Eine moderne Perspektive der Hypochondrie Aktueller Forschungsstand und psychotherapeutische Behandlung von Krankheitsängsten PD Dr. Florian Weck Abt. Klinische Psychologie, Psychotherapie und Experimentelle Psychopathologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz [email protected] Übersicht • Erscheinungsbild und Klassifikation • Erklärungsmodelle • Therapie und Wirksamkeit Traditionelle Sichtweise der Hypochondrie • „unter den Rippenknorpeln“ • Somatoforme Störung • sekundäres Phänomen (80er) • schwer behandelbar Somatoforme Störungen (DSM-IV) • Somatisierungsstörung • Undifferenzierte Somatoforme Störung • Konversionsstörung • Schmerzstörung • Hypochondrie • Körperdysmorphe Störung • nicht näher bezeichnete Somatoforme Störung APA (2001) Kritik an der diagnostischen Einordnung der Hypochondrie Speziell aus therapeutischer Perspektive heraus sollte die Hypochondrie besser als Angststörung bezeichnet werden, … (Salkovskis et al, 1990) It is questioned whether there are sufficient arguments to classify hypochondriasis among the somatoform disorders in the DSM-III-R instead of among the anxiety disorders (Schmidt, 1994) … because of phenomenological similarity and extensive comorbidity, consideration should be given to classifying [hypochondriasis] among the anxiety disorders (Noyes, 1999) Hypochondriasis should be renamed „health anxiety disorder“ and grouped with body-dysmorphic disorder within anxiety disturbances (Fava et al., 2007) As a result of this (mis)classification, there has been a noticeable delay in the development of theortically grounded paradigms for understanding and treating hypochondriasis (Oljatunje et al., 2009) Hypochondrie (DSM-IV) A Übermäßige Beschäftigung mit der Angst oder der Überzeugung, eine ernsthafte Krankheit zu haben, was auf einer Fehlinterpretation körperlicher Symptome durch die betroffene Person beruht. B Die Beschäftigung mit den Krankheitsängsten bleibt trotz angemessener medizinischer Abklärung und Rückversicherung bestehen. C Überzeugung ist nicht von wahnhaften Ausmaß. E Überzeugung besteht für mindestens 6 Monate. APA (2001) Dysfunktionale Überzeugungen Gesund ist man, wenn man keine körperlichen Empfindungen hat. Bei Verstopfung sollte man umgehend einen Facharzt aufsuchen, um sicherzugehen, dass man keinen Darmkrebs hat. Wenn ein Arzt mich zu einer Untersuchung überweist, ist er davon überzeugt, dass etwas Ernsthaftes vorliegt. Ich habe oft Herzklopfen, da mein Kreislauf besonders empfindlich ist. Entweder ich oder mein Arzt müssen in der Lage sein, für alle körperlichen Beschwerden eine Erklärung zu finden. Rief, Hiller & Margraf (1998) Befragung von 117 Allgemeinärzten und Internisten (Mainz, Wiesbaden) • 13% der Patienten seien krankheitsängstlich • 76% der Ärzte wenden für hypochondrische Patienten deutlich mehr Zeit als für andere Patienten auf – ¼ der Ärzte verwenden 3mal so viel Zeit wie für andere Patienten auf – ⅓ der Ärzte führen eigentlich unnötige Untersuchungen durch Bleichhardt & Weck (2006) Sollte man den Patienten die gewünschte Rückversicherung geben? • „Sie haben eine ausgezeichnete Gesundheit; Ihre Symptome können schmerzhaft sein, oft dauert es lange Zeit bis sie wieder weggehen“ (Kellner, 1986) • Toleranz für Unsicherheit wird immer geringer • Rückversicherung führt langfristig zu einer Zunahme von Ängsten (Salkovskis & Warwick, 1986; Abramowitz & Moore, 2007) Der Effekt von Sicherheitsverhalten eine experimentelle Studie (N = 60) •„Verordnung“ von 34 Sicherheitsverhalten – Medizinischen Rat bei der Familie, Freunden oder einem Arzt suchen – täglich Vitamintabletten einnehmen – sich einmal täglich wiegen – Lymphknoten abtasten – den Mundinnenraum mit der Zunge nach Entzündungen absuchen – den Puls kontrollieren – Leberflecken untersuchen – im Internet nach gesundheitsbezogenen Informationen suchen Olatunji et al. (2011) Sicherheitsverhalten fördert negative Bewertungen Krankheitsbezogene Bewertungen Sicherheitsverhaltens Krankheitsängste Olatunji et al. (2011) Krankheitsängste und das Internet (N = 82) (hoch vs. niedrig Krankheitsängstliche) •Warum wurde das Internet zu Rate gezogen? – Suche nach Ursachen für Symptome – Suche nach Behandlungsmöglichkeiten – Suche nach Behandlungsangeboten – Suche nach Informationen über nicht diagnostizierte Krankheiten – Suche nach Informationen über diagnostizierte Krankheiten – Suche nach Betroffenenberichten Muse et al. (2012) DSM-5 Krankheitsängste ein oder mehrere körperliche Symptome (75%) Somatische Belastungsstörung keine körperlichen Symptome (25%) Krankheitsangststörung Krankheitsangststörung (DSM-5) A Übermäßige Beschäftigung damit, eine ernsthafte Krankheit zu haben oder zu bekommen. B Körperlich Symptome liegen nicht oder nur in geringer Intensität vor. C ausgeprägte Ängste hinsichtlich der Gesundheit, leicht beunruhigt über den Gesundheitszustand. D übertriebenes gesundheitsbezogene Verhaltensweisen oder Vermeidungsverhalten. E mindestens 6 Monate. Entstehung Frühere Erfahrungen mit Krankheiten Dysfunktionale Grundananahmen „Körperliche Empfindungen sind immer Zeichen einer Krankheit“ Kritische Lebensereignisse z.B. ein Freund hat Krebs Krankheitsängste Warwick & Salkovskis (1990) Aufrechterhaltung Spezifität? Warwick & Salkovskis (1990) Stichprobe Hypochondrie (n = 45) gesunde Probanden (n = 45) Angststörung (n = 45) Weck et al. (2012) Health Norms Sorting Task (HNST) Barsky et al. (1993) Instruktionen unspezifisch spezifisch Stellen Sie sich eine Stellen Sie sich vor, völlig gesunde Person nachfolgende Symptome vor. Wäre diese Person bestünden bei Ihnen „noch gesund“ oder seit einer Woche. „nicht mehr gesund“, Würden Sie sich als wenn sie folgende „noch gesund“ oder Symptome entwickeln „nicht mehr gesund“ würde: bezeichnen. Weck et al. (2012) Bewertung von Körpersymptomen als „nicht mehr gesund“ HNST (unspezifisch) 18 HNST (spezifisch) * 18 16 16 14 14 12 12 10 10 8 8 6 6 4 4 2 2 0 0 Hypochondrie Angststörung Gesunde * Hypochondrie Angststörung *p<.01 Gesunde Weck et al. (2012) Vielfältige KVT-Ansätze/Interventionen Psychoedukation Entspannungsverfahren Aufmerksamkeitsumlenkung Achtsamkeitsbasierte Therapie Exposition Verhaltensexperimente kognitive Umstrukturierung (Sokratischer Dialog) Stressbewältigung Abbau von Sicherheitsverhalten Vielfältige KVT-Ansätze/Interventionen Psychoedukation Entspannungsverfahren Aufmerksamkeitsumlenkung Achtsamkeitsbasierte Therapie Exposition Verhaltensexperimente kognitive Umstrukturierung (Sokratischer Dialog) Stressbewältigung Abbau von Sicherheitsverhalten Aufmerksamkeit • Verhaltensexperimente: „Körperreise“ • Symptome Aufmerksamkeit • Aufmerksamkeitstraining Exposition in sensu • 78% berichten intrusive Vorstellungen Muse et al. (2010) • Ziel: Patienten sollen sich Vorstellungen stellen => Abnahme von Ängsten • Drehbuch: Bildliche Vorstellungen von Themen zu Krankheit und Tod Exposition könnte besonders vielversprechend sein… 1. Annahme ähnlicher Mechanismen für die Aufrechterhaltung in Störungsmodelle zur Hypochondrie und Panikstörung Warwick & Salkovskis, 1990 Salkovskis & Clark, 1993 2. Empirisch zeigten sich viele phänomelogische Gemeinsamkeiten zwischen Hypochondrie und Angststörungen Abramowitz, Olatunji, & Deacon, 2007; Deacon & Abramowitz, 2008; Gropalis, Bleichhardt, Witthöft, & Hiller, 2012; Hiller, Leibbrand, Rief, & Fichter, 2005; Neng & Weck, in press; Van den Heuvel et al., 2005; Weck, Bleichhardt, Witthöft, & Hiller, 2011; Weck, Neng, Richtberg, & Stangier, 2012 3. Klinisch zeigen sich viele Möglichkeiten für Exposition Interozeptive Exposition (z.B. Hyperventilation) Exposition in sensu (z.B. aufdringlichen Vorstellungsbilder) Exposition in vivo (z.B. Dokumentationen über Krankheiten) Patienten • 84 Patienten mit Hypochondrie (SKID) • Krankheitsängste seit M = 13.6 (SD = 12.4) Jahren • 60% weiblich • M = 40.1 (SD = 11.8) Jahre alt • 52% komorbide Störung – 36% Angststörung – 21% Affektive Störung Weck et al. (in press) Laufzeit: 3 Jahre + 1 Jahr 84 Patienten Diagnostik (SKID) randomisierte Zuweisung Expositionstherapie Kognitive Therapie Ausschlusskriterien: - schwere körperliche Erkrankung - akute Suizidalität - Substanzabhängigkeit - Psychotische Störungen - Bipolare Störungen 3 Monate - andere Psychotherapie Wartekontrollgruppe 3 Monate randomisierte Zuweisung Expositions -therapie Kognitive Therapie Weck et al. (in press) Kognitive Therapie Sitzung 1 Sitzung 2 Sitzung 3 Expositionstherapie Informationsvermittlung (Was ist Informationsvermittlung (Was ist Hypochondrie?; über selektive Hypochondrie?; über VermeidungsAufmerksamkeit und und Sicherheitsverhalten) körperliche Symptome) Verhaltensexperimente; individuelles Störungsmodell; aufmerksamkeitsbezogene Übungen Reduktion von Sicherheitsverhalten Sitzung 4 Sitzung 5 Sitzung 6 Sitzung 7 Sitzung 8 Session 9 Sitzung 10 Kognitive Interventionen: Informationsvermittlung (Stress und das vegetative Nervensystem); kognitive Umstrukturierung; Verhaltensexperimente; imagery rescripting Vermittlung des Rationals für Exposition; interozeptive Exposition; Exposition in vivo; Exposition in sensu Sitzung 11 Sitzung 12 Rückfallprophylaxe 3 Nachsorgetermine Rückfallprophylaxe Ergebnisse • Kognitive Therapie = Expositionstherapie – Hypochondrische Überzeugungen und Verhalten (g = 0.78-1.20) – allg. Psychopathologie, Depressivität, körperliche Symptome (g = 0.30-1.01) • Expositionstherapie > Kognitive Therapie – patholog. Ängste und Sicherheitsverhalten • Langzeiteffekte: hohe Effektstärken in der 1-Jahres-Katamnese (g = 1.30-1.40) Weck et al. (in press)
© Copyright 2024 ExpyDoc