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 1 Dr. Horst Kämpfer
Worte finden auf der Schwelle
In: Regina Sommer, Julia Koll (Hrsg.), Schwellenkunde. Einsichten und Aussichten für den Pfarrberuf im 21. Jahrhundert. Ulrike Wagner-­‐Rau zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2012, S. 155 -­‐ 170.
1. Ausgangspunkt
„Denn die Fraglichkeit der Verheißung, die zu Gehör zu bringen ihnen aufgetragen
ist, begegnet ihnen immer wieder auch in sich selbst. Auch sie sind gezwungen, den
Erfahrungen der ‚Anfechtung’ nicht auszuweichen, wenn sie im Gespräch mit den
biblischen Texten einer befreienden Wahrnehmung der Wirklichkeit nachspüren. Ihre
Botschaft versteht sich nicht von selbst, sondern muss im Durchgang durch die Ambivalenz der Lebenserfahrungen ebenso erarbeitet wie geschenkt werden. Insofern
ist die Predigtpraxis eine spirituelle Praxis, vielleicht die grundlegendste des Pfarrberufs überhaupt, weil man ihr als fraglose Anforderung des Berufes nicht ausweichen
kann“.1
Ich habe dieses Zitat von Ulrike Wagner Rau an den Anfang gestellt, weil in dieser
Verdichtung die Fragen auftauchen, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden
soll. Der Pfarrer/die Pfarrerin ist fast täglich herausgefordert, das Evangelium zur
Sprache zu bringen. Dabei ist sie selbst die erste Hörerin der Botschaft, bevor er
spricht, ist er Angesprochener, Gerufener. Dies ist kein einmaliger Akt, sondern die
Fragen, wo bist du, was denkst du, was fühlst du, was siehst du, was entscheidest
du, was glaubst du, sind Dauerbegleiter der Beschäftigung mit dem Evangelium.
Zwischen Anfechtung und Gewissheit, zwischen Lob und Anklage, zwischen Geborgenheit und unerträglicher Ferne soll sich das Wort bilden, das schließlich öffentlich
wird. Neben der unaufgebbaren theologisch exegetischen und dogmatischen Orientierungsarbeit hat der Pfarrer/die Pfarrerin eine psychisch religiöse Arbeit zu leisten „ ... die Botschaft versteht sich nicht von selbst“ - , denn die Pastorin selbst hat nicht
nur Anteil an der Botschaft, sondern ist mit ihrer performativen Rede (und sicher
auch dem Tun) selbst Teil der Botschaft. Der geschenkte Teil zu dieser Arbeit entzieht sich unseren Anstrengungen, aber was kann gemeint sein mit Wagner Raus
Hinweis: „... muss im Durchgang durch die Ambivalenz der Lebenserfahrungen ...
erarbeitet werden“?
2. Auf dem Weg zum Beruf
Bevor jemand den Pfarrberuf ergreift, ist er/sie zunächst Gemeindemitglied, mal näher und mal ferner vom Kirchturm. Als solches ist er/sie in irgendeiner Form mit Religion in Berührung gekommen. Vielleicht wurde man unmittelbar von der eigenen
Familie oder auch von Bekannten angerührt, weil diese gesungen, gebetet oder
Weihnachten gefeiert haben. Andere kamen im Kindergarten, im Kindergottesdienst
oder im Religionsunterricht in Berührung, in Kontakt mit Geschichten, Ritualen und
Glaubensäußerungen anderer. Und wieder andere haben staunend, fragend, nachdenkend ganz selbständig ihre eigene „Theorie“ über Gott und die Welt gebildet. In
all dem wurden Wünsche, Hoffnungen, Zuversicht, Befürchtungen, Ängste, Einsam 1 Ulrike Wagner-Rau, Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009,
S.112/113.
2 keit und Gemeinsamkeit und noch unendlich viel mehr verarbeitet, kompensiert oder
verwandelt.
Nun kann man fragen: Warum studiert jemand Theologie und warum ergreift jemand
schließlich den Pfarrberuf? Da die Frage letztlich nur von jeder Person selbst zu beantworten ist, können hier allenfalls ein paar allgemeine psychologische Gründe an
den Anfang gestellt werden. Dass in diese hypothetischen Formulierungen die eigenen Erfahrungen mit einfließen, versteht sich von selbst. Daher beginne ich mit dem,
was ich von mir selbst weiß, und versuche das zu verallgemeinern - vielleicht ein erster, winziger Schritt beim „ ... Durchgang durch die Ambivalenz der Lebenserfahrung
...“.
In einer mir nicht mehr bewussten Weise bin ich als Kind mit dem „Phänomen Gott“
bekannt geworden – wahrscheinlich über die Chormitgliedschaft der Großmutter, die
ich bei Proben manchmal begleitet habe. Fast kann ich sie noch hören, die zitternden
Stimmen beim „Heilig, heilig, heilig! Heilig ist der Herr“. Ich begann als Kind, Gott in
mein Denken einzubauen zwischen Größenphantasie und Angst. Wenn es mir hinreichend gut ging, war ich fasziniert von der Vorstellung, dass der Glaube Berge versetzen konnte. In Zeiten der Angst versuchte ich mir klar zu machen, was immer mit
mir geschieht, sei doch wohl Gottes Wille, und von daher müsste ich eigentlich keine
Angst haben, denn alles war ja eh vorherbestimmt; eine religiöse Praxis oder Taktik,
die mehr oder weniger gut funktionierte. Immerhin nahm ich manchmal an, wenn ich
vor einem erwartbaren Regenguss noch trocken nach Hause kam, dass mein Glaube
das bewirkt hätte oder ich meinte, dass ich mich der Dunkelheit durchaus aussetzen
dürfte, da der Vorherbestimmung sowieso nicht auszuweichen war. In der Jugendzeit
veränderten sich die Denkweisen, denn Aggression und Schuld spielten vermehrt
eine Rolle und daraus resultierend der Wunsch, ein „Gutmensch“ zu sein. Allerdings
entdeckte ich dabei auch die Bedeutung des Anderen, die „caritas“ und die Diakonie
und in einem Lehrlingsheim des „Christlichen Jugenddorfwerkes Deutschland“ die
Wertschätzung des Selbst als Ausdruck der Wertschätzung Gottes.
Im Laufe des weiteren Lebens wurde mir klar, wie sehr mein religiös/theologisches
Denken die Funktion hatte, lebens- und entwicklungsgeschichtliche Themen sowie
auch Beziehungsthemen zu bewältigen. Anders ausgedrückt: Die Beschäftigung mit
Religion und Theologie (wie später dann auch die Beschäftigung mit der Psychoanalyse) sollte helfen, persönliche Probleme, Ängste und Nöte zu bewältigen.
Nach nunmehr 35 Jahren Arbeit in der Kirche bin ich der Überzeugung, dass es meinen Amtsgeschwistern nicht anders geht – wir alle versuchen durch unsere Berufe
Eigenes zu verstehen und zu lösen. Mein Kollege Martin Weimer wird nicht müde,
immer wieder zu betonen, dass die Menschen die Kirche und ihre Angebote in Momenten der Desintegrationsgefahr aufsuchen.2 Mit Desintegrationsgefahr wird hier
ein emotionaler Zustand beschrieben, bei dem durch äußere und/oder innere Umwälzungen, Spannungen oder Einbrüche der Mensch durcheinander oder in Auflösung zu geraten droht, da er das Gefühl hat, das ihn Bedrängende psychisch nicht
halten, nicht aushalten und bewältigen zu können. Dies ist der Hintergrund für alle
Passageriten, von der Geburt bis zum Tod; hier ist die Sehnsucht nach Bewältigung
oder einfach nur Bestehen und Durchkommen mithilfe religiöser Sprache oder Riten
2 Ähnlich formuliert es U. Wagner-Rau: „Die christliche Religion ist eine Resonanz auf die unvermeidliche Erschütterung der Lebensgewissheit, und darum ist sie verbunden mit der lebenslangen Aufgabe
der Menschen, solche Erschütterung zu tragen und zu gestalten“ (2009, S. 24).
3 ohne Zweifel am deutlichsten.3 Dies alles gilt aber auch in gleicher oder abgemilderter Form für alle Menschen, die die Kirche mit einem Seelsorgebegehren oder mit
haupt- oder ehrenamtlichem Engagement aufsuchen. Alle wollen immer auch innere
Konflikte beruhigen, Sehnsüchte stillen oder mit unterschiedlichen Ängsten umgehen
können.
Etwas theoretischer formuliert: Die Beschäftigung mit Religion und Theologie - auch
als Berufsausübung – dient immer auch der Lösung oder Bewältigung eigener Themen, Sehnsüchte, Desintegrationsängste und Konflikte. Dabei spielen bewusste,
aber noch wesentlicher unbewusste Identifikationen mit Opfern und Rettern (und
sehr geheim auch Tätern) eine wichtige Rolle. Bewegt von Größenphantasien und
Kontrollzwängen, von Sehnsüchten nach Heil, von Hoffnungen auf Erlösung von
Schuld und anderen Fesseln wie etwa Ängsten, Minderwertigkeitsgefühlen, sozialen
Einschränkungen usw. suchen alle in Religion, Theologie und Kirche nach ihren ganz
eigenen Formen der Lebensbewältigung und -zufriedenheit. Den Desintegrationsängsten auf der einen entsprechen die Sehnsüchte und Identifikationen auf der anderen Seite.
Die Pfarrerin oder den Pfarrer treffen solche Verunsicherungen – die eigene Desintegrationsgefahr und die der Anderen - in doppelter Weise: Sie sind immer zugleich
Gemeindemitglied, also Hörer der Botschaft, welche helfen soll, mit den eigenen
Verunsicherungen zu leben, und sie sind professionelle Verkündigerin und Verkündiger, die das Wort ausrichten wollen, das befreit, stützt, tröstet, ermahnt und Leben
und Tod - eben auch für die Anderen - erträglich macht.4 Viele gehen daher mit der
Frage um, glaube ich, was ich sagen muss und kann ich wirklich sagen, was ich
glaube? Wie beziehen sich also eigene Erfahrung, eigene Problemstellungen und
ungelöste innere Konflikte auf der einen und eigene religiöse Sprache sowie festgelegte Texte auf der anderen Seite aufeinander? Die ins Wort transformierte Erfahrung ist nicht deckungsgleich mit der ursprünglichen Erfahrung. Hier ist eine natürliche Spannung anzunehmen. Häufig versucht man, diese Spannung durch Wissen zu
überbrücken und so die Spannung scheinbar aufzulösen. Aber im Vermeiden dieser
unvermeidlichen Spannung liegt m.E. die größte Anfechtung. Vielleicht zeigt sich sogar mancher Glaube erst darin, wenn es möglich ist, ein gewisses Nichts (nicht wissen, nicht verstehen, nicht einordnen, nicht sichern) auszuhalten.
3. Zur Sprache kommen – zur Sprache bringen5
Die Sprache des Glaubens geht einen besonderen Weg. Sie ist zunächst „Herzenssprache“ und ist Ausdruck des Vertrauens, der Hoffnung, der Sehnsucht, des Lobes,
der Klage, der Suche, der Wahrnehmung von Schuld, der Angst und Verlorenheit,
3 Vgl. U. Wagner-Rau, Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 2000. Sie
nimmt eine Formulierung von Henning Luther auf und spricht vorsichtig von der „Thematisierung des
‚Schwebezustandes der Lebenspassagen’“ (S. 90).
4 Vgl. Magdalene Frettlöh, Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre,
Gütersloh 2006. „GotteslehrerInnen sind - im Wortsinne – Subjekte ihrer Lehre, unterworfen unter das
und beansprucht von dem, was ihnen zu lehren aufgegeben ist. Zunächst selbst AdressatInnen der
Lehre Gottes, werden sie für andere zu ZeugInnen dessen, was ihnen von Gott zu Ohren und vor
Augen gekommen ist“ (S. 8).
5 Das Wort Sprache wird im Folgenden als übergreifend symbolische Ausdrucksform verstanden und
beinhaltet sowohl den verbalen Ausdruck als auch Musik, Geste, Mimik, bildende Kunst, Tanz oder
Feier. Alle Ausdrucksformen sind schon in der Welt, bevor das Individuum in der Welt ist. Dennoch
sind es nicht einfach Formen, in die das Individuum seine Gefühle und Empfindungen „einlegt“. Jede
Übernahme der Form ist ein kreativer Gestaltungsakt hin zur Sprache des Subjekts. 4 der Liebe oder auch des Angriffes, des Vorwurfs oder auch der triumphierenden Rache und Genugtuung; eine Herzenssprache, die ihren Ausdruck in Geschichten, Gebeten, Liedern und Bildern findet. Die biblischen Texte sind dafür ein beredtes Zeugnis. Zugleich finden sich in der biblischen Überlieferung Texte, die die Vielfalt der
Emotionen und Erfahrungen zu bündeln, zu ordnen oder zu deuten suchen. So sind
etwa die Paulustexte immer wieder argumentativ, überzeugend, mahnend, beurteilend, bekennend, durch ein wiederkehrendes „wir wissen ...“ geprägt. Dieser andere
Sprachmodus ist schwer zu bezeichnen. Er wirkt geschlossener, systematischer,
selten narrativ, dem Aussagesatz näher, einem „so ist es“ und weniger einem „das
Reich der Himmel gleicht ...“. Am deutlichsten zeigt sich dieser andere Sprachmodus
schließlich im Glaubensbekenntnis und in den Bekenntnisschriften als gleichsam
weiter verdichteter symbolischer Form. Ich nenne diesen Modus nun probehalber
Bekenntnissprache, wenngleich deutlich ist, dass auch die Herzenssprache stets
Bekenntnischarakter hat. Und doch: Zwischen der Bekenntnissprache und der Herzenssprache klafft häufig ein schwer überwindbarer Graben nicht nur für Laien, sondern auch für die Professionellen.
Eine Mutter, die mit ihrem Kind zur Nacht ein Gebet spricht, denkt dabei kaum an die
Rechtfertigungslehre von Paulus, an die Spannung von Gesetz und Evangelium oder
das Glaubensbekenntnis. Doch das irgendwann einmal Gehörte ist im Hintergrund in
ihrem Gebet oder ihrem Lied vorhanden. Und wie sie singt oder betet ist schließlich
ihre ganz persönliche Auslegung dessen, was sie in der tradierten Sprache schon
vorgefunden hat. Insofern kann man sagen, dass die Mutter die Tradition wie auch
sich selbst zur Sprache bringt. Würde man ihr sagen, dass sie in ihrem Gebet immer
auch die Rechtfertigung des Sünders zum Ausdruck bringt, so würde man möglicherweise einen Graben aufreißen, über den die Mutter nicht springen mag. Die Herzenssprache ist ihr näher und auch hinreichend gut.
Das zur Sprachebringen dessen, was zur Sprache kommen will, stellt die Pastorin
vor die Aufgabe, eben diesen Graben zu überbrücken. Für sie bilden die beiden
Sprachformen nicht Vordergrund und Hintergrund, sondern sich wechselseitig auslegende Symbolformen, die ihr beständig präsent sind. Der Gottesdienst kommt ihr bei
dieser Brückenarbeit zu Hilfe, denn schon von seiner inneren Struktur her mit all seinen Inhalten ist er eine Auslegung des Glaubensbekenntnisses, und zugleich bündelt
das Bekenntnis all das, was in Liedern, Lesungen, Gebeten und Predigt zur Sprache
gebracht wird. Das heißt nun nicht, dass sich nicht auch für die Pastorin ein Graben
auftut: Glaube ich das, was ich sage und traue ich mich zu sagen, was ich glaube?
Und wie komme ich selbst in dem Gesagten vor?
Damit kommt eine weitere Herausforderung ins Blickfeld: Pastorale Rede soll authentische Rede sein. Authentisch meint hier nicht, sich selbst zu inszenieren. Authentizität meint hier, in der Auseinandersetzung mit dem Bekenntnis, mit dem biblischen Text und den vielfältigen Desintegrationserfahrungen der Menschen selbst mit
zur Sprache zu kommen: Pastorales Sprechen als performativer Sprechakt. Bei
Magdalene Frettlöh findet sich ein Hinweis auf Derrida und seine Gedanken über das
Wort „professer“, welcher den performativen Charakter treffend deutlich macht: „Professer, das heißt ein Unterpfand hinterlegen, indem man für etwas einsteht und sich
dafür verbürgt. Faire profession de – sich zu etwas bekennen oder etwas zum Beruf
machen -, das heißt, mit erhobener Stimme erklären, wer man ist, indem man den
anderen bittet, dieser Erklärung aufs Wort zu glauben. ( ... ) Professer heißt sich verpflichten, indem man sich erklärt, indem man sich für etwas ausgibt – und hingibt,
indem man verspricht, dieses oder jenes zu sein“.6 Der Zusammenhang von Profes 6 Frettlöh 2006, S. 9. 5 sion und Konfession wird hier auf den Punkt gebracht und zugleich wird deutlich, unter welchem Anspruch sich religiöse Rede befindet. Dabei gilt es zu bedenken, dass
religiöse Rede sich keineswegs allein auf die Predigt bezieht. Für die vielfältigen
Seelsorgekontakte, vielleicht im Besonderen bei Amthandlungsbesuchen, aber auch
für den Unterricht gilt der Hinweis Derridas.
4. Zwischenbilanz
Eigene konflikthafte Erfahrungen suchen in der Profession (Person, Rolle und Sprache) nach Wiederholung (im Sinne des Wiederholungszwanges) oder Widerholung
(konträr, so niemals wieder) und in beidem nach Lösung. Diese Vorgänge sind in der
Regel nicht bewusst. Sie gehören aber zu dem, was am Anfang „Ambivalenzen des
Lebens“ genannt wurde. Das Wort Lösung ist dabei verdächtig, da es an das ein für
alle mal Aufdecken eines Rätsels erinnert. Stellt man sich hingegen den Pastorinnenberuf selbst als symbolischen Gestaltungsraum vor, in dem das Selbst sich in
Interaktion mit Text, Welt und der eigenen Geschichte beständig neu entwirft, so wird
man präziser von drei möglichen Gestaltungsformen sprechen. Joachim Scharfenberg hat vorgeschlagen, die Vielfalt der individuellen Konflikte, Ängste, Nöte und
Sehnsüchte der Menschen in drei Themencontainern zusammenzufassen. So wird
es den Pastoren darum gehen, auch ihre eigenen Ambivalenzen erträglich zu machen, ihre lebensgeschichtlichen Konflikte zu bearbeiten und ihre Grundstrukturen –
hoffentlich - ohne Verletzung des Anderen zur Darstellung zu bringen.7 All das tun
sie auch in religiöser Rede, wenngleich ihnen das meist nicht bewusst ist. Der von
Wagner-Rau angemahnte „Durchgang durch die Ambivalenzen des Lebens“ muss
verstanden werden als Bewusstmachung der eigenen Entwicklungsgeschichte mit
ihren Konflikten und ihren Sehnsüchten.
Was nun wird in der sehnenden Suche nach Gott ersehnt?
5. Der Urwunsch des Glaubens oder das „ungedachte Bekannte“
Im Folgenden möchte ich eine psychologische Theorie vorstellen, die wie ein Aspekt
einer Religionspsychologie gelesen werden kann.8 Kaum noch jemand zweifelt daran, dass die Entwicklung des Menschen - auf der Basis einer beeindruckenden biologischen Grundausstattung - von Anbeginn an ein intersubjektiver Vorgang ist. Und
ebenso wird nicht mehr bezweifelt, dass der gesamte Vorgang zwischen – nennen
wir sie Mutter und Baby – in beiden Subjekten seine Spuren hinterlässt.9 Projektion,
Introjektion, projektive Identifikation und Identifizierung sind die psychischen Mechanismen, durch die Prozesse verinnerlicht oder auch nach außen gebracht werden,
die gleichsam den Wechselbezug der Intersubjektivität beschreiben.10 Diese relativ
technischen Begriffe geben wenig von dem Erleben oder dem Empfinden z.B. des
Babys wider. Daniel Stern, einem der wichtigsten Säuglingsforscher, verdanken wir
7 Joachim Scharfenberg/Horst Kämpfer, Mit Symbolen leben. Olten/Freiburg 1980, S. 170ff.
8 Ich beziehe mich wesentlich auf die Theorien von Christopher Bollas, Der Schatten des Objekts. Das
ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung, Stuttgart 1997 und ders.,Die unendliche Frage. Zur Bedeutung des freien Assoziierens, Frankfurt 2011.
9 Horst Kämpfer, Erziehung im ersten Lebensjahr. Eine Studie zur Intersubjektivität früher Beziehungen, Frankfurt 2006. 10 Vgl. H. Kämpfer, Das eigene Fremde und das fremde Fremde. Aus der Behandlung eines magersüchtigen Jugendlichen. In: Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. XXX (1999), S.
43 - 60. „Vom Juckpulversaft werden die Beine grau“, Symbolische Erfahrung in der Therapie. In:
Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. XXXII (2001), S. 25 - 42. 6 den Versuch, sich in das Erleben eines Babys hineinzuversetzen.11 Ein sechs bis
zehn Wochen altes Baby befindet sich noch ganz in der „Welt der Gefühle“, in der
Welt seiner inneren Gestimmheit. Worte wie ‚ich’, ‚wir’, ‚ihr’ sowie ‚dann’, ‚danach’
oder gar ‚weil’ kommen in seiner Welt noch nicht vor. Ausgestattet mit einem enormen sensorischen Repertoire lebt es in einer Welt der Töne, der Gerüche, der Formen und Farben, welche alle sein Gefühlsleben bereichern, bewegen und verwandeln. Am Beispiel „Hunger“ macht Stern schließlich das deutlich, was wir zuvor ‚Desintegration’ genannt haben: Hunger ist ein inneres Reißen. „Die Welt zerfällt. Irgend
etwas wird gleich geschehen. Das Unbehagen wächst. Es breitet sich vom Zentrum
her aus und verwandelt sich in Schmerz. Genau im Zentrum bricht jetzt der Sturm
los. Genau im Zentrum wird er stärker und geht in pulsierende Wellen über ... Die
pulsierenden Wellen türmen sich auf und nehmen die gesamte Atmosphäre ein. Die
Welt ist ein einziges Brüllen ...“ (Stern 1991, S. 38). Der Schrei ist zunächst wie ein
Versuch, den Schmerz nach außen loszuwerden und zugleich ist er ein zielgerichtetes Signal. Kommt nun die Mutter, um das Baby zu stillen oder zu füttern, so schafft
sie eine „Hülle“ aus Tönen, Berührungen, Bewegungen und Nahrung, durch die die
Welt sich wieder zusammenfügt. „Die Hülle schiebt die weiten leeren Räume hinweg.
Alles verändert sich ... Der warme Strom (aus Milch, Ton, Berührung und Haltung,
H.K.) vertreibt die Eiseskälte. Er kühlt das Brennen. Er löst den Knoten im Zentrum
und entkräftet das wilde Pulsieren, bis dies ein für alle Mal vergeht ... Eine veränderte Welt erwacht“ (Stern 1991, S. 42/43).
Es sind eben diese Erfahrungen, die C. Bollas vor Augen hat, wenn er von dem
„Verwandlungsobjekt“ spricht. „Dieses Objekt ist natürlich die Mutter, die dem Säugling allerdings nicht so sehr als ein klar umschriebenes Objekt mit spezifischen Eigenschaften bekannt ist, sondern vielmehr als ein Prozess, der mit seinem Sein und
den Wandlungen seines Seins zusammenhängt. Aus diesem Grunde habe ich die
Mutter der ersten Zeit ein ‚Verwandlungsobjekt’ genannt“ (Bollas 1997, S. 16).
Ähnlich wie Stern beschreibt Bollas hier, dass es nicht um ein konturiertes, abgrenzbares Objekt, ein Gegenüber, ein Du, sondern um ein in der Welt der Gefühle Erfahrenes, um einen sich ereignenden Prozess geht: Ich oder es hat sich verwandelt,
eine Erfahrung der Bereicherung, eine Heilserfahrung. Eine solche ist nach Stern
eben nicht nur an die Mutter gebunden; sie wird ebenso mit der umgebenden Umwelt
aus Gegenständen, Formen, Farben und Tönen gemacht: Also auch ästhetische Erfahrungen haben Verwandlungscharakter (Vgl. auch Bollas 1997, S. 28/29). Sterns
geschilderte Versuche, Worte für etwas zu finden, was doch kaum in Worte zu fassen ist, erinnern nun sehr an symbolische Sprachformen der Religion, an die ‚Herzenssprache’.
Doch bevor wir uns diesem Zusammenhang widmen, muss noch ein anderes Theoriestück bedacht werden. Es muss die Frage geklärt werden, welchem Bewusstseinszustand solche Verwandlungserfahrungen zuzurechnen sind.
Die Psychoanalyse kennt das Unbewusste, das Vorbewusste und das Bewusste.
Ergänzend muss man hinzufügen, dass es auch den Zustand des „Nicht Bewussten“
(z.B. Intentionen, Gedanken etc.) gibt. Bollas hebt jedoch gerade diesen Bewusstseinszustand mit einem Hinweis auf Freud hervor: „In seinem Essay ‚Das Unbewusste’ ... betont er (Freud, H.K.), dass die Mehrheit der unbewussten Gedanken nichtverdrängte Inhalte des Unbewussten sind“. Die Betonung auf „nicht-verdrängt“ ist
bedeutsam, da „von den Psychoanalytikern ... das sogenannte nicht-verdrängte Unbewusste zugunsten des verdrängten Unbewussten nahezu ignoriert“ wird. (Bollas
2011, S. 13).
11 Daniel Stern, Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt, München 1993.
7 Bei den Verwandlungserfahrungen nun handelt es sich um nicht-verdrängtes Unbewusstes. Es gibt ein unbewusstes Denken, das sowohl am Tag wie auch in der
Nacht (spürbar im Traum) aktiv ist und „diese Aspekte des unbewussten Denkens
hinterlassen Spuren im Sand des Bewusstseins“ (Bollas 2011, S. 16). Das bedeutet:
„Die Art und Weise, wie unsere früheren Anderen – die transformierenden Objekte
unserer Säuglingszeit und Kinderjahre – uns behandeln, wird in uns kodiert und in
die Grammatik unseres Ichs oder in der Regel des Seins und der Bezogenheit eingebaut, nach denen wir unser Leben leben“ (Bollas 2011, S. 18).
So kommt Bollas zu dem Begriff des „ungedachten Bekannten“. Das ungedachte
Bekannte ist also eine vertraute Verwandlungserfahrung in der Tiefe der Seele, die
nicht bewusst ist, aber strukturierend die innere Grammatik und damit die Beziehungskonstellationen des Individuums bestimmt; Bedrängnis, Not, Angst, all das,
was sich bündeln lässt im Begriff Desintegrationsgefahr, wird im Zusammenspiel mit
einem transformierenden Objekt „aufgehoben“ oder eben verwandelt. Der 23. Psalm
etwa ist beredter Ausdruck solcher Erfahrung. Die Bedrängnisse sind damit nicht aus
der Welt. Und doch hat das Individuum die Erfahrung gemacht, dass es im Austausch mit menschlichen wie auch ästhetischen Objekten zu Integrationen von psychischen Sintfluten kommen kann.
Peter Sloterdijk beschreibt das hier genannte ebenso paradigmatisch am Beispiel
des intersubjektiven Zusammenhangs von Hunger und Sättigung: „Überzeugt sich
nicht jedes Kind, das nicht der Verwahrlosung verfällt, von dem Vorteil, geboren zu
sein, nur dadurch, daß eudämonische Mamillen, ... trinkbare Feen diskret an seinem
Lager wachen, um von Zeit zu Zeit ins Innere stillend einzudringen? Wird nicht durch
eine Summe von vorteilhaften Invasionen im Individuum eine Liebesgrotte ausgehöhlt, in der für das Selbst und seine assoziierten Geister auf Lebenszeit gemeinsam
Platz sein wird“?12
Diese intersubjektive „Liebesgrotte im Selbst“ oder die von Bollas beschriebenen
„Spuren der Grammatik des Ichs“ haben einen drängenden, dem Trieb ähnlichen
Charakter, d.h. das Individuum sucht entsprechend der inneren Grammatik nach
ähnlichen Erfahrungen. Es bleibt gleichsam auf der Suche nach immer neuen transformierenden Objekten und entsprechenden Erfahrungen des „Mit-Seins“ in Anlehnung an die frühe Erlebniswelt.13
Es darf natürlich nicht übersehen werden, dass es immer auch Erfahrungen der
„Nicht-Verwandlung“, Erfahrungen des den inneren Stürmen ausgesetzt und Alleinseins gibt, Erfahrungen des dunklen oder verborgenen Antlitzes. Auch sie gehören zur
Grammatik des Ichs und lassen vorsichtig oder ängstlich sein vor allen weiteren Erfahrungen des ‚Mit-Seins’. Aber auch hier gilt die sehnende Suche nach einem Verwandlungsobjekt.
Positive wie sicher auch negative Erfahrungen mit dem Verwandlungsobjekt sind die
psychische Wurzel für alle religiöse Suche. Allerdings: Der hier vorgestellte Ansatz
beschreibt als Basis die positive Erfahrung – die religiöse Suche ist hier nicht Kom 12
Peter Sloterdijk, Sphären I. Blasen, Frankfurt 1998, S. 96. Vgl. auch Bollas: Wie jemand „ ... von
der absoluten Gewissheit erfüllt ist, dass er vom Geist des Objekts umfangen war und mit ihm weilte,
in einem Rendevous stummen Erkennens, das mit Begriffen nicht zu erfassen ist“ oder „... er das
Empfinden hat, dass Selbst und Objekt einander weiten und beseelen“ (Bollas 1997, S. 42/43). Diese
Beschreibungen können auch als Ausdifferenzierungen der „fides infantium“ gesehen werden (Vgl.
Dieter Seiler, Frühe Schicksale des Glaubens. Überlegungen zur fides infantium, in: WzM 48 (1996),
S. 70 – 95).
13 „Wer
Verwandlungsobjekte zu finden trachtet, ist im Gedanken an etwas, das in der Vergangenheit
liegt, auf endloser Suche in der Zukunft“ (Bollas 1997, S. 52). 8 pensation. Die Glaubenden suchen letztlich Gott als ein Verwandlungsobjekt. So sind
etwa die Bitten des „Vater unser“ Wünsche und Hoffnungen auf Verwandlung durch
Gott. Im Beten greifen die Betenden zurück auf das ungedachte Bekannte in dem
Vertrauen, dass sich in Gegenwart und Zukunft eine erleichternde Verwandlung einstellen wird. Gerade wenn es um religiöse Erfahrung geht, scheint mir wichtig zu
betonen, dass es weder um mystische Verschmelzung noch um das unerreichbare
extra nos, sondern vielmehr um jenes „Mit-Sein“, also die prozesshafte Erfahrung
geht. So vermag z.B. das Hören der „missa solemnis“, innere Trübsal in ein
hoffnungsvolles Licht zu tauchen. Im Hören, im Sich-Einlassen, im „Mit-der-Musiksein“ kann es zu einer Verwandlungserfahrung kommen, einem gleichsam heiligen
Moment. „Die Erwartung, von einem Objekt verwandelt zu werden – die selbst eine
Ich-Erinnerung an den ontogenetischen Prozess ist – versetzt das Subjekt in eine
ehrfurchtsvolle Haltung gegenüber dem Objekt; obwohl die Verwandlung des Selbst
nicht die Dimension der frühen Kindheit erreicht, neigt das erwachsene Subjekt somit
dazu, solche Objekte für heilig zu erklären“ (Bollas 1997, S. 28/29).
Nun könnte man versucht sein, Gott als geistig-geistliche oder auch personale
Instanz als das Verwandlungsobjekt zu bezeichnen. Das allerdings käme dem nahe,
was im Anschluss an Sandor Ferenczi schließlich Hanna Segal „symbolische
Gleichsetzung“ nannte.14 Das Verwandlungsobjekt ist eben nicht konkretistisch zu
identifizieren. In dem Liebenden etwa ist die Möglichkeit der Verwandlung enthalten,
aber er ist nicht gleichzusetzen mit dem Verwandlungsobjekt. Bollas beschreibt die
Gefahr der hier angedeuteten Verkürzung noch einmal am Beispiel der Mutter:
„Hieraus wird verständlich, warum es uns immer vorkommt, als würden wir die
Integrität der Erfahrung des Unheimlichen beleidigen, wenn wir die spirituelle
Erfahrung auf das konkrete Vorgehen der Mutter reduzieren. Denn die Erfahrung des
Heiligen geht der Erfahrung des Mütterlichen voraus. Unser frühestes Erleben
umfasste noch nicht das Wissen darum, dass die Mutter ein eigenständiges Objekt
ist“ (Bollas 1997, S. 51).
Das „ungedachte Bekannte“ als nicht bewusstes prozessuales Wissen sucht nach
symbolischem Ausdruck, nach Worten, in denen das konkrete Objekt aufgenommen
und zugleich transzendiert ist. Deshalb:
6. Und wieder die Sprache
Auch hier weist Bollas den weiteren Weg: „Die bedeutsamste Verwandlung der verschlüsselten Äußerungen des Kindes vollzieht sich, indem es von der Mutter bei der
Erfahrung des Bildens von Worten gefördert wird und grammatische Strukturen zu
erfassen beginnt ... Mit dem Wort hat das Kind ein neues Verwandlungsobjekt
gefunden, das den Übergang von einer geheimnisvollen, privaten Innenwelt hin zum
Kosmos der Menschenwelt ermöglicht“ (Bollas 1997, S. 47). Dieser Gedanke, das
sei hier eingeschoben, erweitert und präzisiert den von Scharfenberg/Kämpfer
vorgestellten Ansatz zur Bedeutung des Symbols.15
„Wenn das Verwandlungsobjekt von der Mutter auf die Sprache der Mutter übergeht
dann macht die erste ästhetische Struktur im Leben eines Menschen, das auf die
14 Hanna Segal, Traum, Phantasie und Kunst, Stuttgart 1996, S. 62.
15 Zuerst in: Joachim Scharfenberg/Horst Kämpfer, Mit Symbolen leben, Olten/Freiburg 1980. Vgl.
auch die Weiterentwicklung bei Horst Kämpfer, Mit Symbolen leben. In: Welt des Kindes 58 (1980),
S. 427-437. Symbolische Interaktionsformen in der Entwicklung von Kindern. In: Wege zum Men-
schen, Jahrg.35 (1983) S. 274-282. Das ist doch symbolisch zu verstehen! In: Religion heute (1986),
S. 152-154. „Vom Juckpulversaft werden die Beine grau“. Symbolische Erfahrung in der Therapie. In:
Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. XXXII (2001), S. 25 - 42. 9 Mutter bezogene Selbst, der zweiten menschlichen Ästhetik Platz: der Entdeckung
des Wortes, mit dem das Selbst Sprache werden kann, oder, wie ein Lacanianer
wohl sagen würde, der Entdeckung des Selbst durch das Wort ... so steuert und
verändert, wie ich glaube, auch das In-Worte-Fassen die Stimmungen des Selbst
und legt weitere Grundlagen für seine persönliche Ästhetik“ (Bollas 1997, S. 47).
Wiederum ist zu betonen, dass hier zum einen Sprache im umfassenden Sinne
gemeint ist und zum anderen, dass Sprache den Bezug zur Anderen (z.B. der
Mutter) beinhaltet.
Dieser fundamentale qualitative Sprung in unserer Entwicklung markiert zugleich
einen Grundbaustein unserer christlichen Religion. Deshalb noch einmal in
verdichteter Form: Das „prozesshafte Geschehen Mutter“ mit jenen
Verwandlungserfahrungen wie auch mit den nie ausbleibenden Enttäuschungen
verdichtet sich im Wort Mutter wie eben auch in den Worten von Mutter; somit wird
die Abwesenheit des konkreten Objektes ertragbar.
Die
Emmausgeschichte
(Lk
24,13ff)
beschreibt
genau
jenen
Entwicklungszusammenhang: An die Stelle des konkreten Objektes treten das Wort
und der zeichenhafte Umgang mit Brot und Wein. Hier wird gleichsam der qualitative
Sprung von der Erfahrung mit dem realen Objekt hin zu den Erfahrungen mit dessen
symbolischen Repräsentanten UND die Verwandlungserfahrung durch diese
symbolischen Repräsentanten geschildert. Auch zeigt diese biblische Geschichte
geradezu kondensiert, wie nicht nur die unmittelbare Erfahrung, sondern die gesamte
Tradition („ ... und uns die Schrift öffnete“ (Lk 23,32)), in die die Erfahrung eingebettet
ist, mit in die symbolische Repräsentation aufgenommen wird.
Die biblische Erzählung beschreibt als dramaturgische Geschichte somit sehr präzise
einen entwicklungspsychologischen Verwandlungs-Vorgang. Die Emmausjünger
hatten die konkrete Erfahrung mit dem „prozesshaften Geschehen Jesus“. Und vieles
gehörte zu dem nicht bewußten „ungedachten Bekannten“, das durch seine
symbolische Repräsentation an die früheren Verwandlungserfahrungen anknüpfen
konnte (man denke z.B. an die Berufungsgeschichten oder auch die Geschichte der
Sturmstillung, die doch sehr an die beschriebene Sturmstillungsgeschichte des
Säuglings von Stern erinnert).
Wie sehr solche Verwandlungserfahrungen geradezu als „theologische Eintrittskarte“
für notwendig erachtet wurden, zeigt die Verwandlungsgeschichte des Saulus zum
Paulus: Sie muss das „prozesshafte Geschehen Jesus“, also die unmittelbare
Erfahrung, ersetzen. Und damit ist zugleich eine neue Herausforderung beschrieben:
Nun gilt es, das Unbekannte zu denken. In einer enormen geistigen Leistung wird
besonders von Paulus versucht zu beschreiben, welche Art der Verwandlung durch
die Begegnung mit Christus zu erhoffen ist. Dem „ungedachten Bekannten“ in der
Grammatik des Ichs und seiner sehnsüchtigen Suche tritt gleichsam die Grammatik
des „gedachten Unbekannten“ zur Seite. Dabei hat das „gedachte Unbekannte“
sein psychologisches Motiv in dem „ungedachten Bekannten“. Und das „gedachte
Unbekannte“ versucht wiederum der im Ich niedergeschlagenen Erfahrung der
Verwandlung neuen Inhalt und Worte zur Verfügung zu stellen.
Die Pastorin ist herausgefordert, z.B. die narrativen Beispiele der Verwandlung der
Evangelien (etwa die Heilungsgeschichten) in Verbindung zu bringen mit den
verdichteten, bekenntnishaften Formulierungen des Paulus. Was immer diese
Geschichten in ihr auslösen mögen, sie wird versuchen, Worte zu finden, von denen
sie hofft, damit die „Verheißung zu Gehör zu bringen“, eine Verheißung auf
Verwandlung, die sich in einer „befreienden Wahrnehmung der Wirklichkeit“ zeigen
kann. Ein hoher Anspruch, der seinen Ausgang in dem eigentlich schon
hinreichenden Versuch nimmt, eine Spur hin zu dem ungedachten Bekannten zu
10 legen oder mit einem Ausdruck von Eva-Maria Alves „Sehnsuchtsportale“ zu
eröffnen.16
Die Pastorale Rede (natürlich nicht nur sie allein) ist Ausdruck jener „zweiten
Ästhetik“, in der das Wort zum Verwandlungsobjekt werden möge; das Wort vermag
im Sprechenden wie im Hörenden etwas zu bewirken, die Sicht auf sich selbst, die
Anderen und die Welt zu verändern, zu einer Verwandlungserfahrung beizutragen.
Dass
das
Wort
eine
solche
Kraft
durchaus
haben
kann,
ist
entwicklungspsychologisch leicht zu belegen und es entspricht auch der
Alltagserfahrung. Die meisten Menschen werden sich daran erinnern können, wie im
Liebesgeflüster man sich selbst und die Welt sich verwandelte. Nicht von ungefähr
zeigt die christliche Religion ihren sie ausmachenden Kern in den unterschiedlichsten
Formen von Liebesgeschichten und Liebesformulierungen. Aber es ist ja nicht das
Wort an sich. Am wirksamsten und Verwandlung ermöglichend ist es in der
unmittelbaren Beziehung als unmittelbar gesprochenes Wort. Sodann kann aber
auch das Wort die gerade nicht bestehende Beziehung evozieren und im Selbst
Veränderungen herbeiführen. Allerdings: Wie bei der genannten musikalischen
Erfahrung geht es dabei um das „In-und-mit-dem-Wort-Sein“, also darum, in
Kontakt mit dem Geist des Buchstabens zu kommen. Daher kann man sagen, dass
Gott uns in dem/seinem Wort erscheint. Warum sage ich „In ... dem Wort sein“? Wäre das Kind nicht in der Mutter oder das Volk nicht in Gott, so würde der Schrei nicht
ins Ohr dringen. Wären wir also nicht „In dem Wort“, so würden wir es als Verwandlungsobjekt auch nicht finden. Das „In“ verweist auf die vorauseilende Liebe der Mutter oder Gottes zu dem Kind, dem Menschen.
Die Wandlungserfahrung oder das prozesshafte Geschehen zwischen Selbst und
Gott und Gott und Selbst, kurz „Gott – Selbst“, hinterlässt ebenso seine Spuren in
der Grammatik des Ichs.17 Und obwohl es sich um das ungedachte Bekannte, also
Vertraute handelt, wird solch eine Erfahrung faszinierende und furchtmachende
Empfindungen beinhalten.18
Diese religiöse Erfahrung des „In-und-mit-dem-Wort-Seins“ nennt Bollas einen
ästhetischen Augenblick: „Zu einem ästhetischen Augenblick kann es für einen
solchen Menschen dann kommen, wenn er sich einem furchterregenden und
verwirrenden Objekt gegenübersieht, das Konfusion in ihm erzeugt und ihm das
unheimliche Gefühl gibt, dass er es mit etwas Furchtbarem und zugleich Vertrautem
zu tun hat. Dieses ästhetische Objekt scheint nach Aufklärung seines Wesens zu
verlangen, droht aber dem Selbst für den Fall, dass es versuchen sollte, das Objekt
in Worte zu fassen, mit Vernichtung“ (Bollas 1997, S. 49).
Der Hinweis von Bollas ist von großer Bedeutung für das Finden des Wortes auf der
Schwelle. Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Die Rede, die das Prozesshafte
dingfest machen will, führt eher zum Gegenteil ihrer gewollten Absicht. Sie droht
statisch, moralisch, intellektualisierend oder klischeehaft zu werden und greift dabei
zugleich das ästhetische Objekt wie das Selbst an. Man kann wahrscheinlich Gott
und das Selbst oder besser das prozesshafte Geschehen „Gott - Selbst“ tot
predigen. Die Rede, will sie das Prozesshafte abbilden, ist zugleich selbst
prozesshafte Eröffnung eines Geschehens, eine Hinführung zu einem „In-und-mitdem-Wort-Sein“. Deshalb wirken alle geschlossenen Allgemeinplätze über Gott in
16 Eva-Maria Alves (Hg.), Unter Engeln, Berlin 2011, S. 19. 17 Inwieweit das prozesshafte Geschehen „Gott – Selbst“ auch seine Spuren in der Grammatik Gottes
hinterlässt, muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.
18 Das Zugleich von fascinosum und tremendum nennt die Psychoanalyse interessanterweise „Angstlust“.
11 Predigt und Seelsorge, so verführerisch es auch sein mag, solche zu gebrauchen, da
ja wie Bollas betont, das ästhetische Objekt und die Erfahrung mit ihm nach
Aufklärung zu verlangen scheint, eher wie vermauernde Steine.19
7. Zum Schluss
Der hier vorgestellte Ansatz ergänzt das religionspsychologisch gängige
Kompensationsmodell, wie es in Abschnitt 2 dargestellt wurde. Während es im
Kompensationsmodell
um
Bewältung
von
Konflikten,
Ängsten
und
Desintegrationsgefühlen geht, zeichnet das Modell des „ungedachten Bekannten“
eine den gesamten Lebenslauf begleitende sehnsüchtige Suche nach einem
Verwandlungsobjekt nach. In der Entwicklung wird das Wort – als zweite
menschliche Ästhetik – zum potentiellen Verwandlungsobjekt. Damit wird eine
unmittelbare Verbindung zur Betonung des Wortes in der lutherischen Theologie
hergestellt.
„Im Durchgang durch die Ambivalenz der Lebenserfahrungen“ und im Aufspüren der
eigenen „Sehnsuchtsportale“ und denen der Anderen und mit Bezug auf das „gedachte Unbekannte“ wird die Pastorin Worte finden.
19 Hier sei auch im Bezug auf das Vorausgehende daran erinnert, „dass der Gottesname (das Tetragramm Jhwh) im Hebräischen in der Tat nicht als Nomen, sondern als Verb gedeutet ist, und zwar als
Verbform mit offener Zukunft“. Es „bedeutet Wort, Ereignis, Geschehen und Sache und kann gerade
als Wort Gottes ein wirkendes, tätiges Wort bezeichnen“ (Jürgen Ebach, Name ist Schall und Rauch,
in: Gretchenfrage. Von Gott reden – aber wie? Bd. II, Hrsg. von Jürgen Ebach, Hans-Martin Gutmann,
Magdalene L. Frettlöh und Michael Weinrich, Gütersloh 2002, S. 34).