Krawall, Knast und Kamera! - Celtis

Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit
Freude möglichst getreue Abbildungen.
Aristoteles, Poetik
Krawall, Knast und Kamera!
Bewegendes Oberstufentheater am Celtis-Gymnasium (12./13. März)
Was bildet wen ab? Das Theater die Wirklichkeit oder die Wirklichkeit das Theater?
Nach dem Besuch des von OStR Dr. Bernhard Heinrich geschriebenen und unter seiner Regie uraufgeführten Stücks Krawall, Knast und Kamera! war es leicht möglich,
dass sich bald eine nicht ganz unberechtigte Befürchtung einstellte, nämlich die Angst
davor, dass das auf der Bühne Gezeigte in nicht allzu ferner Zukunft zur entsetzlichen
Realität werden könnte. Noch beunruhigender aber ist die Erkenntnis, dass das, was zu
sehen war, teilweise bereits bittere Realität ist. Ganz im Sinne des Aristoteles gelang
es dem Autor, die Zuschauer emotional mitzureißen und gerade dadurch eine Reflexion über die eigene Wirklichkeit in Gang zu setzen.
Aber der Reihe nach! Wir befinden uns in einem Frauengefängnis. Jede der Inhaftierten hat sich etwas zuschulden kommen lassen; und jede versucht auf ihre eigene Art,
im Gefängnis zurechtzukommen. So manch eine resigniert, andere sind voller Hoffnung auf die Zeit nach ihrer Entlassung, wieder andere arrangieren sich leidlich. Doch
im Knast herrschen raue Sitten: Drogenhandel und massives Mobbing sind an der Tagesordnung. Sich heraushalten? Sein eigenes Ding machen? Fehlanzeige! Entweder
man ist Täter oder Opfer. Die Gefängnisleitung – Leon Kaiser und Kimberly Ullrich
überzeugen als bemühte Beamte ohne wirkliches Durchsetzungsvermögen – vermag
dem trotz einiger Anläufe nicht mehr Herr zu werden. Im Gegenteil: Alles wird
schlimmer und schlimmer. Es ist z. B. mehr als erschreckend, wie eine Inhaftierte eine
andere dominiert, ausnutzt und nicht zuletzt durch Drogen von sich abhängig, ja sich
absolut gefügig macht. Das ungleiche Paar wird im wahrsten Sinne des Wortes erschütternd brillant und bis ins Detail glaubwürdig von Janina Voigt (Herrin) und Sophie Kuhn (Dienerin) verkörpert.
Eine neue Insassin – zunächst unnahbar und kalt – macht zwar auch ihre Geschäfte
und versteht es, zu ihrem eigenen Vorteil Strippen zu ziehen, aber im Verlauf des
Stücks erweist sie sich – ein schwacher Hoffnungsstrahl der Menschlichkeit – als
durchaus fürsorglich, indem sie sich bei der Gefängnisleitung für die „Dienerin“ einsetzt – wenn auch letztlich erfolglos. Anastasija Markov nimmt man die beiden Seiten
dieser Figur in jeder Phase problemlos ab. Mehrfach bieten Vivian Harris (Gesang),
Jan-Peter Itze (Gitarre), Ramona Röder (Bass) und Christoph Jeßberger (Klavier) hervorragende musikalische Einlagen, die stimmungsmäßig und inhaltlich sinnvoll in den
Handlungsgang des Stücks integriert sind.
Und nochmals gibt es Zuwachs: Zu den übrigen Einsitzenden – neben den bereits erwähnten Schülerinnen geben Mona Ankenbauer, Katharina Benchert, Theresa Mündlein, Christine Kuckshaus und Vanessa Trauner variantenreich diverse Charaktere –
gesellen sich drei Damen, die ausschließlich auf Krawall aus sind, ein fürchterliches
Trio Infernal aus Lena Machau, Janine Imgrund und Hannah Kuhn, dessen Schauspiel
schockierend echt wirkt. Dieses Trio tritt nur zusammen auf und potenziert den Zuchthausterror um ein Vielfaches. Besonders terrorisiert es die „Dienerin“, die aus der Zelle ihrer „Herrin“ zu den besagten drei Frauen verlegt wurde. Doch das kann sich die
„Herrin“ nicht gefallen lassen: Nicht etwa aus Mitleid, sondern aus purer Geltungs-
sucht will sie „ihre Dienerin“ aus den Fängen des Trios befreien. Die Situation eskaliert und gerät außer Kontrolle: Die „Herrin“ nimmt die Anführerin des Trios als Geisel und droht mit deren Tötung. Eine Psychologin – geschult für solche Fälle – soll
vermitteln; doch dieser nützt jegliches theoretische Fachwissen rein gar nichts. Ilona
Weiß bringt die akademische Hilflosigkeit sehr gut auf die Bühne. Nun muss der Programmdirektor eines Fernsehkanals die Kohlen aus dem Feuer holen. Ja, richtig! Fernsehen! Denn es stellt sich heraus, dass es sich beim Terrortrio um drei Schauspielerinnen handelt. Im Auftrag eines Fernsehsenders und mit Wissen und Billigung der Gefängnisleitung, die sich davon wirtschaftliche Vorteile erhofft, sind sie unter die Inhaftierten gemischt worden, um bewusst Unruhe zu stiften. Und all das wurde mittels versteckter Kameras live im Fernsehen übertragen – natürlich ohne Wissen der Gefangenen. Als die „Dienerin“ das hört, traut sie ihren eigenen Ohren kaum, verliert vollends
die Nerven und erwürgt im Affekt den Programmdirektor – Süleyman Schoßwald befremdet gewollt als abstoßender Business-Typ – mit dessen eigener Krawatte. Das Opfer ist zum Täter geworden – eine Befreiung im Gefängnis und gleichzeitig Grund für
viele weitere Jahre Haft. Es irritiert, wenn das bisherige Opfer sich nach dem Mord
erstmals gut fühlt. Es irritiert aber noch mehr, dass niemand eingreift, als der Programmdirektor ermordet wird. Alle schauen zu. Alle! Und selbst von den Herzen der
Zuschauer dürfte in diesem Moment eine Art Genugtuung Besitz ergreifen. Hat er den
Tod nicht verdient? Darf man sich denn nicht wehren? Endlich hat sie es geschafft!
Und dennoch: Es bleibt kein reines Gefühl zurück, keine edle Botschaft. Nur Fragen!
Fragen an unsere Gesellschaft, letztlich an uns selbst: Haben Voyeurismus und Unterhaltung auf Kosten von Mitmenschen einen höheren Stellenwert als Grundrechte und
Wertvorstellungen? Wo schauen wir selbst zu, dulden oder fördern – wenn auch unbeabsichtigt – Ausnutzung, Gewalt und Unterdrückung? Bleibt zu hoffen, dass sich die
Wirklichkeit das Stück Krawall, Knast und Kamera! niemals zum Vorbild nimmt.
Sorgen wir dafür!
Andreas Engel