WURZELWERK – Ein Volkstheaterfestival Vorbemerkung Ein wesentlicher Teil der Theaterarbeiten im deutschen Amateurtheater beschäftigt sich mit dem weiten Feld des Volkstheaters. Ohne diesen Begriff an dieser Stelle einer ausdifferenzierten Analyse zu unterziehen oder ihn gegenüber dem Konzept der Bürgerbühne abzugrenzen, lässt sich feststellen, dass das Amateurtheater hier besondere Stärken entwickelt und Verdienste erworben hat. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf künstlerische Prozesse und Produktionen, die zu einer Stärkung der Breitenkultur als der Kultur im ländlichen Raum beitragen. Indem sich das Amateurtheater dem Volkstheater widmet, bezieht es sich in gewissem Sinne und unter einem bestimmten Aspekt auf eine lange zurückreichende Traditionslinie. Diese Theaterarbeiten stehen im Dialog mit der örtlichen Bevölkerung, der lokalen Geschichte und Gegenwart. Sie sind der regionalen kulturellen Identität, der Pflege des regionalen Brauchtums, der Mundart und des Dialekts verpflichtet. Die Stoffe wurzeln in den volkstümliche Mythen, den Sagen und Legenden, dem Alltag der Menschen. Es sind nicht nur die Passionsspiele die auf eine lange religiös-kulturelle Tradition verweisen. Die Vielfalt und Bandbreite des Volkstheaters ist groß. Von Shakespeare, über Historienspektakel bis hin zu den idealisierenden, volkstümelnden Schwänken, Possen und bäuerlich-ländlichen Heimatstücken. Auch sie wurzeln in einer überlieferten Vorstellung wie das Leben einmal gewesen sein könnte, gewesen sein sollte. Auch solche Theaterarbeiten reklamieren das Volkstheater für sich als Theater vom Volk, für das Volk und über das Volk. Bei allen regionalen und lokalen Unterschieden ließe sich bei eingehender und vergleichender Betrachtung eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten finden hinsichtlich der Genese der Stoffe, der Themenfindung, dem theatralen Personal oder der stilistischen Ausformung der Inhalte. So dass sich am Ende unter dem erweiterten Begriff „Volkstheater“ im deutschsprachigen Raum viele, wenn nicht alle wiederfinden können. Alle? Deutschland ist laut einer OECD – Studie nach den USA das zweitbeliebteste Einwanderungsland. In Deutschland haben 18,7 % der Bevölkerung einen Migrationshintergrund (knapp 16 Millionen haben einen Migrationshintergrund im engeren Sinne, knapp 7 Millionen gelten als Ausländer). Aufgrund des demographischen Wandels Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 1 wird der Anteil in Zukunft wachsen. Die größten Herkunftsländer bzw. Regionen sind die Türkei, Russland mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Polen, Italien sowie die Regionen Naher und Mittlerer Osten, Asien, Australien und Ozeanien. Was ist deren Volkstheater? Auf welchen Stoffen, Mythen und Spielformen wurzelt ihre Theatertradition? Was sind ihre Archetypen? Welche dieser Wurzeln wird von der postmigrantischen Generation aufgenommen und weitergeführt? Gibt es ein postmigrantisches Volkstheater? Kulturelle Identität? Multikultur? Interkultur? Transkultur? Unbestreitbar ist der Dialog der Kulturen eine unabdingbare Voraussetzung für gelingendes Zusammenleben. In diesem Kontext wird sehr gerne auf die Problematik der verschiedenen Traditionen und kulturellen Wurzeln verwiesen. Aber was genau verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Und wer wäre besser geeignet diese verschiedenen kulturellen Wurzeln einer eingehenden vergleichenden Betrachtung zu unterziehen als das lebendige Volkstheater? Die Idee des Festivals WURZELWERK ist es im Bereich des Amateurtheaters einen Dialog zwischen den verschiedenen kulturellen Wurzeln des oder der Volkstheater(s) aller in Deutschland lebenden Bevölkerungsgruppen herzustellen. WURZELWERK vom 30. April bis 3. Mai 2015 in Sulzbach / Saar „Dialekte sind Ausdruck von Arbeit, Landschaft und Gesellschaft. Dialekte sind Verhaltensweisen in der Sprache.“ Gemäß diesem Zitat von Franz Xaver Kroetz widmet sich WURZELWERK in seiner ersten Durchführung dem Mundarttheater als Volkstheater. Eingeladen sind sieben Theaterproduktionen begleitet von 2 - 4 praktischen Workshops und einer Podiumsdiskussion zum Thema „Volkstheater in der Einwanderungsgesellschaft“. Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 2 Die eingeladenen Inszenierungen und ihr Wurzelwerk Mysterienspiel Der Pakt mit dem Teufel. Theophilus in Not (Gertraud und Gerhard Berger nach Motiven von Helmut Glagla) - Theaterverein Rott am Inn Landschaft Rott am Inn, Bayern. 3.800 EW. Flaches, leicht welliges Alpenvorland am Rande des Inngraben. Inhalt Es ist die Geschichte von Theophilus, einem Priester, der sich aus gekränktem Ehrgeiz zur Erreichung seiner Ziele dem Teufel verschreibt. Er lässt von Jesus ab und sagt sich auch von der Gottesmutter los. Die Predigt eines anderen Priesters zeigt Theophilus, auf welchem verderblichen Weg er sich begeben hat. In seiner Not bittet er die Gottesmutter um Hilfe, die sie ihm nach einigem Zögern auch gibt. Mit ihrer Fürsprache bei Jesus und ihrer Macht über das Böse kann sie Theophilus aus dem Teufelsbann befreien. Wurzelwerk Wenn man so will, ist das Mysterienspiel eine der ältesten Wurzeln des Volkstheaters. Die Vorlage zu diesem Spiel geht auf byzantinische Zeit zurück und dürfte um die Mitte des 7. Jahrhunderts entstanden sein. Es ist eine Urform des Volkstheaters, indem es zentrale religiöse Motive in dramatischer Form für das gläubige Volk einfach, verständlich und in gewissem Sinne auch unterhaltsam vermittelt. Die Wurzel des religiösen Volkstheaters ist bis heute besonders in Bayern lebendig, man denke nur an die zahlreichen Passionsspiele. Sie ist lebendig, jedoch nicht ohne Wandel und Transformation, so stammt die Vorlage für die Bearbeitung durch den Theaterverein Rott am Inn aus dem Niederdeutschen. Volkskomödie Der verkaufte Großvater (Anton Hamik) – Volksbühne Hülzweiler Landschaft Hülzweiler, Saarland. 4.808 EW. Wald, Hügel und Halden, Hügelgräber. Inhalt Ein nicht umzubringendes Schlitzohr ist der Großvater, der beim armen Kreithofbauern lebt. Die Verpflegung des Großvaters kostet viel Geld, dieser dankt es aber nur mit seinem Schabernack. Der Haslingerbauer hätte aber gerne genau so einen Großvater. In seiner Not Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 3 verkauft ihm der Kreithofbauer den Großvater für 1000 Mark. Schon bald zeigt sich aber, dass Haslinger nicht aus Nächstenliebe handelte, sondern es nur auf das angebliche Erbe des Großvaters abgesehen hat. Doch da hat er die Rechnung ohne den Großvater gemacht, denn der stellt seine neue Bleibe erst einmal auf den Kopf und tyrannisiert Haslinger und seine Frau. Sein einziges Ziel ist es nämlich, die Kinder der beiden Familien zusammenzubringen. Wer schließlich den Großvater beerbt, das bleibt bis zum Schluss sein Geheimnis. Wurzelwerk Das Stück wird wahlweise u.a. als ländliches Lustspiel, Volkskomödie, bäuerliche Groteske, Bauernkomödie bezeichnet. So oder so ist das Stück ein Klassiker der Volkstheaterliteratur, gespielt in allen erdenklichen Mundarten. Also auch Moselfränkisch. Der Erfolg des Stückes beruht auch auf seinen Wurzeln in der Realität. Bis heute. Nachzulesen auf www.landwirt.com. Letztlich aber ist es die dramaturgische Qualität, die das Stück zu einem Archetyp der bäuerlichen Komödie macht und das Volkstheater an dieser Stelle salonfähig. Schwank Der kühne Schwimmer (Franz Arnold, Ernst Bach) – Theaterclub Elmar Landschaft Offenbach, Hessen. 109.223 EW. Ehemalige Industriestadt am Südufer des Main. Weniger Türme und Hochhäuser als Frankfurt a. M., aber mit Hafen. Inhalt: Generaldirektor Otto Häberlein wird als „kühner Schwimmer“ zum Lebensretter einer schönen jungen Frau. Aus Dankbarkeit und jugendlicher Naivität möchte diese sich dem reichen Junggesellen als Braut schenken. Was sie nicht ahnt ist, dass ihr vermeintlicher Held, der sie aus dem Gewässer errettete, überhaupt nicht schwimmen kann. Für die Rettung der Ertrinkenden bezahlte Otto nämlich den zufällig vorüberfahrenden Xaver Kraxentrager, der nach der Rettung ebenso schnell verschwand, wie er aufgetaucht war. Mit den Hochzeitsvorbereitungen nimmt die Verwicklung ihren Lauf: Am Tag der geplanten Hochzeit reist die Gerettete mit ihrer Mutter an. Im Schlepptau haben sie mit Fritz Neubauer den ehemaligen Verlobten des Mädchens, der gar nicht daran denkt, seine ehemalige Verlobte kampflos aufzugeben. Außerdem treffen sich im Haus des Bräutigams zum munteren Stelldichein die zwei Schwestern Häberleins, die als Trauzeugen fungieren sollen. Als noch der wahre Lebensretter der Braut, ein geldgieriger, derber Bursche aus Bayern die Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 4 Szenerie betritt ist die Verwirrung komplett. Zu allem Überfluss drängt auch der aufdringliche Nachbar Dr. Möbius auf eine Hochzeit. Er will seine Hundedame mit Ottos Teckel vermählen und vergrößert so das Durcheinander gewaltig, bevor es am Ende ein Happy-End mit gleich mehreren menschlichen und tierischen Pärchen gibt. Wurzelwerk [ʃvaŋk] lt. [Wikipedia]: Schwank: Wiedergabe einer komischen Handlung mit komischen Personen und Situationen. Schwank: im späten Mittelalter und bes. 16. Jh. scherzhafte Erzählung oder possenhafte kurze Komödie, volkstümlich, oft sehr derb, mitunter sogar zotenhaft, in der Mehrzahl zu sog. Schwankbüchern zusammengefasst. Schwank: Er dient nicht der Verspottung wie die Komödie, nicht der großen Heiterkeit wie das Lustspiel, nicht der derben Ausgelassenheit wie die Posse, sondern er bietet leichten Humor, harmlose Heiterkeit ohne Problematik, unbeschwerte Fröhlichkeit. Der Erzählstil ist sehr geradlinig, aus diesem Grunde ist der Schwank für die kurzweilige Unterhaltung gut geeignet. Über 90 Jahre alt ist dieser Schwank. Er ist in gewisser Weise die bürgerliche, städtische Fortführung des Volkstheaters in der Moderne. Adaption eines Gegenwartsstückes Bagger (Henning Mankell) – Schleswiger Speeldeel Landschaft Schleswig, Schleswig – Holstein. 23.635 EW. Nachbarort der Wikingerstadt Haithabu an der Schlei (Meeresarm der Ostsee). Die Einordnung als Förde ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte umstritten. Nach der gängigen Lehrmeinung handelt es sich um eine Glaziale Rinne, jedoch nicht um einen Fjord. Weideland mit Knicks. Die Bäume tragen eine Windschur. Insgesamt viel hügeliger als man weiter südlich denkt. Inhalt Der Baggerführer Rune sitzt in einem Pub und wartet auf seine Verabredung. Um das Warten zu überbrücken, plaudert er, erzählt von seinem Leben, von seinen Sorgen und von seinem Bagger. Verächtlich erhebt er sich über die einsamen Männer seines Alters und gibt fortwährend gutgemeinte Ratschläge. Einen gestandenen Eindruck macht er, solide und zuverlässig. Irgendwann einmal wäre er fast Fußballprofi geworden. Aber nur fast. 49 % eines Baggers kauft er nach der Hochzeit. Die ernähren ihn und seine Familie. Das Leben Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 5 war leicht und bequem. Bis ihn Frau und Kinder verließen. Sextourismus in Thailand, Kontaktanzeigen. Er scheitert. Mit Glatze bist du nichts bei den Frauen. Und jetzt erwartet er ´ne heiße Lady. Scheinbar. Letztendlich kommt sie nicht. Wird sie nie kommen. "Die kommt nicht. Ich weiß nicht einmal ihren beschissenen Namen. Man braucht jemanden, auf den man warten kann. Auch wenn es nur ein Zeitungsausschnitt ist. Wie soll man sonst leben. (Er zückt einige Geldnoten und legt sie auf die Theke.) Stimmt so. Aber du solltest neu streichen. (Die Cellistin intoniert "Blueberry Hill". Das Licht verändert die Stimmung. Alles hält still. Rune F. Lindgren singt mit Inbrunst "Blueberry Hill.) Man braucht jemanden, auf den man warten kann. Sonst geht es nicht ... Echt nicht." Wurzelwerk Lässt sich jedes Theaterstück in jede Mundart übertragen? Nicht nur die Sprache ist Ausdruck einer Landschaft. Auch das Theaterstück, der Stoff hat seine eigene Topographie. Wie stark muss der Stoff im Lokalen verwurzelt sein? Um 900 eroberten Schweden das Gebiet um Schleswig. Liegen hier die gemeinsamen Wurzeln? Mankells Werk ist lokal und global zugleich. Wie aber verändert sich seine Literatur durch die Mundart? Niederdeutsch als immaterielles Kulturerbe trifft hier auf den entwurzelten Menschen. In weiter Ferne, so nah. Eine universelle Figur wird konkret im Lokalen. Postmigrantisches Volkstheater 90-60-90 Rollenscheiß (Eigenproduktion) – JugendtheaterBüro Berlin Landschaft Berlin, Berlin. 3.420.786 EW. Drei Flüsse, ein Fernsehturm, rotes Rathaus und rotes Kaufhaus, Schuttberge, sonst flach, meist 4 -5 stöckige Alt- und Neubauten, windig. Inhalt „Sei eine Lady! Sei niedlich! Sei schwach! Putz! Koch! Krieg Kinder! Aber vergiss deine Arbeit nicht! Und dabei bitte immer gut aussehen!“ Sechs Freundinnen verlaufen sich in die pinke Barbie-Welt am Berliner Alexanderplatz. Was als spaßiger Ausflug beginnt, entwickelt sich zu einem Alptraum und zeigt die Welt hinter der Barbie-Fiktion. Nach und nach entdecken die Mädchen immer mehr die erschreckende Realität der beengenden Rollenbilder, die sich hinter den Stationen im Barbiehaus auftun: Zerrüttete Ehen, beengende Geschlechterrollen, die zerstörerische Realität der Supermodels - die scheinbar westlich-emanzipierte Frau im Kontrast zur Muslima. Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 6 Wurzelwerk Kiezdeutsch ist eine sehr junge Mundart. Und so auch die Auffassung von Volkstheater des Jugendtheaterbüros. Es ist ein langer Weg vom Mysterienspiel bis hierher, in das postmoderne, postmigrantische Berlin. Die Stadt ist kein ländliches Idyll und auch kein heiliger Ort. Aber es gibt nicht viele populärere Orte als Berlin Alexanderplatz. Hier stehen die Tempel des Konsums, hier huldigt man dem Fetisch und unterwirft sich dem Diktat der Mode. Rollenzwang. Hier erlebt man komische Handlungen mit komischen Personen in komischen Situationen. „Oft sehr derb, mitunter sogar zotenhaft“ werden Rollenbilder hinterfragt, Klischees zerstört. Kritisches Volkstheater Umsonschd isch dr Dod (Manfred Eichhorn) – Theater Emerkingen Landschaft Emerkingen, Baden – Württemberg. 817 EW. Zwischen Donau und Bodensee, am Fuße des Bussen (767 m). Felder und Wälder. Inhalt Jakob und Isabelle, zwei Menschen, die auf der Karriereleiter ihres Lebens ganz unten hängengeblieben sind, resümieren an einem Tag im Spätherbst auf einer Parkbank ihr Leben. Es ist von Niederlagen und nicht erfüllten Hoffnungen geprägt. Jakob, der politische Schwärmer von einst, Isabelle, die in der Ehe ihr Glück gesucht und nur Schläge gefunden hat, haben sich auf dem Abstellgleis der Gesellschaft gefunden. In ihren letzten Augenblicken erkennt Isabelle, dass ihr dieses Leben neben all den Traumata auch Wahrheiten und Einsichten, Kurioses und Schönes beschert hat – und zuletzt sogar etwas, wonach sie sich ein Leben lang gesehnt hat: Liebe. Wurzelwerk Wie man spätestens seit dem erfolgreichen Werbeslogan weiß, speist sich alles Können der Menschen in Baden – Württemberg aus ihrer Mundart. Alles ist wandelbar, erlernbar, änderbar, - außer ihrer Sprache. Sie ist die Wurzel, der Ausgangspunkt von der aus der Blick in die Welt geht. Richtet man den Blick auf Schwaben, so erscheint das Ländle sparsam, sauber, fleißig, erfolgreich. „Schaffe, schaffe Häusle baue“. In der Sprache deutet sich ein Lebensprinzip an. Hier scheint kein Platz für Scheitern. Was aber wenn alles „umsonschd“ ist? Das Theater Emerkingen wagt den kritischen Blick und stellt die Frage, was bleibt von den Wurzeln, wenn das „Schaffe, schaffe Häusle baue“ nicht mehr gelingt. Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 7 Türkisches Schattentheater Almanya yolculugu und Herr Nixverstehen (Ein Stück in 2 Teilen) – Ali & Erhan Köken Landschaft Grevenbroich, Nordrhein-Westfalen. 61.891 EW. In der Kölner Bucht an der Erft gelegen. Zwei Braunkohlekraftwerke. Angrenzende Braunkohleförderung. Künstlichen Anhöhen, renaturierte Abraumhalden, Vollrather Höhe und Gustorfer Höhe. In einem Gebiet nahe der Kraftwerke wurden für die Region ungewöhnliche Orchideen (Helm-Knabenkraut , MückenHändelwurz) entdeckt. In der Erft werden neben Piranhas immer wieder eigentlich in Nordamerika beheimatete Sonnenbarsche gefischt. Inhalt Teil I: Hacivat möchte mit Karagöz nach Deutschland, um das Land besser kennen zu lernen. Doch bevor sie mit ihrer Reise beginnen, findet Karagöz heraus, dass Hacivat deutsch kann und möchte die Sprache nun auch lernen. Doch egal was Hacivat Karagöz beibringt, versteht dieser die Worte falsch und übersetzt sie nach seinem eigenen Ermessen frei. Teil II: Hacivats Onkel, der in Deutschland lebt, stirbt und Hacivat möchte zur Beerdigung, so fahren beide mit dem Zug nach Deutschland und stellen fest, dass Deutschland anders ist als ihre Heimat, so sehen sie ein Auto, was sie noch nie zuvor gesehen haben und auch eine Fabrik. Auf die Frage, wem denn diese Sachen gehören, antwortet Hacivat, dass man doch die Leute auf der Straße fragen sollte. Karagöz, verwirrt von dieser Idee, fragt sich dann, ob die Deutschen denn türkisch verstehen, so antwortet Hacivat, dass alle türkisch verstehen, denn man könne türkisch sprechen, wenn man auf die Welt kommt, das wäre wie mit dem Schwimmen. Von dieser Aussage überzeugt, spricht Karagöz die Leute auf der Straße türkisch an, doch diese Antworten mit "Nixverstehen", Karagöz und Hacivat denken nun, dass alles, was sie sehen einem Herren Nixverstehen gehört und wollen diesen Herren finden. Wurzelwerk Als traditionelles türkisches Schattentheater ist das Karagöztheater schon seit dem 16. Jahrhundert ein Mittel soziale und gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen. Durch die Gegensätze der Figuren konnte sich sowohl das gemeine Volk als auch die „high society“ am Hof des Sultans im Osmanischen mit den Charakteren identifizieren und über die satirischen Dialoge lachen. Auch heute noch erfreut sich das Karagöztheater einer ähnlichen Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 8 Beliebtheit wie das Kasperletheater in Deutschland. Die Thematik der Karagöz-Stücke ist aber nicht nur ein Beispiel für die Unterschiede innerhalb eines Landes und seiner gesellschaftlichen Schichten, sondern auch für die mitunter schwierige Völkerverständigung. In seiner Rolle als gebildeter Gegenpart zum grobschlächtigen Karagöz gebraucht Hacivat gern Fremdwörter, die für allerlei Missverständnisse und Verwirrungen sorgen. Die Auswahl der Gruppen wurde wesentlich von folgenden Parametern bestimmt: Geographische Verteilung Vielfalt der Mundarten Vielfalt der Volkstheaterformen Schleswig – Holstein Niederdeutsch (Plattdeutsch) Adaption eines Gegenwartsstückes Nordrhein – Westfalen Kiezdeutsch Eigenproduktion Berlin Moselfränkisch Klassisches Volkstheater Hessisch Schwank Schwäbisch Kritisches Volkstheater Bayerisch Mysterienspiel Saarland Hessen Baden-Württemberg Türkisches Schattentheater Bayern Podiumsdiskussion „Volkstheater in der Einwanderungsgesellschaft“ War die Diskussion „Vom Volk? Fürs Volk? Was ist Volkstheater?“ anlässlich des amarena Preisträgerfestivals 2014 geprägt vom Versuch einer Begriffsklärung, so steht diesmal das Verhältnis Volkstheater und Einwanderungsgesellschaft im Zentrum der Debatte. Unstreitig gilt Volkstheater als Ausdruck kultureller Identität. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies im Mundarttheater. Wenn Kroetz also schreibt „Dialekte sind Ausdruck von Arbeit, Landschaft und Gesellschaft. Dialekte sind Verhaltensweisen in der Sprache“, dann skizziert er damit wesentliche identitätsstiftende kulturelle Prägungen. Die von Kroetz beschriebenen Verflechtungen, das Wurzelwerk, scheinen auch im immer wiederkehrenden Topos „Heimat“ auf, der wie kein zweiter die Geschichte und das Image des Volkstheaters prägen. So gibt es beispielsweise in der Schweiz seit 100 Jahren sogenannte Heimatschutztheater. In Deutschland ruft eine derartige Bezeichnung Assoziationen zum Kulturverständnis der Nationalsozialisten hervor. Aber ganz aktuell führt das Diktum „Volkstheater ist Theater vom Volk fürs Volk“ (Siehe Podiumsdiskussion anlässlich amarena 2014) und der von den Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 9 Pegida-Anhängern reklamierte bzw. usurpierte Satz „Wir sind das Volk“ zu einer fatalen begrifflichen Nähe und eventuell zu einem inhaltlichen Vorurteil, was das traditionelle Volksund Mundarttheater angeht. Ist das so? Ist das (traditionelle) Volkstheater nationalkonservativ? Welches Gesellschaftsbild zeichnet sich in den (theatralen) Verhaltensweisen des Mundarttheaters ab? Welche künstlerische Sprache spricht das Volkstheater heute? Wo kommt diese Sprache her? Wen und warum schließt Mundarttheater ein oder aus? Und in welchem Verhältnis stehen Volkstheater und Transkultur 2015? Diese Fragestellungen werden am Ende des Festivals den Ausgangspunkt für die Podiumsdiskussion „Volkstheater in der Einwanderungsgesellschaft“ bilden. Mit diesem bundesweit bisher einmaligen Festival leistet das Amateurtheater einen wichtigen öffentlichen Beitrag zum Dialog der Kulturen und damit zur Integrationsdebatte im Einwanderungsland Deutschland. Vom 30. April bis 3. Mai begegnen sich in Sulzbach / Saar Gruppen, denen in der (ver-)öffentlichten Meinung eine eher unversöhnliche, gesellschaftliche Opposition zugeschrieben wird. Wertkonservativ – postmigrantisch, Stadt – Land, alt – jung, Tradition – Avantgarde, Vergangenheit und Gegenwart. Das Festival Wurzelwerk versetzt diese scheinbar konträren Begriffspaare, die sehr aktuell die gesellschaftliche und kulturelle Debatte prägen, miteinander in einen nicht nur künstlerischen Dialog. Wurzelwerk – Ein Volkstheaterfestival, Kontakt und Informationen unter www.bdat.info 10
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