Rede zum Volkstrauertag 2015 von Barbara Schlag, Bürgermeisterin der Stadt Norden Jedes Jahr, meine Damen und Herren, versammeln wir uns hier am Glockenturm, um all der Menschen zu gedenken, die durch Krieg und Terror, Gewalt, Diktatur und Vertreibung ihr Leben, ihre Heimat verloren haben. Wir gedenken auch derer, die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihrer Rasse, ihrer Religion verfolgt, geschunden und ermordet wurden. Dieses Wort „gedenken“ mag den Eindruck erwecken, als redete ich über längst Vergangenes, über etwas, das eigentlich keinen Bezug mehr zu unserem heutigen Leben hat, über eine Insel in unserer Erinnerung. Das Gegenteil ist der Fall - und wir alle wissen das. Mir scheint, es gibt so viele internationale Krisen von so unterschiedlicher, komplexer Natur, und das alles zeitgleich, wie nie zuvor. Die Ukraine, Syrien, der barbarische Terror der IS, die Konflikte im Nahen Osten und in Afrika, die ungelöste Kurdenfrage, und die erneuten Terroranschläge in Paris in dieser Woche, all dies zeigt beispielhaft, wie weit wir global betrachtet von Frieden, von Verständigung entfernt sind. Unsere Sehnsucht danach bleibt noch unerfüllt. Bei uns hier in Deutschland dagegen herrschen seit 70 Jahren Frieden und Wohlstand. Das große Verdienst der Nachkriegsgenerationen ist die Aussöhnung mit unseren Nachbarn und die Sicherung dieses Friedens. Dafür dürfen wir sehr dankbar sein. Gemessen am Zustand der Welt und ohne ins Detail zu gehen leben wir hier in paradiesischen Zuständen. Wundert es uns da ernsthaft, dass sich Menschen angesichts mangelnder Zukunftsperspektive, angesichts von Krieg und Mord und Verfolgung im eigenen Land auf den Weg machen - unter anderem zu uns? Nein, es wundert mich nicht. Es macht mir die Verzweiflung deutlich, von der die Menschen ergriffen sein müssen, wenn sie diesen radikalen Schritt gehen. Ich versuche mir vorzustellen, was geschehen müsste, damit ich bereit wäre, meine Heimat zu verlassen, die mir doch alles bedeutet. Hier arbeite ich, hier habe ich meine Freunde, hier ist mein Haus, in dem meine Kinder groß geworden sind, hier kenne ich die Kultur, die Natur, das Essen, hier sprechen wir alle die gleiche Sprache, alles ist vertraut - hier möchte ich bleiben. Ich will nicht weg. Es müsste sehr viel Schlimmes geschehen, ich müsste sehr viel Angst, Panik und große Hoffnungslosigkeit haben, bevor ich bereit wäre, das alles aufzugeben, meinen Rucksack und meine Kinder zu nehmen und mich auf den Weg zu machen zu einem Ziel, das ich letztlich nicht kenne, von dem ich aber hoffe, dass es da besser sein wird. Und wahrscheinlich hätte ich auch die Hoffnung und das würde mich vielleicht tragen, dass ich eines Tages zurückgehen könnte in meine Heimat. War das vielleicht auch die Situation derjenigen, die nach dem 2. Weltkrieg aus Schlesien, Pommern, Ostpreußen z.B. hierher zu uns gekommen sind? Seit einigen Jahren haben wir im Glockenturm eine Gedenktafel für all diejenigen, die damals ihre Heimat verlassen haben, verlassen mussten. Sie ist dort, weil wir nicht vergessen wollten, was sie Fürchterliches erdulden und erleben mussten. Ist das nicht auch die Situation derjenigen, die heute zu uns kommen? Erleiden sie nicht heute das Gleiche, wie unsere "Vertriebenen "damals? Damals haben wir es geschafft, vielen Menschen neue Heimat zu geben. Schaffen wir das heute auch? Ja, warum eigentlich nicht!? Es wird nicht leicht, es bedeutet eine enorme Anstrengung und es verlangt definierte und gesicherte Prozesse. Es bedeutet aber zuallererst unser aller Bekenntnis zur gelebten Humanität. Das muss die Grundlage unseres Handelns sein. Der Volkstrauertag hat uns da eine Botschaft zu übermitteln. Im Gedenken an die Toten lehren diese Toten uns, dass die Gemeinschaft Verantwortung für jeden einzelnen Menschen trägt. Sie lehren uns auch, dass jeder Mensch Verantwortung trägt für die Gesellschaft, in der er lebt. Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe sind Werte, die keinen Unterschied nach Hautfarbe und Glauben machen. Das gilt für unser Zusammenleben in Deutschland und das muss auch gelten für Deutschlands Handeln in der Welt. Das ist mein Anspruch an mein Land. Der Volkstrauertag mahnt uns, den Wert des Lebens und die unveräußerliche Würde des Menschen als das anzuerkennen, was sie sind: Unser höchstes Gut. Ein Gut, das jedem zusteht und das es zu respektieren gilt. Wenn wir das akzeptieren, haben wir eine klare Richtschnur für unser Handeln und dann können wir wiederholen, was uns schon so oft gelungen ist im Verlauf unserer Geschichte: Menschen aus anderen Ländern Heimat geben.
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