Einleitung: Was ist Leben? - Karger

I.
Einleitung:
Was ist Leben?
Die Frage nach dem Leben beginnt mit dem Staunen darüber, dass es Leben gibt.1
Denn was ist es, das die Libelle über dem Wasser bewegt? Wie erklärt sich die Melodie im Singen der Nachtigall? Von diesem Staunen, sagt Francis Bacon, geht die
Forschung aus2, die danach fragt, was Leben ist.
1.
Was ist Leben aus der Sicht der Philosophie?
Die Philosophie bemüht sich, mit Hilfe der Vernunft das Leben, sein Werden und
Vergehen sowie die Welt als Ganzes zu ergründen. Im 6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung (v.d.Z.) erfolgte der Schritt von der mythischen Deutung des Lebens zu
seiner rationalen Erklärung.
In den demokratischen Städten an der Küste der Ägäis lösten sich die Vorsokratiker oder ionischen Naturphilosophen aus ihrer Abhängigkeit von der Götterwelt, indem sie sich dem selbständigen Denken verpflichteten. Sie begannen die
Natur zu erforschen, interessierten sich für Physik, Astronomie, Biologie und bemühten sich um die Erkenntnis eines allem Leben gemeinsamen Urstoffes, der dessen Vielfalt und Veränderung bewirkt.
Heraklit von Ephesos (540–480 v.d.Z.) beispielsweise bezeichnete das Feuer
als den Urstoff, den Weltengrund, der lebendig und beweglich ist. Teil dieses Allfeuers ist die Seele (psyche).3 Sie ist wie dieses seit Ewigkeit vorhanden. Über dem
Kosmos steht der logos4, mit dem Heraklit die Weltordnung, das Weltgesetz des
Werdens und Vergehens bezeichnet: «Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen,
schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und
ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Massen und erlöschend
nach Massen.»5
Empedokles von Akragas (492–432 v.d.Z.) führte die Wurzel aller Dinge nicht
auf einen einzigen Urstoff, sondern auf die vier Grundsubstanzen Feuer, Wasser,
Luft und Erde zurück, die durch ständige Mischung und Trennung den Umschwung
der Zeit mit ihrem Werden und Vergehen bestimmen. Damit sie in Bewegung kommen, sind ihnen die zwei Urkräfte Liebe (philia) und Hass (nekos) an die Seite gestellt, die in ständigem Wechsel wirksam sind.6 Die einende Kraft der Liebe und
die trennende Kraft des Hasses bilden das Weltall. In einem Wirbel von Ausdehnung und Zusammenziehung und unter der zusätzlichen Einwirkung der Sonnenstrahlen entstanden als Urzeugung auf der Erde die ersten Lebewesen.7
1 Vgl. Platon, Theaetetos 155d;
Aristoteles, Metaphysica
I. 2, 982-b, 12.
2 Vgl. Bacon, De dignitate et
augmentis scientiarum I, 1623.
3 Die Vorsokratiker verstehen die
Seele als «das in Atem und Körperwärme manifeste Lebensprinzip der Bewegung und Erkenntnis» (RGG 7, S. 1098).
4 Logos, «Wort, Gedanke».
Heraklit benützt als Erster das
Wort Logos zur Bezeichnung
2
Einleitung: Was ist Leben?
der Weltordnung. Für die Stoiker (z.B. Zenon von Kition,
334–262 v.d.Z.) ist der Logos
das den Stoff gestaltende Prinzip. Für Philo von Alexandrien
(zirka 30 v.d.Z. bis 50 n.d.Z.)
ist er die Offenbarung der göttlichen Vernunft, die zwischen
Gott und der Welt vermittelt.
Er ist der erstgeborene Sohn des
ewigen Vaters (vgl. De confusione linguarum 63). Für das
Johannesevangelium war der
Was ist Leben aus der Sicht der Philosophie?
Logos von Anfang an «bei
Gott, und Gott war der Logos,
durch den alles entstand». In
ihm war das Leben (Joh 1, 1).
5 Vgl. Herakleitos in Diels, 1989,
S. 157.
6 Vgl. Empedokles, Fragmente.
17 in Hirschberger, 1991, I,
S. 40f.
7 Ib.
3
Die drei klassischen Denker Griechenlands, Sokrates, Platon und Aristoteles
stellten nicht den materiellen Ursprung der Welt, sondern die Frage nach dem Menschen in den Mittelpunkt ihres Denkens. Sokrates (470–399 v.d.Z.) interessierte
sich nicht für die Erforschung der Natur, sondern für die moralische Dimension
des menschlichen Seins. Er übte einen grossen Einfluss auf diejenigen aus, die ihm
zuhörten, doch hinterliess er keine Schriften. Seine Lehre wurde durch seine Schüler, vor allem durch Xenophon und Platon, überliefert.
Platons (427–347 v.d.Z.) Lehre besagt, dass die Seele das immaterielle, unsterbliche Prinzip des Lebens ist. Sie steht im Gegensatz zum Leib, doch ist sie durch
ihn an die Materie, an das Irdische und an das Sinnliche gebunden.8 Gott, der
«Schöpfer und Vater dieses Alls»9, «der beste und vollkommenste von allen Urhebern»10, erschuf zuerst die Seele und dann den Leib des Menschen, und die Seele
empfing «die dem höheren Alter zustehende Würde [...] als Herrin und Gebieterin»11 des Leibes. Platon lässt Sokrates sagen: «Die Seele also, wessen sie sich bemächtigt, zu dem kommt sie immer Leben mitbringend.»12 Sie ist es, die «dem
Leibe einwohnt»13 und ihn lebendig macht. Der Leib aber «macht uns tausenderlei zu schaffen wegen der notwendigen Nahrung»14, der Krankheiten, der Lüste
und Begierden. «Solange wir noch einen Leib haben und unsere Seele mit diesem
Übel im Gemenge ist»15, sagt Platon, werden wir nie in befriedigender Weise das
Wahre erlangen können, wonach uns verlangt.
Die Seele ist das Wichtige, nicht der Leib, denn die Identität des Menschen besteht nicht in seiner körperlichen Erscheinung, sondern in der Art seiner Seele.
Platon versucht, die Philosophie mit dem politischen Leben zu verbinden. Er erklärt, dass die Seele des Menschen aus drei Teilen besteht, die den drei Ständen im
Staat entsprechen:
– dem «Logistikon»: Weisheit und Einsicht entsprechen den Gesetzgebern und
ihren weisen Entscheidungen;
– dem «Thymoides»: Mut und Tapferkeit entsprechen den Soldaten und ihrem
Mut zur Verteidigung der Freiheit;
– dem «Epithymetikon»: massvolle Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse
entsprechen den Handwerkern und Bauern und ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen.16
Diese drei Seelenanteile können ebenso wie die drei Stände im Staat nur dann
miteinander in Frieden leben, wenn jeder seine Aufgabe erfüllt.17 Die Seele ist das
Sich-selbst-Bewegende18, das als Trägerin des Lebens dessen Gegenteil, den Tod,
nicht annehmen kann. Sie kann nicht untergehen19, denn sie gleicht «dem Göttlichen und der Leib dem Sterblichen»20. Sie in bestem Zustand zu bewahren, sie vor
Schaden durch böse Handlungen zu schützen, ist die Aufgabe des Menschen, denn
sie ist sein kostbarstes Gut. Daher kann ein Mann nur dann guten Mutes sein,
wenn er «seine Seele geschmückt hat [...] mit dem ihr eigentümlichen Schmuck,
Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Edelmut und Wahrheit, so seine Fahrt
4
Einleitung: Was ist Leben?
nach der Unterwelt erwartend, um sie anzutreten, sobald das Schicksal rufen
wird»21. Er «müsse getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und der frohen
Hoffnung, dass er dort Gutes in vollem Mass erlangen werde, wenn er gestorben
ist»22. Lebende entstehen aus Toten und Tote aus Lebenden. Von einem Leben zum
anderen wird die unsterbliche Seele wiedergeboren werden, und das Werden und
Vergehen geht herum wie in einem Kreis.23
Aristoteles’ (384–322 v.d.Z.) Aussagen gründen auf der minutiösen Beobachtung der Natur und auf den sich daraus ergebenden logischen Schlussfolgerungen.
Leben ist ein Prozess der Selbstbewegung, dem die Seele – ein dem Organismus
immanentes Prinzip – zugrunde liegt. Ursache dieses Prozesses ist für Aristoteles
«der erste unbewegte Beweger»24, der als reine Form zeitlos ist. Er bewegt die Materie zur Form hin «wie ein Geliebtes und durch das [von ihm] Bewegte, bewegt es
[das göttliche Bewegungsprinzip] das übrige»25.
Aristoteles verwirft das dualistische Leib-Seele-Verständnis Platons. Für ihn ist
die Seele an den Körper gebunden und ist von ihm nicht abtrennbar, denn wie Form
und Materie bilden Seele und Leib zusammen eine Einheit. Die Seele ist die Form.
Sie vervollständigt die belebbare Materie des Leibes, indem sie diese zum Leben
erweckt.26 Wenn aber die Seele die Form der Materie ist, so bedeutet sie nicht die
äussere Gestalt der Lebewesen, sondern das den Körper bewegende, formende und
auf Vervollkommnung ausgerichtete Lebensprinzip, das Aristoteles entelecheia
(zum Ziel haben) nennt. Nur für die aus Samen entstehenden Pflanzen, Tiere und
Menschen ist die Seele die Ursache des Lebens.27 Für Lebewesen primitiver Art
wie Würmer und Maden gilt für Aristoteles die Lehre des Hippokrates (460–
370 v.d.Z.), der zufolge sie auf natürliche Weise durch Urzeugung (generatio
spontanea) aus faulender Materie entstehen.28
Pflanzen besitzen eine vegetative Seele, die zu Selbsternährung, Wachstum und
Fortpflanzung befähigt. Tiere verfügen über eine animalische Seele, die ihnen
Bewegung und Sinnesempfindung ermöglicht. Menschen zeichnen sich aus durch
den Besitz der rationalen Seele, die mit Vernunft ausgestattet ist und die auch die
vegetativen und animalischen Seelenanteile enthält. Diese rationale Seele ist die
grösste Würde des Menschen. Sie ist sein kostbarster Besitz, weil sie zum Denken,
Erkennen, Aneignen von Wissen, zur Freiheit des Handelns und zum Streben nach
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Vgl. Platon, Phaidon 67a.
Platon, Timaios 28c.
Ib., 29a.
Ib., 34c–35a.
Id., Phaidon 105d.
Ib., 105c.
Ib., 66b.
Ib.
Vgl. id., Politeia 440e–441a.
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Vgl. id., Timaios 46d.
Vgl. id., Nomoi 895e–896a.
Vgl. id., Phaidon 106d–e.
Ib., 80a.
Ib., 114e–115a.
Ib., 63e–64a.
Vgl. ib., 71d–72e.
Aristoteles, Physica VIII, 6;
258b.
Was ist Leben aus der Sicht der Philosophie?
25
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28
Id., Metaphysica XII, 7; 1072b.
Vgl. id., De anima, II, 1, 412a.
Vgl. ib., II, 3, 414a–b.
Vgl. id., De gen. anim. III, 11,
762 a9.
5
sittlicher Vollkommenheit befähigt.29 Wäre es denkbar, dass sie zusammen mit dem
Leib zugrunde geht? Aristoteles beantwortet die Frage, indem er zwischen zwei
Teilen der rationalen Seele unterscheidet: einem passiven Teil (nous pathetikos),
der manipulierbar und vergänglich ist, und einem aktiven Teil (nous poietikos),
dem zu abstraktem Denken befähigten Intellekt, der als höchste Energie der Seele
unzerstörbar und ewig ist.30
Von der Entstehung des Menschen sagt Aristoteles, dass der Nachwuchs aus
dem Samen des Mannes entsteht, denn er enthält die Form, die Seele oder die «Seelen-Potenz», die dem Embryo das Leben und die Bewegung schenkt.31 Die Frau ist
das Rezeptakulum für den Samen. Sie trägt nicht zur Zeugung bei. Ihr zurückgehaltenes Menstruationsblut entbehrt der Seele, aber es ernährt den Embryo, und
aus ihm entstehen seine Organe.32 Zuerst erhält dieser eine vegetative Seele, wodurch er wie eine Pflanze seine Wurzeln in den Uterus eingräbt und seine Nahrung
empfängt. Später erhält er eine animalische Seele, wenn seine Organanlagen sichtbar werden und wenn sein Tastsinn, seine Knochen und Muskeln so weit entwikkelt sind, dass er sich zu bewegen beginnt. Dies trifft beim männlichen Embryo um
den 40. Tag nach der Konzeption33 und beim weiblichen Embryo um den 80. Tag
zu.34 Eine rationale Seele erhält er erst dann, wenn das Gehirn so weit entwickelt
ist, dass er zu denken beginnt. Sie dringt von aussen in ihn ein, als ob sie göttlich
wäre, und erst mit ihrem Eintreffen beginnt der Prozess der Menschwerdung.35 Da
dieser Zeitpunkt nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, soll eine Schwangerschaft nach dem 40. Tag nicht mehr abgebrochen werden.36
Alles, was lebt, ernährt sich, wächst, pflanzt sich fort, bewegt sich und wird
sterben. Vernunft besitzt nur der Mensch. Menschliches Leben, sagt Aristoteles,
ist die mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele, aus der das entsprechende
Handeln folgt. Ziel des Menschen ist die reine Erkenntnis, die ihn vom Tier unterscheidet und ihn insofern den Göttern ähnlich macht, als sie ihn zur sittlichen Vollkommenheit und zu der daraus folgenden Glückseligkeit führt. Diese reine Erkenntnis ist kein Zustand der Ruhe, sondern ein höchstes Gut, das sich der Mensch
nur durch Anstrengung und Üben aneignen kann. Wer aber den Geist als das Göttliche in sich liebt, den lieben die Götter.37
Das Gedankengut von Platon und Aristoteles breitete sich rasch über den Mittelmeerraum aus und schuf ein Verständnis des Lebens, auf das sich heute noch
viele berufen. Philo von Alexandrien (zirka 30 v.d.Z.–50 n.d.Z.), ein frommer jüdischer Gelehrter, versuchte die Prinzipien der Bibel mit der Philosophie Platons in
Übereinstimmung zu bringen. Auch die Kirchenväter von Irenäus (gest. 200 n.d.Z.)
bis Isidor (gest. 636 n.d.Z.) waren hauptsächlich von Platon und seinem dualistischen Weltbild beeinflusst. Die Scholastik (11.–14. Jahrhundert) dagegen war von
Aristoteles geprägt, und im Mittelalter wurden die von ihm gelehrten drei Prinzipien – Materie, Leben, Intellekt – zur Grundlage des philosophischen Denkens.
Ihre berühmtesten Vertreter waren im Judentum Maimonides38, im Christentum
Thomas von Aquin39 und im Islam Averroes40. Die Erkenntnis durch die Vernunft
6
Einleitung: Was ist Leben?
hatte eine überragende Bedeutung. Als die letztlich verbindliche Autorität galt jedoch die göttliche Offenbarung. Sie wurde im Judentum, im Christentum und im
Islam mehrheitlich als Überhöhung und Vollendung der durch die griechische Philosophie entwickelten Erkenntnis angesehen. So führt beispielsweise Maimonides
seinen Diskurs mit einem Beflissenen der Philosophie, «der die wahre Wissenschaft
kennt und an die Worte der Schrift glaubt»41, und Thomas von Aquin schreibt:
«cum enim gratia non tollat naturam, sed perficiat, oportet quod naturalis ratio
subserviat fidei; sicut et naturalis inclinatio voluntatis obsequitur caritati»42. Averroes dagegen verteidigt den Anspruch der Ratio und lehrt, dass die Wahrheit glei-
29 Vgl. id., Ethica Nicomachea I,
11.
30 Vgl. ib., III, 5, 430a.
31 Vgl. id., De gen. anim. I, 21,
729b–730a.
32 Vgl. ib., II, 3, 737a.
33 Die Anlagen von Kopf und
Extremitäten und vielleicht
auch erste ruckartige Bewegungen könnten bei einem durch
eine Fehlgeburt ausgestossenen
40 Tage alten und etwa 2 cm
langen Embryo von blossem
Auge gesehen werden (vgl.
Abb. 10). Aber wie liess sich
zur Zeit des Aristoteles das
Datum der Konzeption feststellen?
34 Aristoteles und andere seiner
Zeitgenossen vertraten die Ansicht, der weibliche Embryo
entstehe durch ein abgeschwächtes formgebendes Prinzip des Samens. Er sei schwächer, entwickle sich langsamer
als der männliche Embryo und
seine Organe seien erst später
so weit ausgebildet, dass er mit
einer animalischen Seele ausgestattet werden könne (vgl. De
gen. anim. 768a). In der Bibel
wird die Dauer der postpostalen, rituellen Unreinheit der
Frau, je nach Geschlecht der
Kindes, unterschieden: 40 Tage
nach der Geburt eines Knabens;
35
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37
38
80 Tage nach der Geburt eines
Mädchens (vgl. Lev 12, 2–5).
Vgl. De anim. hist. 583b;
De gen. anim. 736b; De part.
anim. 640b.
(Vgl. De gen. anim.736a.) Die
Lehre einer stufenweisen Beseelung des Embryos wurde zur
Grundlage der jüdischen, christlichen und islamischen Rechtssprechung im Zusammenhang
mit dem Schwangerschaftsabbruch.
Vgl. id., Ethica Nicomachea
1176a–1179b.
Moses ben Maimon
(Maimonides oder Rambam
genannt, 1135–1204): geb. in
Cordoba, wirkte später in
Fostat (Alt-Kairo) als Oberhaupt der jüdischen Gemeinde,
Leibarzt des Wesirs und Sohnes
von Sultan Saladin, der Jerusalem für den Islam zurückeroberte. Gewaltigster Rechtsgelehrter und Philosoph des Judentums, Verfasser zahlreicher
theologischer und philosophischer Schriften. Hauptwerke:
«Mischne Tora» (Wiederholung
der Tora), ein systematischer
halachischer Kodex, und
«More Nevuchim» (Führer der
Unschlüssigen), eine in arabischer Sprache verfasste Synthese zwischen aristotelischer Phi-
Was ist Leben aus der Sicht der Philosophie?
39
40
41
42
losophie und jüdischer religiöser Erkenntnis.
Thomas von Aquin (1225–
1274): vorerst Benediktineroblate der Abtei Monte Cassino
und vertraut mit aristotelischer
Philosophie, danach Eintritt in
den Dominikanerorden. Lehrtätigkeit in Paris, Neapel, Rom.
Grösster Kirchenlehrer und
«angelicus scholarum princeps». Sein Hauptwerk ist die
«Summa theologica».
Averroes (Ibn Ruschd, 1126–
1198): berühmtester islamischer
Kommentator des Aristoteles
im Mittelalter, Bemühungen zur
Herstellung einer prinzipiellen
Übereinstimmung zwischen den
autoritativen Texten des Islams
und der Wissenschaft.
Maimonides 1995, Führer der
Unschlüssigen, Einleitung.
ST I, q. 1 a 8. «Da nämlich die
Gnade die Natur nicht aufhebt,
sondern vollendet, soll daher
die natürliche Vernunft dem
Glauben dienen, so wie auch
die natürliche Neigung des Willens der Liebe zur Verfügung
steht.»
7
chermassen aus der göttlichen Offenbarung und der Vernunft hergeleitet werden
müsse: «Philosophy (hikmah) is the friend of the Shari’ah and its sister through
breast-feeding», oder «demonstrative truth and scriptural truth cannot conflict»43.
Mit der Aufklärung und der naturwissenschaftlichen Wissensexplosion entstand
im 16. und 17. Jahrhundert ein radikal neues Verständnis des Lebens. Losgelöst
vom überlieferten Offenbarungsglauben und der Autorität der offiziellen Lehrmeinungen wurde es zunehmend vom rationalen Denken geprägt. Die Vernunft war
es, die von nun an das Wesen des Menschen ausmachte. Als wichtige Stationen zur
neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnis seien in Erinnerung gerufen:
– die Entdeckung eines Weltsystems durch Nikolaus Kopernikus (1473–1543),
in dem nicht mehr die Erde, sondern die Sonne den Mittelpunkt des Universums
bildete;
– die Erfindung des Fernrohres durch Galileo Galilei (1564–1642);
– die Erfindung des Mikroskops durch Anton van Leeuwenhoek (1632–1723);
– die Entdeckung des Gravitationsgesetzes durch Isaac Newton (1642–1727).
René Descartes (1596–1650) war einer der ersten Denker, die sich in Opposition zur mittelalterlichen Scholastik stellten. Als einzige Gewissheit galt ihm die durch
Zweifel gewonnene Einsicht. Nur das sei wahr, was sich als klar und deutlich gesichert erweise. Man könne alles bezweifeln, zwei Dinge ständen jedoch fest: die
Tatsache des Denkens und das eigene Ich, das denkt: «Je pense, donc je suis.»44
Descartes verstand Leib-Materie und Seele-Intellekt als zwei ontologisch voneinander getrennte und sich doch gegenseitig beeinflussende Realitäten. Der Leib
ist die «ausgedehnte Substanz» (res extensa), weil die Ausdehnung im Raum die
Materie charakterisiert. Für seine Lebendigkeit bedarf er keiner Seele, denn sie ist
erklärbar durch die Prozesse der Materie und funktioniert automatisch wie die
Uhr, die die Stunden anzeigt.45 Pflanzen und Tiere besitzen keine Seele und werden
daher wie Maschinen behandelt. Der Mensch verfügt zwar über eine rationale
Seele, doch ist sie nicht befähigt, den Leib zu beleben. Sie ist reiner Gedanke, gestaltlose Substanz (res cogitans), die unabhängig vom Körper existiert: «elle est
d’une nature qui n’a aucun rapport à l’étendue ni aux dimensions, ou aux propriétés de la matière dont le corps est composé»46. Es gibt nichts in uns «que nous
devions attribuer à notre âme, sinon nos pensées»47. Der Sitz der Seele ist die
Zirbeldrüse des Hirns «d’où elle rayonne en tout le reste du corps par l’entremise
des esprits, des nerfs et même du sang»48. Die Seele stammt von Gott, der sie in die
«machine du corps» eingepflanzt hat.49 Sie ist von vollständig anderer Natur als
der Leib und nicht notgedrungen mit ihm dem Tod unterworfen.50 Descartes sagt
nicht, der Mensch sei eine Maschine, aber er eröffnet den Weg für diese Aussage,
indem er die Maschine mit dem Menschen vergleicht.51
Der entscheidende Schritt zu einem rein mechanistischen Verständnis des Lebens erfolgt mit dem Buch «L’homme machine» (1748) des atheistischen Arztes
und Philosophen Julien Offray de La Mettrie (1709–1751),52 der die Existenz einer
8
Einleitung: Was ist Leben?
Leben spendenden, unsterblichen Seele verneint. An ihrer Stelle funktioniert das
Gehirn, die res extensa, die das Denken ermöglicht. Gemäss diesem Verständnis
erklärt sich Leben durch die der Materie innewohnenden immanenten Gesetze, die
keiner übergeordneten Ordnung bedürfen. Der Geist verliert den Primat über die
Materie und wird von ihr vollständig verdrängt.
Eine Gegenbewegung zu diesem rein mechanistischen Verständnis des Lebens
erfolgt im selben Jahrhundert durch die «Vitalisten», die das Leben auf eine Lebenskraft, auf ein lebensspendendes Prinzip zurückführen, das der Materie übergeordnet ist und sie belebt. Zu ihnen gehören die Ärzte der Ecole de Médecine de
Montpellier. Ein Vertreter dieser Schule, der Arzt Joseph P. Barthez (1734–1806),
definiert die Lebenskraft folgendermassen: «Ainsi j’appelle Principe Vital de
l’Homme, la cause qui produit tous les phénomènes de la vie dans le corps humain.»53 Ein anderer Arzt dieser Zeit, Marie François Bichat, Paris (1771–1802),
sagt: «La vie est l’ensemble des fonctions qui résistent à la mort.»54
Louis Pasteur, Paris (1822–1891), Begründer der Mikrobiologie, widerlegt die
seit der Antike geltende Theorie der Urzeugung endgültig: Alles Lebendige entsteht aus Lebendigem, «omne vivum ex vivo», und es entsteht durch eine «action
vitale»55.
Henry Bergson, Paris (1859–1941), einer der bedeutendsten Denker unter den
«Vitalisten», spricht vom «élan vital» als Ursache der Evolution und der Entstehung immer komplexerer Lebensformen.56
Hans Driesch, Leipzig (1867–1941), gehört mit Bergson zu den letzten einflussreichen Vitalisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Er stellt fest, dass sich die
voneinander getrennten Blastomeren57 eines Seeigelembryos zu selbständigen, voneinander unabhängigen Seeigeln entwickeln, und schliesst daraus auf das Wirken
einer vis vitalis, einer von der Materie unabhängigen Kraft, die den Lebensprozess
steuert.58
In den Jahren nach Bergson und Driesch verlor der «Vitalismus» an Bedeutung.
Gleichzeitig änderte sich auch der Begriff der Seele: Als geistige Dimension des Menschen wird sie mit Geist, Selbst59, Ich oder Bewusstsein bezeichnet und wird zunehmend als eine Realität des Menschen verstanden, die ihren Sitz im Gehirn hat.
43 Averroes, 1992, S. 115.
44 Descartes, 1960, Discours de la
Méthode IV, S. 52.
45 Vgl. id. 1953, Traité de
l’homme, AT XI, S. 119–120.
46 Id. 1973, Les Passions de
l’Ame, XXX, S. 976.
47 Ib., XVII, S. 966.
48 Ib., XXXIV, S. 979.
49 Ib., XXXIV, S. 980.
50 Vgl. id. 1953, Lettre du 24
décembre 1640 à Mersenne,
S. 1105.
51 De La Mettrie (1748), 1999.
52 Vgl. Descartes, 1960, Discours
de la Méthode V, S. 90ff.
53 Barthez, 1806, S. 47.
54 Bichat, 1805/1995, S. 1.
55 Pasteur, 1848, S. 457.
56 Vgl. Bergson, 1907, S. 21.
Was ist Leben aus der Sicht der Philosophie?
57 Blastomeren sind identische
Zellen, die aus der befruchteten
Eizelle durch Teilung hervorgehen.
58 Vgl. Hirschberger, 1991, II,
S. 616.
59 Selbst bezeichnet die Gesamtheit sämtlicher bewusster und
unbewusster Prozesse (vgl.
Jung, 1971, S. 502).
9
1.1.
Zusammenfassung des philosophischen Angehens der Frage: Was ist Leben?
2.
Von den griechischen Philosophen bis zur Aufklärung wird die Seele als Ursprung
des Lebens bezeichnet und fast ausnahmslos auf eine göttliche Macht zurückgeführt. Erst mit der Aufklärung und mit dem Fortschritt der Naturwissenschaft
trennt sich die Philosophie von der Religion. Es entsteht ein zunehmend mechanistisches Verständnis des Lebens, das als Selbstorganisation der Materie definiert
und von seinen Verbindungen zum geistigen Bereich getrennt wird. Gegen dieses
Lebensverständnis erheben sich im 18. Jahrhundert die «Vitalisten», die annehmen,
dass hinter den Erscheinungen des Lebens eine Lebenskraft steht, eine vis vitalis,
welche die Materie belebt. Der «Vitalismus» gilt heute als überholt. Doch ist die
Diskussion nicht abgeschlossen zwischen den Anhängern eines rein mechanistischen Verständnisses des Lebens und denjenigen, für die das Leben mit dem analytischen Denken allein nicht erfasst werden kann.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
Die Naturwissenschaft bemüht sich, Leben mit den Gesetzen der Physik, der Chemie und der Biologie zu ergründen, und stützt sich auf Experimente, die reproduzierbar sind. Alles Leben auf der Erde hat einen Anfang. Diesem Anfang wird jetzt
in grossen Linien nachgegangen, beginnend mit der Entstehung des Universums,
des Lebens auf der Erde und eventuell ausserhalb der Erde bis hin zu dem Versuch,
mittels «Artificial Life» gewisse Lebensprozesse zu imitieren oder Leben zu synthetisieren.
Alles Leben auf der Erde könnte dereinst ein Ende nehmen. Es könnte vernichtet werden durch Pandemien, von Menschen vorgenommener Zerstörung der Umwelt, Aufprall eines Himmelskörpers oder Entstehung eines «big crunch». Letztlich
könnte die Erde im Laufe von wenigen Milliarden Jahren durch die zunehmende
Strahlungsintensität der sich aufblähenden Sonne verbrannt werden.
2.1.
Die Entstehung des Universums als Ganzes
Wahrscheinlich gab es bis vor 13,7 Milliarden Jahren keine Materie, keinen Raum
und keine Zeit; es gab nur gewaltige Mengen positiver und negativer Energie in
einem Vakuum, die sich gegenseitig aufhob und in ihrer Gesamtheit auf einem
Punkt Null komprimiert war. Durch eine minimale Fluktuation in diesem hochkonzentrierten Energiefeld oder, wie Andrei Linde sagt, durch eine «Fluktuation
des Nichts»60 könnte die plötzliche kosmische Explosion ausgelöst worden sein,
die als «Urknall» oder «Big Bang» bezeichnet wird. Dabei wurden gewaltige
Energiemengen freigesetzt, und es entstand ein dreidimensionaler Raum. Schon in
den ersten Sekunden nach dem Urknall könnten die ersten stabilen Protonen, Neutronen und Elektronen gebildet worden sein, Elementarteilchen, aus denen sich
später die Atome – überwiegend Helium und Wasserstoff – aufbauen sollten.
Höchste Temperaturen, Druck und intensivstes Licht schienen sich mit blitzartiger
Geschwindigkeit im Universum auszubreiten. Als dieses sich abkühlte, bildeten
sich aus Helium- und Wasserstoffwolken die ersten Sterne und Galaxien.61 Die zum
Leben notwendigen schweren Elemente wie Kohlenstoff, Sauerstoff, Eisen und andere entstanden durch thermonukleare Fusionsprozesse im Innern der massiven
Sterne einer späteren Sternengeneration.62
Es wird angenommen, dass mit dem Urknall nicht nur der dreidimensionale
Raum, sondern auch die Zeit und die physikalisch-chemischen Grundgesetze ihren
60 Linde, 1989, S. 15; 34.
10
Einleitung: Was ist Leben?
61 Galaxien: Ansammlung von
einer bis mehreren Milliarden
Sterne, die um ein gemeinsames
Zentrum kreisen.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
62 Vgl. Cayrel, 2005, S. 838.
11
Anfang nahmen.63 Was vor dem Urknall war, bleibt spekulativ, und wann genau
er stattfand, ist nicht bekannt. Unbekannt ist auch, wie das Universum sich weiter
entwickeln wird. Entsprechend dem Hubbleschen Gesetz64 erweitert es sich dauernd, indem die Galaxien seit ihrem Anfang mit höchster Geschwindigkeit auseinander treiben und zwar umso schneller, je weiter sie voneinander entfernt sind. Die
Frage bleibt offen, ob es sich bis in alle Ewigkeit immer weiter ausdehnt, ob seine
Expansionsgeschwindigkeit einst durch die Gravitationskraft gebremst wird, oder
ob es nach einer maximalen Ausdehnung durch einen «big crunch», durch eine
zermalmende Endkatastrophe, in sich zusammenstürzen wird.65 Schliesslich könnte es, wie es schon Empedokles66 vermutete, in endlosen Zyklen immer wieder
vergehen und entstehen, von einem Big Bang zu einem «big crunch» und wieder
zurück zu einem neuen Big Bang, gleich einem «kosmischen Tanz»67.
Das Universum als Ganzes ist unvorstellbar: Es enthält über 100 Milliarden
Galaxien im sichtbaren Weltraum, und mit den modernsten optischen Geräten
können gegenwärtig um die 70 000 Trillionen Sterne beobachtet werden.68 Diese
entstehen aus siedenden Gasen und vergehen wieder. Massenreiche Sterne zerstören sich selbst, indem sie durch gewaltige Supernovae-Explosionen69 ihre Materie
in den Weltraum schleudern und dadurch Energie freisetzen.70
2.2.
Die präbiotische Erde
Vor etwa 5 Milliarden Jahren entstand unsere Sonne als kleiner Stern an der Peripherie der Milchstrasse (Abb. 1), die mehr als 200 Milliarden Sterne zählt. Unter
den 9 oder mehr Planeten71, die sie umkreisen, konnte sich nur auf der Erde – vielleicht einzig im ganzen Weltall – aus toter Materie Leben entwickeln.
Vor 4,5 Milliarden Jahren war die Erde noch eine glühende Kugel. Später war
sie ein kalter, lebloser Fels, den warme Urmeere umspülten, die durch Kondensation von Wasserdampf aus dem erkalteten Gestein entstanden waren. Gewaltige
Meteoriten bombardierten sie, und ihre Kontinente wurden in Brand gesetzt. Erst
als die kosmischen Katastrophen seltener wurden und die Erde sich beruhigte,
konnten auf ihr die chemischen Prozesse stattfinden, aus denen Leben entstand.
Nach dem nicht allgemein anerkannten «Anthropic Cosmological Principle»
von John Barrow und Frank Tripler müsste eine bestimmte Anzahl aufeinander
abgestimmter Konstanten vorhanden gewesen sein, damit Leben entstehen konnte.
Die kleinste Veränderung dieser Konstanten hätte menschliches Leben auf der Erde
verunmöglicht.72 Wäre zum Beispiel die Umlaufbahn der Erde wie die des Mars
weiter entfernt von der Sonne verlaufen, so wäre das Wasser ihrer Urmeere gefroren. Hätte sie wie die der Venus näher an der Sonne vorbeigeführt, so wäre ihre
Oberflächentemperatur so hoch gewesen, dass alles Wasser verdunstet wäre. Die
Umlaufbahn der Erde liegt im engen Bereich zwischen zu grosser und zu kleiner
Entfernung von der Sonne, wodurch auf ihrer Oberfläche Temperaturen herrschen,
welche die Existenz von nicht gefrorenem Wasser ermöglichen. Unter allen Plane-
12
Einleitung: Was ist Leben?
Abb. 1. Milchstrasse (Dr. Fred Espenak, Science Photo Library, http://www.sciencephoto.com).
63 Vgl. Rees, 1998, S. 13, 193.
64 Hubblesches Gesetz: die Fluchtgeschwindigkeit der Galaxien
wurde 1925 durch Spektralanalyse nachgewiesen.
65 Vgl. Dumm, 19. April 2000,
S. 73.
66 Vgl. Kapitel I.1.
67 Vgl. Steinhardt und Turok,
2002, S. 1436–1439.
68 Vgl. Driver, 2003, http.
69 Supernova: Explosion eines
Sterns, dessen Masse mindestens fünfmal grösser ist als die
der Sonne.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
70 Vgl. Coyne, 2001, S. 359–364.
71 Vgl. Clark, 2005, S. 30.
72 Vgl. Barrow und Tipler, 1986,
S. 21ff.
13
ten des Sonnensystems scheint nur die Erde flüssiges Wasser zu besitzen, und dieses
scheint als universales Lösungsmittel und als Medium für chemische Reaktionen
die unumgängliche Voraussetzung dafür zu sein, dass Leben entstehen kann.73 Als
weitere Voraussetzung gilt das Vorhandensein von:
– Kohlenstoff, der Grundsubstanz des Lebens. Er entstand im brennenden Inneren der Sterne, wurde bei deren Explosion ins Weltall geschleudert und gelangte von dort auf die sich bildende Erde.74
– Sauerstofffreier Atmosphäre, der sogenannten «Uratmosphäre». Es wird angenommen, dass sie vor allem aus Kohlendioxyd (CO2), Ammoniak (NH3), Stickstoff (N2), Methan (CH4), Schwefelwasserstoff (H2S) und Wasserstoff (H2) bestand, d.h. aus Gasen, wie sie heute noch bei Vulkanausbrüchen entstehen. Nur
in einer derart zusammengesetzten Atmosphäre konnten aus kleinen Molekülen
die zum Leben notwendigen Makromoleküle75 – Nukleinsäuren76 und Proteine77 – synthetisiert werden. Während fast 2 Milliarden Jahren wurde die Erde
von dieser «Uratmosphäre» umgeben, d.h. solange bis sie durch mikrobielle
Photosynthese78 mit Sauerstoff angereichert wurde.79
– Energie zur molekularen Evolution. Licht und Wärme der Sonne waren die
primären Energiequellen auf der Erde. Zudem wurde Energie durch Blitzentladung, Aufprall von Meteoriten, Vulkanausbrüchen oder im Laufe chemischer
Reaktionen freigesetzt.
2.3.
Ursprung und Entwicklung von Leben auf der Erde
Viele experimentelle Befunde weisen darauf hin, dass das Leben chemischen Ursprungs ist und dass es aus kohlenstoffhaltiger Materie entstand. Wie und wo vor
mehr als 3,8 Milliarden Jahren seine molekulare Evolution begann, bleibt umstritten. Diskutiert werden folgende Möglichkeiten:
Entstehung von Leben durch direkte kosmische Beteiligung
Interstellarer Staub, Kometen und Meteoriten brachten aus dem Innern der Sterne
neben Kohlenstoff auch andere organische Moleküle wie Aminosäuren auf
die Erdoberfläche. Dort kamen sie mit dem warmen, mineralreichen Wasser der
Lagunen in Kontakt, und unter der Einwirkung von Sonnenenergie entstanden
vielleicht die chemischen Präkursoren des Lebens oder die ersten lebenden Mikroorganismen.80 Die Panspermie-Hypothese besagt, dass sogar Bakterien auf die Erde
gebracht worden seien, die im Innern von Meteoriten den Bedrohungen der Reise
durch das Weltall mit seiner Hitze, Kälte, Radioaktivität und intensiven Ultraviolettstrahlung widerstehen konnten.81 Christian de Duve versteht daher das ganze
Universum als ein gewaltiges Laboratorium organischer Chemie.82 Er sagte von
ihm, es sei «pregnant with life»83.
14
Einleitung: Was ist Leben?
Entstehung von Leben ohne direkte kosmische Beteiligung
Die Umwandlung von anorganischen in organische Stoffe und ihre weitere chemische Evolution, die zum Leben führte, könnten sich auf der Erde selbst, in der Nähe
der kochend heissen Vulkanschlote des Meeresbodens ereignet haben. Die dort
fehlende Sonnenenergie wäre durch die Energie ersetzt worden, die bei der Umwandlung schwefelhaltiger Gase in Pyrit und Wasserstoff freigesetzt wurde.84 Als
erste Lebewesen sind Archaea denkbar, bakterienähnliche kernlose Organismen,
die ungestört unter extremsten Bedingungen zu leben vermögen. Spuren des Lebens
wurden auch auf dem Boden der Ozeane Grönlands, in den ältesten Gesteinen der
Erde gefunden, und ihr Alter wird auf 3,8 Milliarden Jahre geschätzt.85
Entstehung von Leben – allgemein
Die meisten Biologen nehmen an, dass Leben nicht direkt aus lebloser Materie
entstand, sondern dass es Zwischenformen geben musste: zum Beispiel sich selbst
replizierende86, d.h. sich selbst kopierende Moleküle mit noch nicht kodierter Instruktion, die sich modifizieren konnten.87 Als Vorstufe des Lebens und als erstes
Molekül, das vererbbare Information speichern und weitergeben konnte, wird eine
selbstreplizierende Nukleinsäure angenommen. Sie war vielleicht eine «precursor
substance» der Ribonukleinsäure (RNA)88, die fähig war, entweder chemische Reaktionen ohne Proteine zu katalysieren oder Aminosäuren zu binden und sich an
der Biosynthese der Proteine zu beteiligen.89 Erste Gene bestanden wahrscheinlich
aus RNA. Die eigentliche Erbsubstanz, die Desoxyribonukleinsäure (DNA), könnte zu einem späteren Zeitpunkt aus der RNA hervorgegangen sein.90 Aus der Interaktion zwischen Energie, RNA, DNA, Proteinen und anderen in Wasser gelösten
73 Vgl. Aviezer, 2000, S. 53–56.
74 Vgl. Barrow und Tipler, 1986,
S. 3.
75 Kleine Moleküle bestehen aus
etwa 30 Atomen pro Molekül
(z.B. Zucker, Aminosäuren);
Makromoleküle dagegen sind
lange Ketten, die aus mehreren
hundert kleinen Molekülen
aufgebaut sind.
76 Nukleinsäuren: Sammelbegriff
für Ribonukleinsäure (RNA)
und Desoxyribonukleinsäure
(DNA); beide sind Träger der
Erbinformation.
77 Proteine sind Eiweissverbindungen, die aus den in der Natur
vorkommenden 20 verschiedenen Aminosäuren aufgebaut
sind und als lebenswichtige
Enzyme wirken.
78 Photosynthese bezeichnet die
für das Leben notwendigen
Stoffwechselreaktionen chlorophyllhaltiger Organismen, bei
denen durch Lichtquantenabsorption aus CO2 und Wasser
Kohlenhydrate und Sauerstoff
gebildet werden (aus 6CO2 +
6H2O wird C6H12O6 + 6O2).
79 Vgl. Plattner und Hentschel,
2002, S. 415.
80 Vgl. Kutschera, 2001, S. 100.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
81 Vgl. Roten et al., 1998,
S. 1092; de Duve, 2002, S. 45.
82 Vgl. de Duve, 2002, S. 46.
83 Ib. 2002, S. 298.
84 Vgl. Huber und Wächtershäuser, 1998, S. 670.
85 Vgl. Mojzsis et al., 1996,
S. 55–59.
86 Selbstreplizierend: Entstehung
von zwei identischen Tochtermolekülen.
87 Vgl. Luisi, 1997a, S. 463.
88 Vgl. Oberholzer et al., 1999,
S. 238.
89 Vgl. Tamura und Schimmel,
2001, S. 1393–1397.
90 Vgl. Luisi, 1997a, S. 467.
15
Kohlenstoffverbindungen entstanden möglicherweise die Vorläufer der Zelle91, primitive Organismen, die noch keinen Zellkern und keine Zellwand besassen; ihre
Existenz wird angenommen, ist aber nicht erwiesen.
Die Zelle als elementarste Struktur des Lebens
Die Zelle ist die kleinste biologische Einheit, die zu selbständigem Leben, d.h. zu
Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung und Vererbung fähig ist. Im Gegensatz zur
unbelebten Materie besitzt sie ein eigenes genetisches Programm. Im Jahre 1858
schrieb Virchow seinen berühmten Satz: «Omnis cellula e cellula»92. Jede Zelle
lässt sich zurückführen auf die vorhergehende Zelle bis zur befruchteten Eizelle
und weiter bis zur ersten Zelle, die auf der Erde entstanden ist. Diese Regel kennt
keine Ausnahme. Es gibt nur ein Leben, und alles Leben geht von einer ersten Zelle aus, von der man nicht genau weiss, wie sie aus nicht als Zelle organisierten
Molekülen entstanden ist. Möglicherweise waren ihre Vorgänger kleine, spontan
in den Urmeeren auftretende Liposomen (Fettbläschen), die sich vermehren konnten.93 Die Zelle, wie wir sie kennen, ist eine mikroskopisch kleine Einheit, die in
Tausendsteln von Millimetern gemessen wird. Sie ist ein komplexes, sich selbst
regulierendes und sich selbst erhaltendes System, in dem sich die verschiedensten
chemischen Vorgänge abspielen, die miteinander vernetzt zum Leben notwendig
sind.94 Ihre Grundsubstanz ist das Zytoplasma, das zu 75% aus Wasser besteht
und verschiedenste Proteine, Fette, Kohlenhydrate und andere Stoffe enthält. Eine
semipermeable Zellwand umschliesst sie und reguliert durch ihre Poren den Austausch von Ionen und von Molekülen, der zur Aufrechterhaltung ihres inneren
Milieus notwendig ist. Mit Ausnahme der Bakterien, bei denen ein ringförmiger
DNA-Strang im Zytoplasma die genetische Information enthält, verfügen fast alle
Zellen über einen Zellkern, in welchem sich der Grossteil des Genoms in Form der
aufgerollten DNA vorfindet. Diese ist beim Menschen auf 46 Chromosomen verteilt und enthält den überwiegenden Teil der genetischen Information, welche die
Zelle für ihren Stoffwechsel, ihr Wachstum, ihre Differenzierung und ihre Teilung
braucht. Das Genom ist komplexer als die Summe seiner Gene.95 Verglichen mit
der Taufliege besitzt der Mensch nur etwa doppelt so viele Gene. Entscheidend für
den Unterschied zwischen beiden ist jedoch nicht nur die Anzahl ihrer Gene, sondern auch, ob diese Gene in einem aktiven Zustand vorliegen oder ob sie durch
molekularbiologische Mechanismen zum Verstummen gebracht worden sind. Die
Faktoren, die bestimmen, welche Gene aktiv werden und welche nicht, finden sich
im Zytoplasma der Zelle.96
Das menschliche Genom97 besteht aus etwa 30 000 Genen. Im Allgemeinen enthält jedes Gen die Information zur Synthese eines Proteins, das sich durch eine
bestimmte Abfolge und eine bestimmte Zahl der 20 natürlich vorkommenden Aminosäuren definiert und das als Enzym, Hormon oder Transportmolekül für die
Stoffwechselvorgänge in der Zelle verantwortlich ist.
16
Einleitung: Was ist Leben?
Abb. 2. Doppelhelixstruktur der DNA nach J. Watson und F. Crick, 1953.
Die DNA ist ein besonderes kettenförmiges Makromolekül (Abb. 2). Es besteht
aus einem schraubenförmig verlaufenden Doppelstrang, der aus linear miteinander
verbundenen Zuckermolekülen (Desoxyribose)98 und Phosphatgruppen aufgebaut
ist. An die zwei Stränge sind paarweise und komplementär je eine Purin- und eine
Pyrimidinbase (Adenin-Thymin und Guanin-Cytosin)99 angeheftet, die durch eine
Wasserstoffbrücke lose miteinander verbunden sind. Einzelbausteine der DNA sind
die Nukleotide. Sie bestehen aus einem Zuckermolekül, einem Phosphat und einer
der vier Basen. Auf der linearen Sequenz der Basen in den sich aneinander reihenden Nukleotiden beruht die genetische Information der DNA zur Proteinsynthese.100 Gemäss dem «zentralen Dogma» von James Watson und Francis Crick101
wird diese Information bei allen Lebewesen im Zellkern von der DNA auf die
91 Vgl. Kutschera, 2001,
S. 108–114.
92 Vgl. Virchow, 1871, S. 24.
93 Vgl. Luisi, 2002, S. 58f.
94 Vgl. ib., S. 55.
95 Gen: Träger der Erbinformation, Abschnitt der DNA, der
die Information zur Synthese
von Progesteron enthält.
96 Vgl. Nüsslein-Volhard, 2004,
S. 39.
97 Ein kleiner Teil der DNA des
menschlichen Genoms stammt
aus den Mitochondrien, den
durch Endosymbiose entstandenen Organellen im Zytoplasma
der Zelle (vgl. Kapitel I.2.3,
«Erste Lebewesen auf der
Erde»).
98 Ribose: Zucker mit fünf
C-Atomen. Desoxyribose:
Ribose, der ein Sauerstoffatom
fehlt.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
99 Purin- und Pyrimidinbasen
sind organische Verbindungen,
bestehend aus ringförmig angeordneten Kohlenstoff- und
Stickstoffatomen.
100 Vgl. Plattner und Hentschel,
2002, S. 84.
101 Vgl. Watson und Crick, 1953,
S. 737f.
17
RNA102 überschrieben (Transkription), die sie zu den Ribosomen103 im Zytoplasma
bringt. Dort wird die in der RNA enthaltene Sequenz der Basen in die Sequenz der
Aminosäuren übersetzt (Translation), die zur Synthese eines bestimmten Proteins
führt. An den Ribosomen vermischen sich somit die Grenzen zwischen der die Information übertragenden RNA und den zur Ausführung der Information bestimmten Proteinen.104 Der genetische Code definiert die Beziehung zwischen der Nukleotidsequenz in einem Gen und der Aminosäurensequenz in einem Protein. Er
ist bei fast allen Lebewesen identisch.
Die wichtigste Funktion der Zelle besteht in ihrer Selbsterhaltung.105 Voraussetzungen dafür sind:
– Die Fähigkeit zur Selbstreplikation, d.h. zur Verdoppelung der DNA und zur
Induktion eines originalgetreuen Replikats. Dieser als Mitose bezeichnete Prozess, der durch Kern- und Zellteilung zu zwei identischen Tochterzellen führt,
ist die Essenz des Lebens, und alles andere ist ihr untergeordnet.106
– Die Fähigkeit zur Homöostase (griech. «Gleich-Stand»), d.h. zur Aufrechterhaltung eines Zustandes, in dem nicht nur das innere und das äussere Zellmilieu miteinander im Gleichgewicht stehen, sondern auch die Regeneration und
Teilung der Zelle und ihr Absterben durch Apoptose und Nekrose.107 Eine unbehinderte Zellvermehrung würde zu Tumorbildung führen, und würde der
Zelltod überhand nehmen, so käme es zum Absterben des Gewebes.108
– Fähigkeit zur Autopoiese109 und zur Kognition110. Durch diese beiden komplementären und gleichwertigen Vorgänge, sagt Humberto Maturana, werde das
zelluläre Leben reguliert.111 Autopoiese bezeichnet den Prozess der Selbstorganisation der Zelle in ihrem von der Zellwand umschlossenen Bereich. Jede Zelle wird von einer Interzellularsubstanz umgeben, durch die sie mit ihrer Umwelt
in molekularem Austausch steht. Kognition ist ein «Akt von Erkennung»112 und
bedeutet, dass die Zelle erkennt, was sie aus dem Interzellularraum zu ihrer
Regeneration benötigt. Autopoiese und Kognition sind nach dieser Theorie zwei
Aspekte des Lebens, die zusammengehören. Sie zeigen, dass die in der Zelle
vorhandene Erkenntnis sich selbst nicht genügt, dass die Zelle das Organische
der Umwelt zum Leben braucht, dass Geist und Materie keiner Trennung unterliegen und dass es kein Bewusstsein ausserhalb des Körperlichen gibt.113
Merkmale lebender Organismen
Claude Bernard beschrieb 1878 fünf Eigenschaften, die allen lebenden Organismen
gemeinsam sind: Organisation, Fortpflanzung, Ernährung, Entwicklung und Empfindlichkeit gegenüber Krankheit und Tod.114
Von Claus Emmeche wurden 1994 folgende Eigenschaften als grundlegend für
das Leben bezeichnet115:
– die Fähigkeit zur Selbstorganisation, d.h. zur selbst ablaufenden Organisation
der Moleküle, die zu einer spontanen Zunahme von Ordnung führt;
18
Einleitung: Was ist Leben?
– die Fähigkeit zur Sammlung und zur Speicherung von Information in der
DNA;
– die Fähigkeit zur Selbsterhaltung innerhalb bestimmter Grenzen;
– die Fähigkeit zur Adaptation an eine veränderte Umwelt;
– die Fähigkeit zur Entwicklung neuer Potenziale durch genetisch bedingte Variablität116, Endosymbiose117 oder natürliche Selektion;
– die Fähigkeit zur asexuellen oder sexuellen Reproduktion;
– die Fähigkeit zur Emergenz, d.h. zur Entstehung neuer, komplexerer, nicht voraussehbarer Eigenschaften, die sich durch keine der vorausgegangenen Entwicklungsstufen erklären lassen. Als emergente Eigenschaft des Lebens wird z.B. die
lebende Zelle bezeichnet, die aus unbelebten Molekülen entstand.118
Chemische Synthese des Lebens?
«Life is explained in chemical terms», sagt Christian De Duve.119 Es ist bisher nicht
gelungen, Leben mit Hilfe der Chemie zu synthetisieren. Im Jahre 1953 vermochte zwar Stanley Miller, unter Imitation präbiotischer Bedingungen120, Aminosäuren,
aus denen die Proteine bestehen, und andere für das Leben notwendige Moleküle
im Labor zu synthetisieren.121 Sein Experiment bewies, dass die Grundstoffe des
102 RNA ist eine einstrangige
Nukleinsäure. Sie besteht aus
aneinander gereihten Nukleotiden, die wie diejenigen der
DNA aufgebaut sind, jedoch
anstelle der Desoxyribose eine
Ribose als Zucker und anstelle
von Thymin Uracil als Base enthalten.
103 Ribosomen sind kleinste Partikel im Zytoplasma, an denen
die Synthese der Proteine stattfindet.
104 Vgl. Carell, 2000/2001.
105 Vgl. Luisi, 2002, S. 55.
106 Vgl. Pross, 2004, S. 307.
107 Apoptose, griech. apo «weg»,
ptosis «Fall»: selbstprogrammierter Zelltod innerhalb der
Zellmembran, wobei die Zellstruktur und der Zellkern abgebaut und die sterbende Zelle
von Makrophagen aufgefressen
wird, ohne eine entzündliche
Reaktion der umgebenden Zel-
108
109
110
111
112
113
114
len hervorzurufen. Auch einzelne Virus-infizierte oder bösartig
entartete Zellen werden auf diese Weise eliminiert. Die Nekrose (griech. nekros, «Tod») ist
ein Zelltod mit unbestimmter
Flächen- und Tiefenausdehnung
und begleitenden Entzündungserscheinungen.
Vgl. Brunner, 2003, S. 5ff.
Autopoiese, griech. auto
(«selbst»), poiesis («Hervorbringung»).
«Cognition not as a representation of the world ‹out there›,
but rather as an ongoing bringing forth of a world through
the process of living itself»
(Maturana und Varela, 1998,
S. 11).
Vgl. Maturana und Varela,
1998, S. 29, 47.
Luisi, 2002, S. 61.
Vgl. ib., S. 65.
Vgl. Bernard, 1966, S. 32.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
115 Vgl. Emmeche, 1994, S. 32.
116 Durch Mutation (spontan auftretende oder durch äussere
Einflüsse bedingte Veränderung
der Nukleotidsequenz innerhalb
der DNA) oder durch Rekombination (bei der sexuellen Fortpflanzung auftretende Veränderung der Erbsubstanz).
117 Einverleibung eines Organismus
in einen anderen. Vgl. Kapitel
I.2.3, «Erste Lebewesen auf der
Erde».
118 Vgl. Luisi, 2002, S. 48; Blitz,
1992, S. 176.
119 De Duve, 2002, S. 59.
120 D.h. sauerstofffreie Atmosphäre und elektrische Entladungen,
die als Energiequelle dienen und
in einem Gemisch von Ammoniak, Methan, Wasserstoff und
Wasserdampf erfolgen.
121 Vgl. Miller, 1953, S. 528f.
19
Lebens unausweichlich dann in Erscheinung treten, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorhanden sind. Aminosäuren sind Mikromoleküle, die, auch wenn
sie zusammengefügt werden, kein Leben zu schaffen vermögen. Die Grundlage des
Lebens sind Makromoleküle, Proteine und Nukleinsäuren, die so komplexe Aufgaben erfüllen können «wie die Katalyse122 lebenswichtiger Prozesse oder die Weitergabe der genetischen Information».123 Von diesen Makromolekülen weiss man
nicht, wie sie entstanden sind124, und es bleibt vorerst unverständlich, wie aus ihnen eine minimale, lebende Zelle entstehen konnte.
Bisher war es nicht möglich, im Labor synthetisch erzeugte RNA-Stränge zur
Replikation zu bringen. Vincent Noireaux und Albert Libchaber von der Rockefeller Universität gelang es jedoch, unter Verwendung biologischer Moleküle eine
Zelle zu entwickeln, die für kurze Zeit einen eigenen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten und aus Aminosäuren Proteine zu synthetisieren vermag.125 In Venedig versuchen Norman Packard und Steen Rasmussen von ProtoLife, synthetisches Leben
zu erzeugen, indem sie nicht biologische, sondern synthetische Moleküle benützen,
vor allem ein «peptic nucleic acid» anstelle von RNA, das sich vielleicht selbst zu
vermehren vermag.126 Manche Forscher nehmen an, dass in Zukunft ein lebendes
System im Reagenzglas rekonstruiert werden kann.127
Ein anderer Zugang zum Leben eröffnete sich durch die Entschlüsselung des
Genoms gewisser Viren, Pflanzen, Tiere und die des Menschen. Sie ermöglicht die
Forschung nach der minimalen chemischen Ausrüstung, die eine Zelle zum Leben
braucht, und führte bereits zur Synthese von Viren im Laboratorium. Diese besitzen eine Zellmembran und ein eigenes Genom. Da sie aber für ihre Existenz eine
Wirtszelle brauchen, werden sie nicht als Lebewesen bezeichnet. Dennoch haben
Jeronimo Cello und seine Mitarbeiter vielleicht einen wichtigen Schritt vorwärts
auf dem Weg zur «Erschaffung von Leben» gemacht, indem sie aufgrund der Analyse seiner DNA ein aktives Poliovirus128 zu synthetisieren vermochten, mit dem
Versuchstiere, genauso wie mit dem natürlich vorkommenden Poliovirus, infiziert
worden sind.129
Westaustraliens lebten und sich von dort über den ganzen Erdkreis verbreiteten.132
Die Komplexität ihres Stoffwechsels zeigt, dass sie schon eine längere Evolution
hinter sich hatten und dass einfacher strukturiertes Leben mehrere Jahrtausende
vor ihnen entstanden sein musste.133 Es ist denkbar, dass es durch Naturkatastrophen, z.B. durch den Einschlag von gewaltigen Meteoriten, entweder vollständig
zerstört worden war oder dass es im Schutz tiefer Gesteinsspalten die Kataklysmen
während Jahrtausenden überstand.134 Während 2 Milliarden Jahren war die Erde
von solchen einzelligen anaeroben und kernlosen Bakterien bewohnt, die sich durch
Gärprozesse ernährten und sich durch Selbstreplikation asexuell vermehrten.
Gleichzeitig reicherten die zur Photosynthese befähigten Bakterien die ursprünglich
sauerstofffreie Atmosphäre solange mit Sauerstoff an, bis sie für die anaeroben
Bakterien toxisch wurde. Um überleben zu können, passten sich einige von ihnen
durch Genmutation an die veränderte Atmosphäre an, lernten den Sauerstoff der
Atmosphäre zu verwerten und verwandelten sich zu aeroben Mikroorganismen.
Die anderen starben, und ihr Sterben war so umfassend, dass es als «oxygen
holocaust»135 bezeichnet wurde. Viele der abgestorbenen Bakterien wurden von
anderen anaeroben Bakterien aufgefressen. Nach der weitgehend anerkannten
Endosymbionten-Hypothese136 gelang es jedoch einigen von ihnen, nicht nur
abgestorbene anaerobe, sondern auch lebende aerobe, d.h. zur Sauerstoffverwertung fähige Bakterien zu phagozytieren, sie in ihrem Zytoplasma weiterleben zu
lassen und durch sie den Sauerstoff der Atmosphäre in ihren eigenen Stoffwechsel
zu integrieren. Zudem entzogen sie den phagozytierten Bakterien den grössten Teil
ihrer Gene, fügten ihn ihrem eigenen Genom bei und bildeten damit einen zentralen Zellkern.137 Es entstanden die ersten Eukaryonten, d.h. aerobe und kernhaltige
Zellen, die eine komplexe symbiotische Gemeinschaft von lebenden Mikroorganismen mit der Wirtszelle darstellten. Der Eukaryont war die erste nichtbakterielle Zelle, und sie besass ein duales Genom, das aus den Genen der Wirtszelle
und aus denen der Gastzelle bestand.138 Dank dem kontinuierlichen Transfer von
Genen der Gastzelle in den Nukleus der Wirtszelle139 erlangte der Eukaryont die
Erste Lebewesen auf der Erde
Die ersten Zellen, die minimalsten autopoietischen Einheiten des Lebens, waren
wahrscheinlich kleine Prokaryonten, Bakterien-ähnliche Lebewesen, die von einer
Zellwand umgeben waren, keinen Zellkern besassen und Sauerstoff vermieden, da
ihnen zu dessen Abbau die notwendigen Enzyme fehlten. Die genetische Information bezogen sie von einem ringförmigen, frei im Zytoplasma liegenden DNA-Faden, der durch Teilung als unveränderte Kopie an die Tochterzelle weitergegeben
wurde.130
Aus diesen hypothetischen Prokaryonten könnten die ersten auf der Erde gefundenen Lebewesen entstanden sein, den heutigen Zyanobakterien131 ähnliche
Organismen, die vor etwa 3,8 Milliarden Jahren in den marinen Felsnischen
20
Einleitung: Was ist Leben?
122 Beschleunigung chemischer
Reaktionen.
123 Luisi, 2002, S. 51.
124 Vgl. Brack, 2004, S. 2.
125 Noireaux und Libchaber, 2004,
S. 17669–17674.
126 Holmes, 2005, S. 29f.
127 Vgl. Brack, 1999, S. 168–171.
128 Virus der Kinderlähmung.
129 Vgl. Cello et al., 2002,
S. 1016ff.
130 Vgl. de Duve, 2002, S. 11.
131 Zur Photosynthese befähigte,
kernlose Einzeller, so genannte
Blaualgen, die vielleicht, wie
die Archaea, zu den frühesten
Lebewesen gehörten, welche die
Erdoberfläche bevölkerten.
132 Vgl. van Zuilen et al., 2002,
S. 627–630.
133 Vgl. Luisi, 1997b, S. 10.
134 Vgl. Mojzsis et al., 1996,
S. 55–59.
135 De Duve, 2002, S. 117.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
136 Vgl. Margulis und Sagan, 1997,
S. 36–49.
137 Vielleicht dadurch, dass sie
ihr Genom durch Einstülpung
ihrer Zellwand mit einer doppelten Membran umgaben
(vgl. de Duve, 2002, S. 138).
138 Vgl. ib., S. 48.
139 Vgl. Carvalho, 2003, S. 129.
21
Fähigkeit zu neuen Kombinationen seiner DNA, sodass einzigartige Individuen
entstehen konnten. Vor etwa 2 Milliarden Jahren begann somit eine grundlegende
Veränderung des Lebens: Die Vielfalt der Lebewesen nahm ihren Anfang, und die
Evolution wurde beschleunigt.
Gewisse Eukaryonten lernten, in Gruppen zu leben und verschiedene Aufgaben
zu übernehmen. Vor einer Milliarde Jahren entstanden vielzellige Lebewesen, aus
denen sich im Laufe der Zeit die ersten Pilze, Pflanzen und Tiere entwickeln konnten. Ausser den meisten Bakterien, den roten Blutkörperchen und den Thrombozyten des Blutes sind auf der Erde keine Prokaryonten mehr vorhanden. Im Zytoplasma der Pflanzen, Tiere und Menschen finden sich jedoch kernlose Organellen,
die den Bakterien so ähnlich sind, dass sie auf eine ursprüngliche Endosymbiose
zurückgeführt werden können. Sie besitzen wie diese eine zweischichtige Zellmembran, vereinzelte, lose DNA-Stränge im Zytoplasma, und sie sind zu eigener Proteinsynthese befähigt. Bei Pflanzen werden die Organellen als Chloroplasten bezeichnet; sie stammen wahrscheinlich von Zyanobakterien ab, die sie zur Photosynthese befähigten. Bei Tieren und Menschen funktionieren die Organellen als
Mitochondrien. Sie stammen von aeroben Alpha-Proteobakterien140 ab und sind
die unersetzlichen Energielieferanten der Zelle141: Durch den aeroben Abbau der
aus der Nahrung stammenden Kohlenhydrate, Fette und Proteine wird in den Mitochondrien das energiereiche Adenosintriphosphat (ATP) synthetisiert, und durch
die Abspaltung eines Phosphatmoleküls entsteht aus ihm das energieärmere Adenosindiphosphat (ADP), wodurch Energie freigesetzt wird.
Die Entwicklung zum Menschen
Die Vielfalt der Lebewesen beruht auf ihren genetischen Unterschieden, auf ihrer
vorhandenen oder fehlenden Anpassungsfähigkeit an die wechselnden Klima- und
Umweltbedingungen, auf ihrer Partnerwahl und auf den spontan auftretenden
Veränderungen ihrer Nukleotidsequenz im Laufe der Geschichte. Die bestadaptierten Lebewesen überlebten vielleicht, weil sie sich rascher vermehren konnten
als die weniger adaptierten. Letztlich bestimmten die Organismen selbst, wie sie
auf die Störung ihrer Umwelt reagieren konnten und auf welche Weise sie sich
selbst zu regenerieren vermochten, um die autopoietische Einheit ihrer Zellen aufrechtzuerhalten.142
Charles Darwin (1809–1882) und Alfred Russel Wallace (1823–1913) waren
unabhängig voneinander die Begründer der Evolutionstheorie, die sich mit der
stammesgeschichtlichen Entwicklung der Organismen befasst. Sie wurde unter dem
Namen Darwins allgemein bekannt143 und besagt, dass die Evolution von einer
biologischen Urform ausgeht, von der alle Lebewesen abstammen. Bedingt durch
den Kampf ums Überleben, führte die Evolution in einem mühevollen Anpassungsund Wettbewerbsprozess zu ständig verbesserten Lebensformen, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Sie verlief von den kernlosen zu den kernhaltigen Einzellern
22
Einleitung: Was ist Leben?
und von diesen zu den mehrzelligen Lebewesen, von denen die Entwicklung höherer Organismen ihren Anfang nahm. Menschliche Körperform, Gehirnkapazität
und differenzierte Sprache haben sich langsam im Laufe von Millionen von Jahren
entwickelt. Evolution ist demnach eine «Reihenfolge von wachsenden Komplexitätsebenen», wobei «jede Ebene aus Teilen der unteren Ebene besteht»144.
Die vor 140 Jahren entstandene Darwinsche Evolutionstheorie ist heute umstritten, weil die fossilen Funde keine Übergangsformen und keinen unausweichlichen Fortschritt zeigen. Diese scheinen im Gegenteil zu belegen, dass die verschiedenen Arten nicht evolutionär, sondern plötzlich aufgetreten und ebenso plötzlich
wieder ausgestorben sind, ohne Zeichen einer Entwicklung zu hinterlassen.145 Die
Arten, die dem durch Naturkatastrophen bedingten Massensterben entgingen,
scheinen eher aufgrund ihrer geographischen Verteilung und ihrer kleinen Körpergrösse (kleinste Säugetiere, Würmer) als wegen ihrer Adaptationsfähigkeit überlebt
zu haben. Daraus folgern die Kritiker eines mit der Evolutionstheorie verbundenen
Determinismus, dass das Überleben durch Kontingenz geschah, d.h. dass die Entstehung des Menschen nicht notwendigerweise erfolgte. Sie war, sagt Richard
Leakey, «nur eine aus einer ganzen Palette von Möglichkeiten»146. Eine solche Aussage lässt eine etwaige Bedeutung des Menschen als Krone der Schöpfung nicht zu.
Der Mensch, sagt Leakey weiter, «ist ein Teil der Natur, hier auf der Erde, eine
Spezies unter vielen»147. Stephen Jay Gould bestreitet jeden Fortschritt in der Entwicklung des Lebens und schreibt: «the overwhelming predominance of bacteria
among living creatures is denying that progress»148. Andere Forscher wie John
Barrow sind davon überzeugt, dass sich die Schöpfung nicht planlos entwickelt.
Sie deuten das «Anthropic Cosmological Principle» und die Einsicht in die zahlreichen Koinzidenzen im Weltall und auf der Erde als einen nicht zu unterschätzenden Hinweis darauf, dass das Universum seit seiner Entstehung auf die Entwicklung von intelligentem Leben hinzielt: «There exists one possible Universe
designed with the goal of generating and sustaining observers»149.
Erstes Leben begann vor fast 4 Milliarden Jahren an der Peripherie der Milchstrasse auf dem kleinen Planeten Erde, und mit ihm begann die Geschichte des
Menschen. Die Paläoanthropologie, die Wissenschaft von seinem Ursprung, vermag die Meilensteine auf dem Weg zum modernen Menschen anhand der Fossilien und mittels genetischer Untersuchungen nachzuweisen.
Die folgende Tabelle zeigt den Werdegang des Lebens.
140 Vgl. de Duve, 2002, S. 141.
Alpha-Proteobakterien gehören
zu den ersten Prokaryonten, die
Sauerstoff zur Energieproduktion verwenden konnten.
141 Vgl. Kutschera, 2001, S. 22.
142 Vgl. Luisi, 2003, S. 49–59.
143 Vgl. Darwin, 1859.
144 Luisi, 2002, S. 46.
145 Vgl. Eldredge und Tattersall,
1982, S. 2, 155; Aviezer, 2000,
S. 75f.
146 Leakey und Lewin, 1998,
S. 346.
Was ist Leben aus der Sicht der Naturwissenschaft?
147 Ib., S. 354.
148 Vgl. Gould, 1997, S. 3.
149 Barrow und Tipler, 1986,
S. 6; 13; 22.
23
4.
Was ist Leben? Schlussfolgerung
Leben wird erfahren, erforscht, gedeutet. Was Leben ist, konnte bisher nicht definiert, sondern nur durch seine Merkmale beschrieben werden. Aus der Sicht der
Philosophie wird Leben von der Antike bis zum 16. Jahrhundert als ein Prozess
der Selbstbewegung verstanden, dem die Seele als göttliches Lebensprinzip zugrunde liegt. Mit Descartes und de La Mettrie wird Leben zunehmend zu einem Prozess
der Materie, der keiner Seele bedarf. Aus der Sicht der Naturwissenschaft ist Leben
ein chemisch-physikalischer Prozess, der vor 3,8 Milliarden Jahren auf der Erde
seinen Anfang genommen hat und vielleicht einmal ein Ende nehmen wird. Aus
der Sicht der Religionen ist das sich immer weiterentwickelnde Leben eine Schöpfungstat Gottes und zur Weitergabe geschaffen. Für den gläubigen Menschen ist
der Prozess des Lebens ein Hinweis auf einen gewaltigen göttlichen Plan.
40
Einleitung: Was ist Leben?