Zum Thema Le droit à la ville, «das Recht auf Stadt» hat Henri Lefebvre 1968 in seinem gleichnamigen Buch gefordert. Manchen Ohren klingt das so, wie wenn ein fundamentalistischer Prediger unter Verweis auf die Erbsünde den Menschen bescheinigt, sie hätten ein «Recht auf Hölle». Vielleicht jedoch ist es gerade ihre Abgründlichkeit, die die Stadt in den Augen vieler Modernitätstheoretiker zum Kristallisationsort von Ideen macht, zur Schmiede des bislang Ungehörten und Ungedachten. Die urbane Faszination ist ein Fetisch im Selbstverständnis der europäischen Moderne. Diese Ausgabe der ZIG macht die Gegenrechnung auf. Sie zeigt, dass entgegen der modernistischen Blickverengung auf die Großstadt das Dorf eine Brutstätte von Ideen und von Praktiken ist, mit Ideen umzugehen. Aber das Dorf ist auch selbst eine Idee, oft gewürzt mit einer gehörigen Portion Antimodernismus. Es dient als Projektionsfläche für die Idyllen-Sehnsucht geschundener Großstädter, die sich den sozialen Zusammenhalt, ja die heile Welt erträumen. Oft genug färbt sich diese Projektionsfläche aber auch dunkel ein: «Dorf» wird zur Chiffre für Beengung, für Kontrolle, für Mief und überlebte Tradition. Da scheint dann Stadtluft allein frei zu machen – weil die Stadt doch so unendlich viele Möglichkeiten biete, die das Dorf seinen Bewohnern verwehre. Das Versprechen einer immensen Fülle von Möglichkeiten scheint dem Selbstverständnis der europäischen Moderne als Leitvorstellung eingeprägt. Entsprechend bringt diese Moderne stadtsüchtige Gesellschaften hervor: 4 Man will, besonders wenn man sich einer intellektuellen und gesellschaftlichen Elite zugehörig wähnt, um jeden Preis «urban» sein. Da fällt es nicht ins Gewicht, dass man die meisten der Möglichkeiten, welche die Stadt bietet, als Stadtmensch nie in seinem Leben wird ausschöpfen können – es reicht allein, der Möglichkeit zu diesen Möglichkeiten gewiss zu sein. Im Dorf hingegen, wie es gemeinhin gedacht wird, herrscht Möglichkeitsaskese – und damit nicht auch zwangsläufig Ideenaskese? Aber das Dorf hat sich verändert, seit das 19. Jahrhundert seine Dorfgeschichten schrieb. Es ist weltläufiger geworden und bietet in Mitteleuropa die meisten der Annehmlichkeiten, die lange Zeit der Stadt vorbehalten waren. Und doch ist der Aggregatzustand des Dorfes noch immer fester, kompakter als derjenige der Stadt – konstitutiv für das Dorf ist offenkundig eine stärkere Verbindlichkeit sozialer Beziehungen. Das mag manchen modernen Individuen, die sich lieber in der Dauer-Adoleszenz der Unverbindlichkeit suhlen, ein Gräuel sein. Indessen ist auch das Leiden an der modernen UrbanIdeologie unverkennbar. Warum also nicht das Recht auf Dorf lautstark einfordern? Philip Ajouri Wolfert von Rahden Andreas Urs Sommer
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