng chronologisch machen, sondern die Entwicklung
unseres Wissens an einigen wichtigen Molekülen und Ereignissen festmachen
und dabei aber auch nicht zu „chemisch“ werden. Ich möchte Ihnen hauptsächlich die Menschen zeigen, die diese wichtigen Entdeckungen gemacht haben.
Beginnen wir mit zwei
Entdeckungen, die vor
sechzig Jahren in zwei
Veröffentlichungen
erschienen sind: Die erste
Veröffentlichung stammt
von zwei jungen Leuten,
die jeder kennt – es ist die
bis heute noch meistzitierte
Arbeit
weltweit:
„Molecular Structure of
Nucleic Acids“ von JAMES WATSON und FRANCIS CRICK, erschienen im
1
Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Chem. Uwe Englisch ist Leiter des Lübecker Centrums Industrielle Biotechnologie (CIB) der Fachhochschule Lübeck
April 1953 in „Nature“. James Watson (geb. 1928, links im Bild) war 26 Jahre
alt, Amerikaner, eigentlich Vogelforscher und hatte von Chemie keine Ahnung,
was aber hier nicht zählt. Francis Crick (1916-2004, rechts im Bild), 37 Jahre alt,
Engländer, ist Biophysiker. Die beiden haben herausbekommen, wie die dreidimensionale Struktur der DNA, des Hauptmoleküls der Vererbung, aussieht,
wofür sie 1962 den Nobelpreis bekamen. Allerdings, das muss hier auch gleich
gesagt werden, gelang dies nur mit Hilfe dieser jungen Dame (Bild): ROSALIND FRANKLIN (1920-1958). Sie machte das berühmte „Foto 51“, aus dem
man schloss, dass die DNA doppelsträngig sein muss. Sie ging leer aus - den
Nobelpreis hierfür kassierte ihr Chef, der Institutsdirektor.
Watson erkannte die
Struktur und Crick
baute dann das Modell
exakt in allen Einzelheiten. Die zweite entscheidende Aussage am
Ende der Veröffentlichung ist, dass dieses
Doppelmolekül mit den
beiden
antiparallelen
Strängen die fantastische Eigenschaft hat,
sich verdoppeln zu
können. Jeder der beiden Stränge kann als
Vorlage für die Neusynthese eines neuen Doppelmoleküls dienen, so
dass bei einer Zellteilung ein DNA-Molekül
in die Tochterzelle geht
und das andere in der
Mutterzelle verbleibt.
Die zweite weltberühmte Entdeckung, die vor sechzig Jahren in „Science“ erschien, stammt von STANLEY MILLER (1930-2007), einem damals 23jährigen Doktorand von Harold Urey an der Universität von Chicago. Seine
Arbeit „A Production of Amino Acids Under Possible Primitive Earth
Conditions“ (1953) erzeugte ebenfalls einen Nobelpreis, den aber auch hier nicht
2
der Doktorand, sondern der Institutsdirektor bekam. Herr Miller ging einer einfachen Fragestellung nach: er bastelte sich eine Uratmosphäre, wie sie am Anfang
wohl geherrscht haben dürfte
auf unserem Planeten, und
setzte sie einer starken Energiezufuhr aus in Form eines
Lichtbogens als Ersatz für
blitzende Gewitterstürme (s.
Abbildung). Seine Ausgangsstoffe (Wasser, Wasserstoff, Methan, Schwefelwasserstoff,
Ammoniak,
Phosphin, Kohlendioxid und
-monoxid) sind uns gut
bekannte einfache Moleküle,
deren Elemente (C, H, O, N, S, P) heute in den sehr komplexen Molekülen der
Lebewesen, den Eiweißen, Kohlenhydraten und Nukleinsäuren, vorkommen.
Entscheidend war die Abwesenheit von freiem Sauerstoff.
Das also war der Anfang vor vier Milliarden
Jahren, und wir werden
am Ende bei der Zelle
landen, diesem lebensfähigen System mit der
DNA im Kern, darum
herum dem Endoplasmatischen Retikulum
mit den Ribosomen, in
denen die Umsetzung
der Information von der
DNA in Eiweiß erfolgt,
und den Mitochondrien als den Kraftwerken der Zelle.
Vor etwa 3,5 Milliarden Jahren gab es schon die ersten Zellen, die aber noch sehr
einfach aussahen. Und dann ungefähr vor 3 Milliarden Jahren taucht auf einmal
Sauerstoff auf. Das bedeutet, dass es solange schon die Photosynthese gibt. Die
Entwicklung der Photosynthese begann nicht in irgendwelchen Pflanzen, sondern schon früh bei den Cyanobakterien oder Blaualgen.
3
Doch schauen wir uns noch einmal Millers Ergebnisse an. Nach längerer Kochzeit von 10-15 Stunden schaute Miller nach und analysierte das Kondensat im
Auffangrohr. Er bediente sich dazu der Dünnschichtchromatographie, die gerade
2 Jahre zuvor als Analysemethode erfunden worden war.
In der Abbildung erscheinen als wichtigste Produkte vier der natürlichen 22
Aminosäuren (Glutaminsäure und Asparaginsäure, die für die Polymerisation zu
Proteinen ganz wichtig sind, sowie Glycin, Alanin) und 3-Azaadipinsäure, ein
Grundbaustein für die Synthese der DNA-Basen. Die Ergebnisse im MillerExperiment variieren je nach Zusammensetzung der Ausgangsstoffe im Reaktionsgefäß, nach der Reaktionszeit und je nach Energiezufuhr – zu wenig Energie
4
bringt ebenso magere Ergebnisse wie zu viel Energie, bei der dann die Produkte
wieder kaputt gehen.
Asymmetrische Produkte liegen in links- und rechtshändiger Form gemischt vor
(Racemate von L- und D-Aminosäuren, benannt danach, ob sie polarisiertes
Licht nach links oder rechts drehen können) – anders als in lebenden Systemen,
in denen immer nur die L-Form vorliegt. Irgendwann in der Evolution des Lebens hat sich entschieden, dass nur die L-Form verwendet wird.
Die mögliche Lösung dieses Rätsels ist verbunden mit einem Mann namens
GÜNTHER WÄCHTERSHÄUSER (geb. 1938),
einem deutschen Chemiker, der sich mit anorganischen Eisen-Schwefel-Komplexen beschäftigt hat.
Da er damit kein Geld verdienen konnte, wurde er
Patentanwalt. Da machte er die Bekanntschaft mit
einem Herrn STECKER, der als Mikrobiologe in
München sich mit Archebakterien aus der Tiefsee
beschäftigte. In Tiefen bis zu 10.000 Metern findet
man die sogenannten „Schwarzen Raucher“.
Hier, in absoluter Sauerstofffreiheit, leben Archebakterien, die ihre Aminosäuren an festen EisenSchwefel-Oberflächen bilden und
dabei keine Mischungen, sondern
immer nur L-Formen produzieren.
Da der Patentanwalt seine SchwefelEisen-Verbindungen nicht vergessen
konnte, brachte ihn die Zusammenarbeit mit Stecker auf die Idee, dass
das Leben an solchen Schwarzen
Rauchern in der Tiefsee entstanden
sein könnte, wobei die festen EisenSchwefel-Oberflächen (Pyritgestein)
als Katalysator für die Synthese von
Oxalsäure aus Kohlendioxid und
Schwefelwasserstoff dienen könnten. So legte er mit einer Veröffentlichung 1981 in „Nature“ seine EisenSchwefel-Theorie (Iron-sulfur world
theory) vor, die er in weiteren Veröffentlichungen 1988-1992 ausbaute
(– salopp gesagt: „für Herrn
Wächtershäuser beginnt die Welt mit
5
Nierensteinen“). So steht neben der wässrigen Welt von Millers Ursuppe die
Eisen-Schwefel Welt der unterseeischen Hydrothermalquellen von Wächtershäuser – beides ganz wichtige Entdeckungen.
Nun haben wir bisher immer nur einzelne Moleküle – Aminosäuren, Oxalsäure,
Vorstufen der DNA – gesehen, aber das sind nur kleine Moleküle; eine Aminosäure ist noch kein Protein und ein Nukleotid ist noch keine RNA oder DNA.
Was gab es dann für Möglichkeiten, um aus diesen einzelnen Bausteinen
schließlich eine Polymerwelt aufzubauen, und wie konnte bei den Vererbungsmolekülen (DNA) ein Vererbungsmechanismus entstehen?
Damit kommen wir zu dem nächsten Herrn,
MANFRED EIGEN, geb. 1927, Professor
für physikalische Chemie am MPI in Göttingen – Nobelpreis 1967 für die Messung
der Reaktionsgeschwindigkeit schneller
Reaktionen. Um die Entstehung von Kettenmolekülen wie DNA und RNA zu verstehen, untersuchte Eigen die Interaktion
von Molekülen in komplexen Systemen und
entwickelte das Modell vom Hyperzyklus.
Hier laufen mehrstufige, zeitlich koordinierte Reaktionen ab, die zu einer geordneten
Verlängerung eines Kettenmoleküls führen.
Diese Reaktionen sind alle katalysiert, und es fragte sich, was im
Urzustand, in dem es noch keine
Enzyme gab, diese Katalyse
bewirken könnte.
Ein junger amerikanischer Chemiker und zeitweiliger Mitarbeiter Eigens, TOM CECH (geb.
1947), konnte nachweisen, dass
einige RNAs katalytische Aktivität haben, das sind kurzkettige,
einsträngige
Nukleinsäuren.
Damit war die Möglichkeit gegeben, dass bei Vorliegen der
Grundbausteine unter Mitwir-
6
kung katalytischer RNA eine geordnete DNA-Polymerisation ablaufen und
damit eine Selbstverdoppelung der DNA stattfinden konnte. Für seine Arbeiten
über selbst-spleißende RNA erhielt er 1989 den Nobelpreis.
All diese Reaktionen, von denen wir gesprochen haben, erfordern Energie. Wo
könnte diese Energie herkommen? Die Forschung hierzu war schon in den 30er
Jahren sehr weit gediehen an der Universität in Heidelberg. Die Wissenschaftler
emigrierten jedoch alle in die USA – einer davon war FRITZ LIPPMANN (1899
– 1986), der aus Königsberg stammend ans California Institute of Technology in
Pasadena ging und dort in den 50er Jahren das Adenosintriphosphat, ATP, entdeckte. Dieses Molekül ist das einzige, das ich Ihnen genauer vorstellen möchte,
denn es ist das Molekül, das alle zellulären Systeme nutzen, um bestimmte chemische Reaktionen, die Energie kosten, ablaufen
zu lassen.
Wenn vom ATP ein Phosphatrest abgespalten
wird, werden etwa 30 kJ/mol Energie frei, die
für eine andere energiekostende Reaktion verwendet werden können. Es findet eine „Energiekopplung“ statt (Nobelpreis 1953), wobei das
ATP auch zwei Phosphatreste mit entsprechend
höherem Energiegewinn abspalten kann.
Wo kommt nun das ATP her? Die Erforschung
ist mit dem Namen von HANS-ADOLF
KREBS (1900 – 1981) verbunden. Geboren in
einer jüdischen Arztfamilie in Hildesheim emigrierte der Mediziner 1933 nach England, wo er
Biochemie studierte. Er entdeckte noch in den
30er Jahren den Zitrat-Zyklus, nach ihm auch als
„Krebs-Zyklus“ bezeichnet, für den er 1953 den
Nobelpreis erhielt. Hier handelt es sich um
7
einenStoffwechselprozess,
bei dem aus den Nahrungsmitteln
(Kohlenhydrate, Fette, Proteine) in
mehreren Stufen Wasserstoff abgespalten wird, der
dann in der Atmungskette
der Mitochondrien mit
Sauerstoff zu Wasser reagiert. Die hierbei reichlich
freiwerdende Energie dient
der Regeneration des ATP,
d.h. hier wird Phosphat
(wieder) an das Adenosinmono-(oder di-)phosphat
unter
Energieverbrauch
angehängt.
Eine weitere Persönlichkeit, die für uns wichtig ist, ist LINUS PAULING (1901
– 1994, USA), der sich vor allem mit der räumlichen Struktur von Proteinen
befasst hat. Die Aminosäurekette eines Proteins
(Primärstruktur) ist über weite Teile schraubenförmig gewunden (a-Helix, Sekundärstruktur)
und dann als Ganzes in bestimmter Form geknäuelt oder gefaltet (Tertiärstruktur). So enthält z.B. das Hämoglobin vier Proteine, die in
festgelegter Weise (Quartärstruktur) ein
Eisenion umgeben, an dem der zu transportierende Sauerstoff angelagert wird. Pauling erforschte auf quantenmechanischer Grundlage
die Natur der chemischen Bindung und deren
Bedeutung für die Strukturbildung der Proteine
und erhielt dafür 1954 den Nobelpreis für
Chemie (außerdem für sein Engagement gegen
Atomwaffentests 1963 den Friedensnobelpreis).
Woher wissen wir aber, dass die DNA wirklich das Vererbungsmolekül ist? Hier
kommt OSWALD EVERY (1877 – 1955, Kanada, USA) ins Spiel, der sich als
Mikrobiologe mit Staphylokokken beschäftigt hat. In einem genialen Experiment
konnte er 1944 zeigen, dass nicht die Proteine, wie bis dato angenommen, son-
8
dern die DNA Träger der Erbsubstanz ist. Dazu
trennte er aus einem toxischen Bakterienstamm
(R-Staphylokokken) sauber die Proteine, Lipide,
Polysaccharide und Nukleinsäuren ab und fütterte damit getrennt jeweils einen harmlosen
Stamm (S-Staphylokokken). Nur die Nachkommen in der Kultur, die mit den Nukleinsäuren gefüttert wurden, waren toxisch, die anderen
Substanzen hatten keinen Effekt. Dieser
Nachweis gilt als Beginn der modernen Mole-
kulargenetik. Oswald Every
bekam den Nobelpreis nie –
was inzwischen als eine der
größten Fehlentscheidungen
des Nobelkomitees gilt.
Everys Experiment sagt nicht, wie genau die Erbsubstanz für die Weitergabe kopiert wird. Erfolgt dies immer exakt oder treten bei den vielen Verdopplungen auch Fehler auf? Wir wissen heute, dass Fehler auftreten, Mutationen, und dass sie auftreten müssen, denn sonst gäbe es keine Entwicklung, keine Evolution.
Die Frau, die das als erste bewiesen hat, war BARBARA McCLINTOCK
(1902 – 1992, USA, Botanik,
Zytogenetik), deren Entdeckung
man ihr 60 Jahre lang nicht
geglaubt hat, bis sie schließlich
doch 1983, 81-jährig, den Nobelpreis erhielt. Ihre bahnbrechenden Arbeiten galten der
Genetik des Mais, bei dem sie
über mehrere Generationen
hinweg das Entstehen und Verhalten von Mutationen verfolgte.
9
Ein klassisches Beispiel für
eine Mutation ist die sichelförmige Ausprägung der
roten Blutkörperchen beim
Menschen, die zur Sichelzellanämie führt. Bei den
500.000 Hämoglobinmolekülen eines Erythrocyten ist
eine einzige Aminosäure
ausgetauscht; dort ist an
einer Stelle das Glutamin
durch Valin ersetzt, eine
hydrophobe Aminosäure, was bewirkt, dass nun das ganze Molekül nicht
mehr so gut wasserlöslich ist und ausfällt und dadurch die Zelle schrumpfen
lässt. Ausgelöst wurde dies durch eine Punktmutation in der DNA, wo am
Gen für das eine der beiden Häm-Proteine am Codon 6 die Base Thymin
durch die Base Adenin ersetzt wurde. Es ist schon faszinierend, wie genau
dies alles heute erforschbar ist.
Wir haben jetzt die Chemie des Lebens
von den einzelnen Bausteinen bis hin zur
Vererbung verfolgt. Was uns noch fehlt,
ist der Übergang von der sauerstofffreien
Welt zur aeroben Welt mit Sauerstoff. Das
hat etwas mit der Photosynthese zu tun.
Und hier lernen wir wieder einen
der großen Forscher kennen:
MELVIN CALVIN (1911 – 1997,
USA, Biochemiker). Calvin fand
heraus, wie die grünen Pflanzen das
Kohlendioxid der Luft binden und
zu Zucker verarbeiten. Dies geschieht nach der Lichtreaktion in
der sogenannten Dunkel- oder
Sekundärreaktion, wo in einem
Kreisprozess, nach seinem Entde-
10
cker “Calvin-Zyklus” genannt, das CO2 fixiert und zu Zucker reduziert wird.
Den Nobelpreis erhielt er dafür 1961.
Wenden wir uns nun einem weiteren Problem zu, dem sich der Quantenphysiker
ERWIN SCHRÖDINGER (1887 – 1961, Österreich, Nobelpreis Physik 1933)
widmete. In seinem Buch “Was ist Leben?” (1944) geht es um eine physikalische Betrachtung der Entropie lebender Systeme. Das Problem ist Folgendes:
wenn ich ein Glas fallen lasse, zerspringt es in vielleicht zwanzig Splitter. Dann
wäre die Frage, wie ich den zwanzig Teilen so „zureden“ kann, dass sie wieder
zusammenkommen und das Glas wieder hier auf dem Tisch zu stehen kommt.
Das wird nicht gehen, denn die Entropie, das physikalische Maß für Unordnung
in einem System, kann immer nur zunehmen und nicht abnehmen. Wie kommt
es aber, dass ich mich hinsetzen kann auf den Boden und dann auch wieder
aufstehen kann? – Das zersplitterte Glas am Boden ist im physikalischen Gleichgewicht. Ich dagegen kann immer wieder in meine frühere Ordnung zurückkehren. Schrödinger schloss, es muss so etwas wie “negative Entropie” geben, was
aber in der Thermodynamik der klassischen Physik und der Quantenmechanik
nicht vorkommt. Wie also funktioniert Leben?
Die Lösung fand ILYA PRIGOGINE (1917 – 2003, Russland, Belgien), der
beachtete, dass sich lebende Systeme stets fern des thermodynamischen Gleichgewichts befinden, also offene Nichtgleichgewichtssysteme sind, die ständig
Energie und Stoffe mit ihrer Umgebung austauschen. In diesen lokalen Systemen
11
nimmt die Entropie ab - allerdings auf Kosten der Umgebung. So können sich
selbst organisierende, geordnete dynamische Strukturen entstehen und sich vorübergehend erhalten, solange sie nicht in einen thermodynamischen Gleichgewichtszustand geraten, was für sie den Tod bedeutet. Prigogine erhielt für diese
Entdeckung 1977 den Nobelpreis.
Damit kommen wir zum Ende und wollen nur noch klären, wie diese Systeme,
die sich aus anorganischer „Asche” erhoben haben, wieder enden, d. h. wieder zu
„Asche” werden.
Es gibt zwei Arten von Zelltod. Das eine ist die Nekrose, die immer über eine
Entzündung verläuft, das andere ist die Apoptose, die durch ein “Selbstmordprogramm” der Zelle abläuft.
Kehren wir noch einmal zu LINUS PAULING zurück: Ein Faktor, der hier eine
große Rolle spielt, ist das Auftreten von freien Radikalen. Das sind Atome oder
Verbindungen mit einsamen Elektronen, die äußerst reaktionsfähig sind. Und
wenn diese Radikale mit der Erbinformation in Kontakt kommen und dort Mutationen auslösen in DNA oder RNA, dann geht die Zelle ganz schnell zugrunde.
Deshalb gab Pauling den Rat, für den er auch sehr populär wurde: “Schlucken
Sie täglich 1 Gramm Vitamin C!” Es gibt Antioxydantien, das sind Radikalfänger wie das Vitamin C, die in hoher Konzentration freie Radikale abfangen können. Aber auch er starb 93-jährig und erreichte nicht die von ihm gewünschten
120 Jahre.
Ein weiterer Faktor für das Lebensende von Zellsystemen ist mit dem Namen
von ELIZABETH BLACKBURN (geb. 1948, Australien, USA) verbunden.
Damit die Chromosomen in den Zellen stabil bleiben, gibt es an den Enden der
Chromosomen eine “Schutzkappe”. Es sind die Endstücke der Chromosomen
mit bestimmter Sequenz und Struktur, Telomere genannt. An ihnen dockt das
Replikase-Enzym an, wobei dann bei der Replikation immer einige der letzten
Nukleotide nicht für die Tochterzelle verdoppelt werden. So werden die
12
DNA-Telomere, die „Schutzkappen“ am Ende
der Chromosomen – hier fluoreszenzmarkiert
Telomere im Laufe der Teilungen immer kleiner. Nach etwa 50 Zellteilungen
sind die Telomere aufgebraucht und es kann keine Replikation mehr stattfinden
und die Zelle beginnt mit dem Selbstmordprogramm. Nobelpreis 1999!
Soviel also zur Chemie des Todes auf der Ebene einer Zelle.
Doch zum Schluss noch einmal zurück zu Herrn Schrödinger: Gibt es vielleicht
zwischen dem Leben und dem Tod noch etwas anderes? Wir sehen im Bild
einen Käfig mit “Schrödingers Katze”. Sein Gedankenexperiment: Ein radioaktives Teilchen löst über einen Geigerzähler einen Hammer, der eine Giftflasche
zerschlägt, woraufhin die
Katze sterben muss. Nun
gibt es nach der Quantenmechanik auch die
Möglichkeit, dass die
Strahlenquelle ein den
Tod der Katze verursachendes Teilchen aussenden und auch nicht aussenden kann. Beides ist
quantenmechanisch
gleichzeitig möglich. Übertragen auf die makroskopische Welt ergibt sich das
Paradoxon, dass in diesem quasi-stabilen Zustand zwischen Leben und Tod die
Katze entweder lebend oder tot – oder beides ist. Weder tot noch lebendig – gibt
es das bei uns auch? Vielleicht ja, wenn wir über Herrn Schrödingers Katze und
die Quantenmechanik weiter nachdenken –.
13