Einführung von oralem retardiertem Morphin in Deutschland
Interview mit Dr. med. Thilo Beck (Chefarzt Psychiatrie, Arud Zentren für
Suchtmedizin, Zürich) und Dr. med. Robert Hämmig (Leitender Arzt Schwerpunkt
Sucht, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäre
Psychiatrische Dienste Bern)
März 2015
Bei welchen Patienten verordnet Ihr vorzugsweise orales retardiertes Morphin?
Unter Betracht der Tatsache, dass die verfügbaren Substitutionsmittel bezüglich ihres
Effekts auf die Verminderung des Heroinkonsums alle vergleichbar wirksam sind, ist das
primäre Indikationskriterium die individuelle Verträglichkeit, oder anders formuliert die
Frage, mit welchem Präparat die Lebensqualität bestmöglich gefördert werden kann. Wir
berücksichtigen bei der mit dem Patienten gemeinsam erarbeiteten Indikationsstellung
die bisherigen Substitutionserfahrungen und das gewünschte Wirkprofil mit dem Ziel, die
für den einzelnen Patienten am besten geeignete Substanz zu wählen. Für Patienten,
die einen vollen µ-Agonisten bevorzugen, ist orales retardiertes Morphin eine wichtige
Alternative zu Methadon. Unter Methadon häufige Nebenwirkungen wie Schwitzen,
Libidoverlust, Anhedonie oder Antriebslosigkeit können einen Grund zur Umstellung von
Methadon auf orales retardiertes Morphin darstellen. QTc-Verlängerungen und CYP450bedingte Interaktionen sind ein weiterer Grund, auf Morphin umzustellen. Da Morphin
zum grössten Teil unverändert über die Nieren ausgeschieden wird, hat es
diesbezüglich gegenüber Methadon, das von der Leber metabolisiert wird, Vorteile.
Viele Patienten erleben sich unter oralem retardiertem Morphin affektiv deutlich
schwingungsfähiger und vitaler.
Bei welchen Patienten ist Morphin nach Eurer Erfahrung nicht indiziert?
Orales retardiertes Morphin ist für Patienten, die den Abschirmungseffekt oder die
dämpfende Wirkung von Methadon schätzen, weniger geeignet.
Morphin ist ein Opioid und kann natürlich mit den entsprechenden Nebenwirkungen
dieser Substanzgruppe einhergehen (Obstipation, Harnverhaltung, ungünstiger Einfluss
auf die Hypophysen-Gonaden-Achse). Bei der Umstellung können teilweise
Histaminreaktionen mit Kopfschmerzen beobachtet werden, die aber im Verlauf der
ersten Woche wieder abklingen. Dysphorische Zustände, wie sie bei
Schmerzbehandlungen mit Morphinen in der Somatik hin und wieder auftreten, konnten
wir nicht beobachten.
Mit welcher Dosis Morphin kommen Patienten vergleichbar so aus wie mit D-LMethadon zwischen 60 und 120mg?
Der in der Zulassungsstudie angewendete Umrechnungsfaktor von 1:6-8 hat sich in
unserer Praxis gut bewährt; eine Methadondosis von 100mg/d p.o. ergibt also ein
Äquivalent von 600-800mg/d oralem retardiertem Morphin.
Gibt es Ausnahmen, beispielsweise bei Schnellmetabolisierern?
Bei den „ultra-rapid Metabolizern“, die sehr hohe Methadondosen benötigen, gilt der
oben angegebene lineare Umrechnungsfaktor sicher nicht. Vorsichtigerweise geht man
bei einer Umstellung von Methadon auf orales retardiertes Morphin nicht über eine
Tagesdosis von 600 bis 800 mg/d hinaus und passt die Dosis in der Folge gemäss dem
klinischen Erscheinungsbild an.
Und was muss beachtet werden bei der Eindosierung mit oralem retardierten
Morphin?
Die Eindosierung von Heroinkonsumenten gestaltet sich nach dem in der
Arzneimittelinformation empfohlenen Vorgehen problemlos, die Zieldosis ist in der Regel
nach 5-7 Tagen erreicht.
Und wie berechnet Ihr den Umrechnungsfaktor bei der Umstellung von
verschriebenem Diazetylmorphin auf orales retardiertes Morphin?
Bezüglich der aequipotenten Dosen von Morphium und Heroin ist die Datenlage
erstaunlich dünn, wir orientieren uns an Robert Twycross aus England, der als Schmerzund Palliativmediziner zu parenteraler und oraler Verabreichung von Morphium und
Heroin publiziert hat. Er kam zum Schluss: Heroin : Morphium = 1 : 1.5, sowohl i.v. zu
i.v., wie auch p.o. zu p.o. Zu beachten ist, dass beim oralen retardierten Morphin die
Bioverfügbarkeit zwischen 20% und 40% beträgt. Für Umrechnungen nimmt man
vorsichtigerweise eher 40% an.
Auf was muss geachtet werden bei der Umstellung von Buprenorphin auf Morphin
retard?
Ein Umrechnungsfaktor für die Umstellung von Buprenorphin besteht nicht, hier muss
nach Absprache mit dem Patienten und klinischer Beobachtung auf eine übliche
Erhaltungsdosis im Bereich von 500-800mg/d oralem retardierten Morphin umgestellt
werden.
Wo wir gerade beim Kleinen 1x1 der Substitutionsbehandlung sind: Wie rechnet
Ihr denn die Methadondosis auf Diamorphin um?
Methadon p.o. x 3 = Heroin i.v. Ist einfach zu rechnen, stimmt aber nicht ganz. Der
Faktor beträgt wohl eher 3.5. Aber das spielt in der Praxis keine entscheidende Rolle.
Die Kette in der Äquivalenzberechnung lautet also?
Wir rechnen die Opioid-Aequivalente folgendermaßen um
Methadon 1 – DAM iv 3 – DAM Tabletten IR/SR 6 – SROM 6-8
Die Umstellung von DAM iv auf SROM als Ferienmitgaben ist damit gut zu
bewerkstelligen. Die Umrechnung ist jedoch keine exakte Wissenschaft und muss
immer im Einzelfall klinisch überprüft werden.
Welche unerwünschten Arzneimittelwirkungen beobachtet Ihr?
Wir sind immer wieder überrascht, wie gut verträglich orales retardiertes Morphin ist. Die
unter Opioidsubstitution allgemein festzustellenden Nebenwirkungen sind unter oralem
retardiertem Morphin im Vergleich zu Methadon oft weniger ausgeprägt.
Hat die Einführung von Morphin in der Substitutionsbehandlung Auswirkungen
auf die heroingestützte Behandlung gehabt?
In der Heroingestützten Behandlung setzt sich in unseren Einrichtungen zunehmend die
orale Einnahme in Form von Heroin(DAM)-Tabletten durch. Annähernd 50% unserer
Patienten beziehen bereits ausschließlich DAM-Tabletten mit der Möglichkeit, jeweils für
2 Tage Mitgaben zu erhalten. Das Heroin in Tablettenform wird von unseren Patienten
in der heroingestützten Behandlung dem oralen retardierten Morphin in der Regel
vorgezogen, auch wenn mit oralem retardiertem Morphin wegen bedeutend
großzügigeren Mitgabemöglichkeiten ein flexiblerer Bezug möglich ist. Orales
retardiertes Morphin ist aber für Ferienmitgaben in der heroingestützten Behandlung
eine sehr wichtige Alternative zum bisher eingesetzten Methadon, da wir bei der
Umstellung keine Komplikationen bezüglich QTc-Intervall-Veränderungen zu befürchten
haben (für injizierbares flüssig-Heroin sind keine Mitgaben möglich, Heroin-Tabletten
können wie erwähnt für maximal 2 Tage mitgegeben werden).
Zum Schluss noch die Frage: Welche Formen des Missbrauchs habt Ihr
beobachtet und wie bewertet Ihr den Talkumgehalt der Kapseln?
Der Begriff des Missbrauchs definiert sich durch eine massgebliche Diskrepanz
zwischen der Intention der Verschreibenden und dem von der Intention abweichenden
Handeln der Betroffenen. Grundsätzlich definiert sich Drogenabhängigkeit dadurch,
dass Menschen unvernünftig mit Substanzen umgehen. Man kann entsprechend nicht
erwarten, dass rein durch eine Verschreibung einer Substanz, jede Unvernunft aus den
Handlungen der Betroffenen verschwindet. Scheint die Abweichung des Handelns der
Betroffenen von der Intention der Verschreibenden (zu) gross, muss man sich primär
fragen, ob die Indikation gut gestellt war und ob man den Betroffenen nicht mit einem
anderen Programm besser helfen könnte.
Patienten, die auf den intravenösen Konsum nicht verzichten können, versuchen wir
darum - wenn immer möglich - injizierbare Lösungen zu verschreiben, sei es im Rahmen
der Heroingestützten Behandlung oder einer Substitution mit Methadon oder Morphin.
Wegen der Galenik oraler Substitutionsmittel ist deren intravenöser Konsum allgemein
als potentiell schädlich zu beurteilen. Ob hier Talkum im Vergleich mit anderen
Hilfsstoffen als besonders risikoreich zu beurteilen ist, lässt sich auf Grund der
verfügbaren Datenlage nicht beurteilen.
Das Missbrauchspotential der oralen retardierten Morphine ist in der Schweiz auf Grund
unserer bisherigen Erfahrung als gering zu beurteilen.
Die Interviewfragen wurden schriftlich beantwortet.
dgs-info extra zu Morphin ret. in der Substitutionsbehandlung, März 2015