Professor Dr. Rolf Gröschner
Sommersemester 2015
Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen
Methoden- und Argumentationslehre
§ 8 Gerechtigkeit als Grundproblem der Rechtsphilosophie
I.
Grundpositionen einer sokratischen Gerechtigkeitsphilosophie
1. Zur Erinnerung: Das sokratische Nichtwissen
a) „Etwas, das ich nicht weiß...“
b) Gerechtigkeit als Leitidee des Rechts
2. Zur Erinnerung: Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles
a) Gerechtigkeit als Tugend des Einzelnen
b) Gerechtigkeit im Verhältnis zum Anderen
3. Zur Vertiefung: Gerechtigkeit bei Celsus und Ulpian
a) „Juristenlatein“ Nr. 32
b) „Juristenlatein“ Nr. 33
II. Personale Gerechtigkeit
1. Die dialogische Grundstruktur des Rechts
a) Der Streit als rechtliches Urphänomen
b) Die „Sache“ des Rechts
c) Streitvermeidung und Streitentscheidung
2. Gerechtigkeit in den Rechtsverhältnissen des positiven Rechts
a) Ausgleichende Gerechtigkeit in Privatrechtsverhältnissen
b) Austeilende Gerechtigkeit in den Rechtsverhältnissen des Öffentlichen
Rechts
c) Gerechtigkeit im „Zwischen“ der Streitbeteiligten
III. Soziale Gerechtigkeit
1. Weite und Untiefen der Wortverwendung
a) „Soziale Gerechtigkeit“ als Schlagwort politischer Debatten
b) „Soziale Gerechtigkeit“ als Grundbegriff der Rechts- und Staatsphilosophie
2. Gerechtigkeit im Sozialstaat des Grundgesetzes
a) Konzeption des freiheitlichen Sozialstaates
b) Unterscheidung von Staat und Gesellschaft
c) Bedeutung „realer Freiheit“
d) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Professor Dr. Rolf Gröschner
Sommersemester 2015
Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen
Methoden- und Argumentationslehre
Texte zu § 8
Zu den gerechtigkeitsphilosophischen Grundpositionen
Das Grundproblem der Staatsphilosophie ist Freiheit, dasjenige der Rechtsphilosophie Gerechtigkeit. Der sokratische Zugang zu beiden Problemen verlangt einen Verzicht auf abschließende Definitionen „der“ Freiheit und „der“ Gerechtigkeit sowie eine regulative, leitsternartige Verwendung der Begriffe. Für den richtigen Umgang mit Apologie 21 d („etwas,
das ich nicht weiß, glaube ich auch nicht zu wissen“) wird auf die Texte zu § 4 verwiesen,
zur Wiederholung der platonischen Tugendlehre und der aristotelischen Gerechtigkeitsphilosophie auf die Texte zu § 5.
Zur Gerechtigkeit bei Celsus und Ulpian
Am Beginn der Digesten steht der berühmte Satz des Celsus „ius est ars boni et aequi“ – Das
Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten (siehe Juristenlatein Nr. 32). Nicht weniger
berühmt ist ein Satz des Ulpianus (um 170-228 n. Chr.), der als „Ulpianische Formel“ zum
geflügelten Wort römischer Gerechtigkeitsvorstellungen geworden ist: „iustitia est constans
et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens” (I. 1, 1 pr.; in D. 1, 1, 10 pr. endet der Satz
dagegen mit „tribuendi”) – „Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, einem jedem sein Recht zukommen zu lassen” (siehe Nr. 33). In dieser Formel muß zunächst
einmal beachtet werden, daß es um die Bestimmung der Gerechtigkeit (iustitia) und nicht
des Rechts (ius wie bei Celsus) geht; des weiteren ist zu beachten, daß es nicht heißt, jedem
müsse „das Seine” zukommen. Bei Ulpian ist ausdrücklich die Rede davon, daß einem jeden
„sein Recht” zuteil werde – was in heutiger Terminologie bedeutet, daß hier vom Recht im
subjektiven Sinne die Rede ist, nicht wie bei Celsus vom Recht im objektiven Sinne. Während
das objektive Recht die kunstgerecht gestalteten Regelungen bereitstellt, nach denen Fallgruppen systematisch richtig entschieden werden können, erfordert die Gerechtigkeit den in
jedem einzelnen Streitfall zu betätigenden Willen, den subjektiven Rechten der Streitenden –
unter bestmöglicher Wahrung der Gegenrechte – zur Durchsetzung zu verhelfen. Wegen der
Korrelation von Rechten und Gegenrechten bzw. von Rechten und Pflichten ist der Gerechtigkeitsbegriff des Rechts notwendig ein personaler, genauer: interpersonaler Begriff.
Zur personalen Gerechtigkeit
Für die interpersonale Gerechtigkeit des Rechts ist bei Aristoteles anzusetzen, weil sein Gerechtigkeitsbezug auf den Anderen („pros heteron“, scholastisch: „ad alterum“) der dialogischen Grundstruktur des Rechts entspricht. Dialogisch ist diese Grundstruktur, weil „Recht“
gar nicht anders gedacht werden kann als eine Regelung, die den Streit zwischen mindestens
zwei Rechtssubjekten zu vermeiden oder zu entscheiden sucht. Die „Sache“ des Rechts ist
also stets eine (aktuelle oder potentielle) „Streitsache“, was beim Aufruf der „Sache X gegen
Y“ täglich tausendfach auf den Gerichtsfluren zu hören ist. Die Etymologie gibt auch hier –
wie schon beim Zusammenhang ius/iustitia und recht/gerecht – einen schönen Hinweis
(ohne selbst Beweis zu sein): „sakan“, das gotische Verbum, aus dem die „Sache“ gebildet
wurde, hieß „streiten“. Mit einer augenzwinkernden Anspielung auf Heraklits berühmtes
Fragment vom Streit („polemos“) als kosmischem Urprinzip könnte man sagen: Der Streit ist
der Vater aller juristischen Dinge.
Streitvermeidung als vorsorgende und Streitentscheidung als nachsorgende Aufgabe des
Rechts unter die Leitidee dialogischer Gerechtigkeit zu stellen, bedeutet, vom „Rechtsverhältnis“ als der Grundfigur des Rechts ausgehen zu müssen. Leitende Gerechtigkeitsvorstellung für die Rechtsverhältnisse des Privatrechts und des Strafrechts ist in guter aristotelischer Tradition die iustitia commutativa, für die Rechtsverhältnisse des Öffentlichen Rechts
die iustitia distributiva. Da sich beide Gerechtigkeitsformen auf (natürliche oder juristische)
Personen beziehen, kann man sie „personale Gerechtigkeit“ nennen. Im dialogischen Sinne
einer dem jeweiligen Verhältnis entsprechenden Konzeption handelt es sich um eine interpersonale, zwischen den beteiligten Personen vermittelnde Gerechtigkeit. Ihr Ort ist – mit
einem von Martin Buber geprägten Begriff – „das Zwischen“. In diesem Zwischen-Raum
(zwischen Gläubiger und Schuldner, Täter und Opfer, Behörde und Bürger) entscheidet sich,
ob die jeweilige Rechtsregel als (generell) gerecht und ihre Anwendung im (individuellen)
Einzelfall als billig empfunden wird. Die dialogische Grundstruktur des Rechts ist dabei
nicht erst Folge des Gegenüberstehens von Klägern und Beklagten (und sonstigen Beteiligten) im Prozeß, sondern schon des materiellrechtlichen Gegenüberstehens von Anspruchstellern und Anspruchsgegnern.
Zur sozialen Gerechtigkeit
„Soziale Gerechtigkeit“ ist heute ein Topos, der quer durch die politischen Parteien Verwendung findet. Als Verfassungsbegriff gewinnt er Struktur und Gehalt aus der freiheitlichen
Ordnung des Grundgesetzes. Zunächst einmal bedeutet dies die Berücksichtigung der Neutralität des Staates i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG. Die dort gewährleistete „Freiheit des religiösen und
weltanschaulichen Bekenntnisses“ ist nicht nur ein wichtiges subjektives Recht des Einzelnen, sondern auch ein wesentliches Element objektiver Freiheit, das den sozusagen bekennenden Sozialstaat ausschließt. Die Spezifika sozialstaatlicher Gerechtigkeit dürfen deshalb
nicht von religiös oder moralisch begründeten sozialethischen Motiven her interpretiert
werden. So segensreich karitative, diakonische und andere Organisationen der freien Wohlfahrtspflege auf ihrem Gebiet wirken: Sie agieren im Bereich der Gesellschaft und werden
vom Prinzip des sozialen Staates nur insofern tangiert, als dieser Staat das Soziale weder
monopolisieren noch gänzlich delegieren darf. Zum zweiten zwingt die verfassungsrechtliche Freiheitsordnung dazu, den Staat des Grundgesetzes als freiheitlichen Sozialstaat zu begreifen und ihn nicht zum Gegenbegriff rechtsstaatlich-liberaler Grundrechtsfreiheit mutieren zu lassen. Vielmehr muß der Sozialstaat als Garant der Möglichkeit konzipiert werden,
Freiheitsrechte auch tatsächlich in Anspruch nehmen zu können. Um seinen Bürgern eine
solche, nicht nur de iure, sondern de facto existierende Möglichkeit garantieren zu können,
hat er die allgemeinen Voraussetzungen zum Gebrauch der Freiheitsgrundrechte zu gewährleisten, etwa durch eine soziale Wohnungspolitik, die auch Vermögenslose in den Besitz einer Wohnung und damit tatbestandlich in den Genuß des klassisch liberalen Abwehrrechts
aus Art. 13 Abs. 1 GG kommen läßt: „Die Wohnung ist unverletzlich“.
Das Bundesverfassungsgericht hat die schon früh erhobene Forderung „sozialer Gerechtigkeit“ in einer späteren Formulierung dahin präzisiert, „daß der Staat die Pflicht hat, für einen
Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“
(BVerfGE 22, 180/204). Diese verfassungsrechtliche Verbindung von sozialem Ausgleich und
sozialer Gerechtigkeit kann auch staatsphilosophisch als geglückt bezeichnet werden, weil
der Bezug auf den Ausgleich von sozialen Gegensätzen eine Absage an absolute Gerechtigkeitsideen bedeutet. „Gerechtigkeit“ verweist den Sozialstaat weder auf eine situationsunabhängige normative Zielvorgabe noch auf einen rechtlich verbindlichen Pflichtenkanon,
sondern auf eine im politisch-kommunikativen Prozeß und in angemessener Reaktion auf
die jeweilige gesellschaftliche Lage zu erfüllende Ordnungsaufgabe. Die Erfüllung dieser
Aufgabe obliegt in der gefestigten Verfassungstradition des Grundgesetzes dem Gesetzgeber.
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