Juristische Methoden- und Argumentationslehre

Professor Dr. Rolf Gröschner
Sommersemester 2015
Juristische Methoden- und Argumentationslehre
§ 9 Die Gerechtigkeit der Fallentscheidung
I.
Zur Gerechtigkeit gesetzgeberischer Entscheidungen
1. Gesetzgebung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes
a) Formelle und materielle Bindungen der Legislative
b) Politische Entscheidungsspielräume
2. Das parlamentarische „Zwischen“ als dialogisches Gerechtigkeitskriterium
a) Das „Zwischen“ in der Philosophie Martin Bubers
b) Das „Zwischen“ in einer sokratischen Philosophie des Dialogs
c) Das „Zwischen“ in einer politischen Philosophie des Parlamentarismus
II. Zur Gerechtigkeit richterlicher Entscheidungen
1. Gesetzesbindung und Unabhängigkeit des Richters
2. Richterliche Entscheidungsspielräume
3. Bedeutung des forensischen „Zwischen“
III. Zur Gerechtigkeit von Verwaltungsentscheidungen
1. Spielräume bei Subsumtionsentscheidungen
a) bei gebundenen Entscheidungen
b) bei Ermessensentscheidungen
2. Spielräume bei Abwägungsentscheidungen
a) bei Abwägungsentscheidungen außerhalb des Planungsrechts
b) bei planerischen Abwägungsentscheidungen
IV. Zur Kunst juristischer Entscheidungsfindung
1. Zum Begriff der Kunst („techne“)
a) Die hippokratische techne der Diagnose
b) Die sokratische techne des Dialogs
2. Zum Verhältnis dogmatischer Richtigkeit und lebensweltlicher Gerechtigkeit
a) Judiz und Rechtsgefühl im forensischen Dialog
b) Die Kunst richterlicher Rechtsfindung
Materialien zu § 9
1. Zur Gesetzgebung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes:
a) Formelle Bindungen des Gesetzgebers: Gesetzgebungskompetenz (Art. 70-74 GG auf der
Grundlage des Grundsatzes des Art. 30 GG; für Art. 31 GG den Vorrang der Art. 70 ff. GG
beachten!); Gesetzgebungsverfahren (Art. 76-78 GG; für Grundgesetzänderung Art. 79 GG,
für Rechtsverordnungen Art. 80 GG); Ausfertigung, Verkündung, Inkrafttreten (Art. 82).
b) Materielle Bindungen des Gesetzgebers: Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG als
wichtigste Reaktion auf Weimar; Stichwort: „Grundrechtsgeltung im Rahmen der Gesetze“
einerseits und „Gesetzgeltung im Rahmen der Grundrechte“ andererseits); Bindung an die
verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG).
c) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers: BVerfGE 4, 7 (17 f.) – Investitionshilfegesetz; BVerfGE
7, 377 (400) – Apotheken; BVerfGE 30, 292 (317 ff.) – Erdölbevorratung; BVerfGE 50, 290
(338) – Mitbestimmung; BVerfGE 88, 203 (262) – Schwangerschaftsabbruch: „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“.
2. Zur Philosophie der Gerechtigkeit im gewaltendifferenzierenden Staat des Grundgesetzes:
a) Martin Buber (1878-1965): „Ich gehe von einer einfachen realen Situation aus: zwei Menschen sind in einem echten Gespräch begriffen. Ich will den Tatbestand dieser Situation
aufnehmen. Es erweist sich, daß die geläufigen Kategorien dafür nicht ausreichen. Ich verzeichne: erstens die ‘physischen’ Phänomene der beiden redenden und sich gebärdenden
Menschen, zweitens die ‘psychischen’ Phänomene dessen, was dabei ‘in ihnen’ vorgeht;
aber das sinnhafte Gespräch selbst, das zwischen den beiden Menschen vor sich geht ... ist
unverzeichnet geblieben. Was ist seine Art, was ist sein Ort? Meine Bestandsaufnahme
kommt ohne die Kategorie, die ich das Zwischen nenne, nicht aus“ (P. A. Schilpp/M.
Friedmann, Martin Buber, 1963, S. 605).
b) Philosophiegeschichtlich gesehen ist es der „logos“ (der vernünftige Grund, die Vernunft)
i.S.d. frühen platonischen Dialoge (paradigmatisch: Laches), der im dialogischen „Zwischen“ zur Geltung kommt: „Zu seiner Fülle gelangt der Logos nicht in uns, sondern zwischen uns; denn er bedeutet die ewige Chance der Sprache, zwischen den Menschen wahr
zu werden“ (M. Buber, Werke, Bd. 1, 1962, S. 469).
c) Übertragen auf eine politische Philosophie des Parlamentarismus gewährleistet nicht schon
das Gesetzgebungsverfahren als solches die Gerechtigkeit gesetzlicher Regelungen, sondern erst die sachliche Auseinandersetzung um deren Gründe. Im dialogischen Prinzip
geht es dabei um nichts anderes als um den „logos“ im sokratisch-platonischen Sinne und
um die Herstellung eines vernünftigen „Zwischen“ im Sinne Bubers – was freilich die Pflege einer entsprechenden politischen Kultur voraussetzt.
d) Mit diesem „Zwischen“ lassen sich auch die Fragen forensischer (von „forum“, Gerichtsstätte) und exekutivischer Gerechtigkeit wenigstens im Prinzip lösen: Es geht um die subjektive Einstellung (die Haltung, den Charakter, das Ethos) und die objektiven (institutionellen) Bedingungen, durch die eine dialogisch offene Auseinandersetzung und eine abgewogene Entscheidung ermöglicht wird.
3. Zur Kunst juristischer Entscheidungsfindung:
a) In der hippokratischen Medizin bedeutet diagnostizieren (diagignoskein): den Fall als Fall
von ... zu erkennen und bei seinem Namen zu nennen. Dasselbe gilt für die juristische
Kunst (griechisch techne, lateinisch ars), den Einzelfall in die richtige Fallreihe einordnen,
z.B. eine Tötungshandlung als „grausam“ i.S.d. § 211 Abs. 2 StGB bezeichnen zu können.
b) Auch die sokratische „techne“ des Dialogs ist „Kunst“ in dem von Aristoteles präzisierten
Sinne: „Techne entsteht, wenn aus vielen Aussagen der Erfahrung (empeiria) eine allgemeine Auffassung über die ähnlichen Einzelfälle wird“ (Met. I 1 981a). An derselben Stelle
wird auch deutlich, daß die „allgemeine Auffassung“ im Wissen um den „logos“, um den
allgemeinen Grund für die jeweilige Entscheidung besteht. Für eine Techne ist daher jene
Vermittlung zwischen Allgemeinem und Einzelnem, Theorie und Praxis, Gesetz und Fall
charakteristisch, die bei der Behandlung der Hermeneutik (§ 10) im Vordergrund stehen
wird.