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Die Akademisierung der politischen Praxis
Veranstaltung der Naturfreundejugend Berlin am 23. November 2015 Beitrag Klaus: Kurz zu meiner Person: Ich komme eher aus einer praktischen Ecke, habe einen Hauptschulabschluss, immer irgendwas gearbeitet, nie an einer Uni gewesen,1969 politisiert und von der Schule geflogen, war in der damaligen Lehrlings‐ und Jugendzentrumsbewegung, auch in der damaligen Drogen‐ und Subkultur unterwegs. Ab 1972 die Westberliner Linke kennen gelernt. Die Aufbruchstimmung und das Abflauen der APO erlebt, habe mich dann für Stadtguerillaaktivitäten in der damaligen Bewegung 2. Juni, das waren die mit der Lorenz‐Entführung, entschieden. In der Folge 1976‐1978 illegal und 1978‐1993 Knast. Das Problem der Akademisierung linker Theorie ist nicht neu, auch in den 70er Jahren ein Thema. Gerade bei Studierenden gab es die Vorstellung, dass sich aus Auseinandersetzung mit komplizierten Texten, zum Beispiel nach drei ausgiebigen Kapitalschulungen, sich die richtige Praxis sozusagen automatisch ergeben würde. Das war aber schon damals nicht so. Und ich denke, dass es eine akademische Denkfalle ist, Theorie und Praxis getrennt zu sehen. Das eine ist ein Korrektiv und eine Anregung für das andere. Theorie um der Theorie willen ‐ also auf einer sozialen Glatze akademische Locken drehen ‐ finde ich völlig sinnlos und auch langweilig. Aber ich schätze Theorie‐ und Theorieproduktion sehr als einen Teil der alten Parole der Lehrlingsbewegung: Leben ‐ Lernen ‐ Kämpfen. Und das nicht allein für sich, sondern kollektiv, in Gruppen. Ob das damals eine Basis‐Stadtteilgruppe war, die Arbeitsstelle, das Buchladenkollektiv, die WG oder Kommune. Wenn du aus einer "bildungsfernen" Ecke kommst geht es bei Theorieaneigung und Diskussionen ja nicht um Scheine, eine Diss oder akademische Karrieren. Auch in den Stadtguerillagruppen wurde eigentlich ständig diskutiert und gelesen. Wir hatten alle die damals üblichen Kapital‐Schulungen gemacht, ein wenig Lenin gelesen, meist aber mehr Bakunin und Texte von Che oder Frantz Fanon und viel Organisationstheorie usw. Wir haben uns als Militante verstanden, nicht im Sinne von "Streetfighter" mit viel Gepose, sondern Militanz im angelsächsischen Sinn: für eine Überzeugung kämpfend, die eigene Person und Lebensperspektive in die Waagschale zu werfen für seine politischen Ziele. Parolenhaft: Dazu gehörte der Versuch, eine Einheit von Denken und Handeln herzustellen, auch: Sich selbst zu verwirklichen im Wortsinne und die Trennung von Theorie und Praxis, von Überzeugungen und deren Verwirklichung aufzuheben. Diese Verbindung von Theorie und Praxis ist auch im Knast absolut wichtig, wenn du da als linkes Individuum überleben willst. So wie draußen musst du gegen den Meinungsmainstream und den stummen Zwang der Verhältnisse denken und weiter Sand im Getrieben bleiben. 2
Die Praxis im Knast ist relativ simpel: Du wehrst dich gegen das Knastregime, was dich fertig machen und von deinen linken Überzeugungen abbringen will. Die Fronten im Knast sind klar und an klaren Fronten lässt sich ja gut kämpfen. Im alten Jargon: Leben oder gelebt werden. Zu der Praxis des Lebens im Knast gehört unvermeidlich die Auseinandersetzung mit Theorie. Peter Weiss hat in der Ästhetik des Widerstands irgendwo geschrieben: "Die Wachheit der Gedanken ist die letztlich bleibenden Waffe" (Peter Weiss). Die Bedingungen im Knast machen Theorie und Informationen zu etwas Kostbarem: Bücher, Zeitungen, Radio ‐ sie sind Mangelware. Kein Überfluss wie draußen. Du musst darum kämpfen, dass zensierte Zeitungen an dich ausgehändigt werden, es sind nie mehr als 20 Bücher gleichzeitig auf Zelle erlaubt, jahrelang gibt es nur ausgesuchte Bücher, alle Besuche werden überwacht usw. usw. Briefe zu bekommen, besonders aber sie zu schreiben, ist enorm wichtig, denn Reflexion und Selbstreflexion findet in Sprache statt. Schreiben ist ganz wichtig, um Gedanken zu sortieren, zu reflektieren, und von anderen korrigiert zu bekommen. "Sprache ist praktisches Bewusstsein" (Marx). Was du nicht formulieren kannst, kannst du auch nicht denken... Natürlich ist es schwierig in der Isoliertheit des Knasts theoretisch zu arbeiten. Denn Isolation macht zunächst mal blind für Wirklichkeiten außerhalb der eigenen Erfahrungen und Wissenshorizonte. Gegen diese Isolation und Vereinzelung sind Bücher, Zeitungen und Briefe aber ein Zugang zur Geschichte anderer Menschen, ihren Kämpfen, ihren Niederlagen, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, so kannst du andere internationale Verhältnisse reflektieren und deine eigenen Überzeugungen überprüfen. Nach meiner Erfahrung darfst du nicht der Versuchung erliegen, nur das hören, lesen und sehen zu wollen, was Dich nicht verunsichern kann. Wer das tut, riskiert, dass seine Überzeugungen zu hohlen Parolen verkommen und nur noch ein Stützkorsett bilden, was beim ersten ernsthaften Zweifel völlig zerbricht. Es ist besser, immer wieder Zweifel zuzulassen, nachzudenken und weiterzudenken, sich als soziales Wesen in Bezug zu setzen zu den lebendigen Realitäten draußen. Und deshalb sind die Kontakte nach draußen für Gefangene auch so wichtig. Die Diskussionen über Theorie (über praktische Aktionen kannst du ja unter der Zensur schlecht diskutieren) sind der kollektive Prozess, der Gefangenen bleibt. Dazu gehörte eine große Portion Wissbegierde, hungrige Augen und Ohren und Lust auf andere Erfahrungen, Analysen. Theorieproduktion war im Knast im Idealfall immer zweierlei: gegen die Knastsituation, die dich intellektuell ersticken will, und für die Linke, bzw. deine Genossinnen und Genossen draußen. Zur Entstehungsgeschichte des 3:1‐Textes zur Triple‐Oppression Die ersten Jahre im Knast drehten sich Debatten oft um Konzepte des bewaffneten Kampfes, um Fragen des Knastkampfes, des Verhaltens im Prozess gegen die Justiz usw. ‐ alles Fragen, die unter der Käseglocke eines Hochsicherheitstraktes wahnsinnig wichtig wirken und auch sind. Wer sich ‐ wie ich ‐ nicht dem Kollektiv der RAF‐Gefangenen angeschlossen hat, musste 3
sich mehr um Kontakte nach außen, zu verschiedensten linken Gruppen oder Individuen bemühen, um Diskussionen führen zu können. Mitte/Ende der 80er war eigentlich deutlich zu sehen, dass die autonome gemischte Linke viele Unterdrückungsverhältnisse nicht gut genug sieht und sie praktisch nicht ausreichend bekämpft, nicht mal in den eigenen Reihen. In der Zeit entstand ein lockerer Zusammenhang von Leuten, die mir geschrieben oder mich besucht haben, die alle unzufrieden mit der autonomen Bewegung und deren "weiße Flecken" waren. Konkret ging es klarerweise um Rassismus, Patriarchat und eine unvollständige Kapitalismusanalyse. Als Fragen formuliert: Welcher Klasse entstammt die autonome Linke, welches Geschlecht hat sie, wie deutsch und wie weiß ist sie eigentlich? Und: Wie kann sie damit umgehen und trotzdem emanzipatorisch wirken und alle Verhältnisse umwerfen, die unterdrückerisch sind? Bei der Suche nach Antworten stießen wir bald auf Texte von Schwarzen wie den postcolonial Studies von Stuart Hall, Paul Gilroy, Hazel V. Carby, oder auch die des Weather Underground, der Black Liberation Army, auf die feministische Kritik am Marxismus von Christel Neusüß, den "Bielefelderinnen" wie Maria Mies usw. Das waren alles Ansätze, die damals vom linken Mainstream weit entfernt waren. Viele Texte waren noch nicht mal auf deutsch erschienen, wie dieses Zitat von Neville Alexander, einem Schwarzen Anti‐Apartheit‐Aktivisten, der zehn Jahre lang auf Robben Island gefangen war: "Wenn wir von Befreiungskampf sprechen, meinen wir den Kampf gegen alle diese 3 Arten von Unterdrückung. [Rassismus, Kapitalismus, Patriarchat]. Wir sprechen nicht von 3 Stadien oder 3 verschiedenen Kämpfen; nein, wir sprechen von einem einzigen Kampf. Freiheit ist unteilbar. Du kannst dich nicht frei nennen, solange noch die eine oder die andere dieser Unterdrückungsformen weiter besteht." Alle 3:1‐DiskutantInnenkamen aus einer ursprünglich marxistischen Ecke, auch wenn sie diese vielleicht schon länger verlassen hatten. Im 3:1‐Papier wird nicht behauptet, dass die Marx'sche Theorie erledigt ist, aber der Triple oppression‐Ansatz stellt klar, dass Kämpfe nicht nur von einer weißen, männlichen Arbeiterklasse in den Metropolen gemacht wurden oder werden, sondern dass gegen Imperialismus, Patriarchat und Rassismen ebenso wichtige Widersprüche und Kämpfe existierten und sich weiter entwickeln werden. Es ist klar, dass es nicht geschichtslos den Kapitalismus, das Patriarchat oder den Rassismus gibt. Es gibt kein schematisches Nebeneinander von Unterdrückungen in der Wirklichkeit, keine ist völlig auf eine andere zurückführbar oder völlig vereinnahmt von anderen, sie bilden eine zusammenhängende Wirklichkeit. In konkreten Situationen treten Unterschiede in der "Zusammensetzung" der Unterdrückungen zutage. Mal in erster Linie gegen Arbeiterlnnen, gegen Frauen, gegen Schwarze oder imperialistisch gegen trikontinentale Befreiungskämpfe gerichtet. Was im 3:1‐Papier nicht so gesagt wurde: Es war auch ein ganz praktischer Versuch, die Autonomie und unabhängige Selbstorganisation der Frauenbewegung, die in der alten und auch neuen linken ja schnell als Spalterei kritisiert wurde, und auch die Selbstorganisation 4
von MigrantInnen zu akzeptieren, zu rechtfertigen und allen Fraktionen sozusagen ein gemeinsames Ziel offen halten zu wollen. Es ging also um eine effektivere gemeinsamere Praxis, die auf der Anerkennung der Autonomien und Erfahrungen anderer beruht und um ein Bewusstsein von der Unteilbarkeit der Kämpfe. "Das Problem der Einheit beruht auf der Definition des Feindes. D.h., nur Leute, die ihren Feind in einer zumindest sehr ähnlichen Weise identifizieren, können darauf hoffen, ihre Kräfte zu vereinigen." (Neville Alexander) Unvollständiges Erkennen des Feindes hatte immer eine Verkürzung der revolutionären Versuche und ihrer Utopien zur Folge. Entweder wurde der Feind um seine rassistische Seite verkürzt und die Befreiung der Schwarzen fiel unter den Tisch, oder die patriarchalische Seite des Feindes wurde übergangen und die Frauenunterdrückung blieb, oder die kapitalistische Seite des Feindes wurde nicht wahrgenommen und (nicht nur) die ArbeiterInnen hatten es auszubaden. Wurden eurozentristisch die imperialistischen Aspekte des Feindes tatenlos hingenommen, so konnte er von seinen Kernländem aus ungestört den Globus ausbeuten und Kriege führen. Der 3:1‐Text im Netz: http://www.idverlag.com/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEinsViehmann.html ‐‐‐‐