WURZELWERK - Bund Deutscher Amateurtheater

WURZELWERK – Ein Volkstheaterfestival
Vorbemerkung
Ein wesentlicher Teil der Theaterarbeiten im deutschen Amateurtheater beschäftigt sich mit
dem weiten Feld des Volkstheaters. Ohne diesen Begriff an dieser Stelle einer
ausdifferenzierten Analyse zu unterziehen oder ihn gegenüber dem Konzept der
Bürgerbühne abzugrenzen, lässt sich feststellen, dass das Amateurtheater hier besondere
Stärken entwickelt und Verdienste erworben hat. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf
künstlerische Prozesse und Produktionen, die zu einer Stärkung der Breitenkultur als der
Kultur im ländlichen Raum beitragen.
Indem sich das Amateurtheater dem Volkstheater widmet, bezieht es sich in gewissem Sinne
und unter einem bestimmten Aspekt auf eine lange zurückreichende Traditionslinie. Diese
Theaterarbeiten stehen im Dialog mit der örtlichen Bevölkerung, der lokalen Geschichte und
Gegenwart. Sie sind der regionalen kulturellen Identität, der Pflege des regionalen
Brauchtums, der Mundart und des Dialekts verpflichtet. Die Stoffe wurzeln in den
volkstümliche Mythen, den Sagen und Legenden, dem Alltag der Menschen. Es sind nicht
nur die Passionsspiele die auf eine lange religiös-kulturelle Tradition verweisen. Die Vielfalt
und Bandbreite des Volkstheaters ist groß. Von Shakespeare, über Historienspektakel bis
hin zu den idealisierenden, volkstümelnden Schwänken, Possen und bäuerlich-ländlichen
Heimatstücken. Auch sie wurzeln in einer überlieferten Vorstellung wie das Leben einmal
gewesen sein könnte, gewesen sein sollte. Auch solche Theaterarbeiten reklamieren das
Volkstheater für sich als Theater vom Volk, für das Volk und über das Volk.
Bei allen regionalen und lokalen Unterschieden ließe sich bei eingehender und
vergleichender Betrachtung eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten finden hinsichtlich der
Genese der Stoffe, der Themenfindung, dem theatralen Personal oder der stilistischen
Ausformung der Inhalte. So dass sich am Ende unter dem erweiterten Begriff „Volkstheater“
im deutschsprachigen Raum viele, wenn nicht alle wiederfinden können.
Alle?
Deutschland ist laut einer OECD – Studie nach den USA das zweitbeliebteste
Einwanderungsland. In Deutschland haben 18,7 % der Bevölkerung einen
Migrationshintergrund (knapp 16 Millionen haben einen Migrationshintergrund im engeren
Sinne, knapp 7 Millionen gelten als Ausländer). Aufgrund des demographischen Wandels
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wird der Anteil in Zukunft wachsen. Die größten Herkunftsländer bzw. Regionen sind die
Türkei, Russland mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Polen, Italien sowie die
Regionen Naher und Mittlerer Osten, Asien, Australien und Ozeanien.
Was ist deren Volkstheater? Auf welchen Stoffen, Mythen und Spielformen wurzelt ihre
Theatertradition? Was sind ihre Archetypen?
Welche dieser Wurzeln wird von der postmigrantischen Generation aufgenommen und
weitergeführt? Gibt es ein postmigrantisches Volkstheater?
Kulturelle Identität? Multikultur? Interkultur? Transkultur? Unbestreitbar ist der Dialog der
Kulturen eine unabdingbare Voraussetzung für gelingendes Zusammenleben. In diesem
Kontext wird sehr gerne auf die Problematik der verschiedenen Traditionen und kulturellen
Wurzeln verwiesen. Aber was genau verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Und wer wäre
besser geeignet diese verschiedenen kulturellen Wurzeln einer eingehenden vergleichenden
Betrachtung zu unterziehen als das lebendige Volkstheater?
Die Idee des Festivals WURZELWERK ist es im Bereich des Amateurtheaters einen Dialog
zwischen den verschiedenen kulturellen Wurzeln des oder der Volkstheater(s) aller in
Deutschland lebenden Bevölkerungsgruppen herzustellen.
WURZELWERK vom 30. April bis 3. Mai 2015 in Sulzbach / Saar
„Dialekte sind Ausdruck von Arbeit, Landschaft und Gesellschaft. Dialekte sind
Verhaltensweisen in der Sprache.“
Gemäß diesem Zitat von Franz Xaver Kroetz widmet sich WURZELWERK in seiner ersten
Durchführung dem Mundarttheater als Volkstheater.
Eingeladen sind sieben Theaterproduktionen begleitet von 2 - 4 praktischen Workshops und
einer Podiumsdiskussion zum Thema „Volkstheater in der Einwanderungsgesellschaft“.
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Die eingeladenen Inszenierungen und ihr Wurzelwerk
Mysterienspiel
Der Pakt mit dem Teufel. Theophilus in Not (Gertraud und Gerhard Berger nach
Motiven von Helmut Glagla) - Theaterverein Rott am Inn
Landschaft
Rott am Inn, Bayern. 3.800 EW. Flaches, leicht welliges Alpenvorland am Rande des
Inngraben.
Inhalt
Es ist die Geschichte von Theophilus, einem Priester, der sich aus gekränktem Ehrgeiz zur
Erreichung seiner Ziele dem Teufel verschreibt. Er lässt von Jesus ab und sagt sich auch
von der Gottesmutter los. Die Predigt eines anderen Priesters zeigt Theophilus, auf welchem
verderblichen Weg er sich begeben hat. In seiner Not bittet er die Gottesmutter um Hilfe, die
sie ihm nach einigem Zögern auch gibt. Mit ihrer Fürsprache bei Jesus und ihrer Macht über
das Böse kann sie Theophilus aus dem Teufelsbann befreien.
Wurzelwerk
Wenn man so will, ist das Mysterienspiel eine der ältesten Wurzeln des Volkstheaters. Die
Vorlage zu diesem Spiel geht auf byzantinische Zeit zurück und dürfte um die Mitte des 7.
Jahrhunderts entstanden sein. Es ist eine Urform des Volkstheaters, indem es zentrale
religiöse Motive in dramatischer Form für das gläubige Volk einfach, verständlich und in
gewissem Sinne auch unterhaltsam vermittelt. Die Wurzel des religiösen Volkstheaters ist bis
heute besonders in Bayern lebendig, man denke nur an die zahlreichen Passionsspiele. Sie
ist lebendig, jedoch nicht ohne Wandel und Transformation, so stammt die Vorlage für die
Bearbeitung durch den Theaterverein Rott am Inn aus dem Niederdeutschen.
Volkskomödie
Der verkaufte Großvater (Anton Hamik) – Volksbühne Hülzweiler
Landschaft
Hülzweiler, Saarland. 4.808 EW. Wald, Hügel und Halden, Hügelgräber.
Inhalt
Ein nicht umzubringendes Schlitzohr ist der Großvater, der beim armen Kreithofbauern lebt.
Die Verpflegung des Großvaters kostet viel Geld, dieser dankt es aber nur mit seinem
Schabernack. Der Haslingerbauer hätte aber gerne genau so einen Großvater. In seiner Not
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verkauft ihm der Kreithofbauer den Großvater für 1000 Mark. Schon bald zeigt sich aber,
dass Haslinger nicht aus Nächstenliebe handelte, sondern es nur auf das angebliche Erbe
des Großvaters abgesehen hat. Doch da hat er die Rechnung ohne den Großvater gemacht,
denn der stellt seine neue Bleibe erst einmal auf den Kopf und tyrannisiert Haslinger und
seine Frau. Sein einziges Ziel ist es nämlich, die Kinder der beiden Familien
zusammenzubringen. Wer schließlich den Großvater beerbt, das bleibt bis zum Schluss sein
Geheimnis.
Wurzelwerk
Das Stück wird wahlweise u.a. als ländliches Lustspiel, Volkskomödie, bäuerliche Groteske,
Bauernkomödie bezeichnet. So oder so ist das Stück ein Klassiker der Volkstheaterliteratur,
gespielt in allen erdenklichen Mundarten. Also auch Moselfränkisch. Der Erfolg des Stückes
beruht auch auf seinen Wurzeln in der Realität. Bis heute. Nachzulesen auf
www.landwirt.com. Letztlich aber ist es die dramaturgische Qualität, die das Stück zu einem
Archetyp der bäuerlichen Komödie macht und das Volkstheater an dieser Stelle salonfähig.
Schwank
Der kühne Schwimmer (Franz Arnold, Ernst Bach) – Theaterclub Elmar
Landschaft
Offenbach, Hessen. 109.223 EW. Ehemalige Industriestadt am Südufer des Main. Weniger
Türme und Hochhäuser als Frankfurt a. M., aber mit Hafen.
Inhalt:
Generaldirektor Otto Häberlein wird als „kühner Schwimmer“ zum Lebensretter einer
schönen jungen Frau. Aus Dankbarkeit und jugendlicher Naivität möchte diese sich dem
reichen Junggesellen als Braut schenken. Was sie nicht ahnt ist, dass ihr vermeintlicher
Held, der sie aus dem Gewässer errettete, überhaupt nicht schwimmen kann. Für die
Rettung der Ertrinkenden bezahlte Otto nämlich den zufällig vorüberfahrenden Xaver
Kraxentrager, der nach der Rettung ebenso schnell verschwand, wie er aufgetaucht war.
Mit den Hochzeitsvorbereitungen nimmt die Verwicklung ihren Lauf: Am Tag der geplanten
Hochzeit reist die Gerettete mit ihrer Mutter an. Im Schlepptau haben sie mit Fritz Neubauer
den ehemaligen Verlobten des Mädchens, der gar nicht daran denkt, seine ehemalige
Verlobte kampflos aufzugeben. Außerdem treffen sich im Haus des Bräutigams zum
munteren Stelldichein die zwei Schwestern Häberleins, die als Trauzeugen fungieren sollen.
Als noch der wahre Lebensretter der Braut, ein geldgieriger, derber Bursche aus Bayern die
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Szenerie betritt ist die Verwirrung komplett. Zu allem Überfluss drängt auch der aufdringliche
Nachbar Dr. Möbius auf eine Hochzeit. Er will seine Hundedame mit Ottos Teckel vermählen
und vergrößert so das Durcheinander gewaltig, bevor es am Ende ein Happy-End mit gleich
mehreren menschlichen und tierischen Pärchen gibt.
Wurzelwerk
[ʃvaŋk] lt. [Wikipedia]: Schwank: Wiedergabe einer komischen Handlung mit komischen
Personen und Situationen.
Schwank: im späten Mittelalter und bes. 16. Jh. scherzhafte Erzählung oder possenhafte
kurze Komödie, volkstümlich, oft sehr derb, mitunter sogar zotenhaft, in der Mehrzahl zu sog.
Schwankbüchern zusammengefasst.
Schwank: Er dient nicht der Verspottung wie die Komödie, nicht der großen Heiterkeit wie
das Lustspiel, nicht der derben Ausgelassenheit wie die Posse, sondern er bietet leichten
Humor, harmlose Heiterkeit ohne Problematik, unbeschwerte Fröhlichkeit.
Der Erzählstil ist sehr geradlinig, aus diesem Grunde ist der Schwank für die kurzweilige
Unterhaltung gut geeignet.
Über 90 Jahre alt ist dieser Schwank. Er ist in gewisser Weise die bürgerliche, städtische
Fortführung des Volkstheaters in der Moderne.
Adaption eines Gegenwartsstückes
Bagger (Henning Mankell) – Schleswiger Speeldeel
Landschaft
Schleswig, Schleswig – Holstein. 23.635 EW. Nachbarort der Wikingerstadt Haithabu an der
Schlei (Meeresarm der Ostsee). Die Einordnung als Förde ist aufgrund ihrer
Entstehungsgeschichte umstritten. Nach der gängigen Lehrmeinung handelt es sich um eine
Glaziale Rinne, jedoch nicht um einen Fjord. Weideland mit Knicks. Die Bäume tragen eine
Windschur. Insgesamt viel hügeliger als man weiter südlich denkt.
Inhalt
Der Baggerführer Rune sitzt in einem Pub und wartet auf seine Verabredung. Um das
Warten zu überbrücken, plaudert er, erzählt von seinem Leben, von seinen Sorgen und von
seinem Bagger. Verächtlich erhebt er sich über die einsamen Männer seines Alters und gibt
fortwährend gutgemeinte Ratschläge. Einen gestandenen Eindruck macht er, solide und
zuverlässig. Irgendwann einmal wäre er fast Fußballprofi geworden. Aber nur fast. 49 %
eines Baggers kauft er nach der Hochzeit. Die ernähren ihn und seine Familie. Das Leben
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war leicht und bequem. Bis ihn Frau und Kinder verließen. Sextourismus in Thailand,
Kontaktanzeigen. Er scheitert. Mit Glatze bist du nichts bei den Frauen. Und jetzt erwartet er
´ne heiße Lady. Scheinbar. Letztendlich kommt sie nicht. Wird sie nie kommen. "Die kommt
nicht. Ich weiß nicht einmal ihren beschissenen Namen. Man braucht jemanden, auf den
man warten kann. Auch wenn es nur ein Zeitungsausschnitt ist. Wie soll man sonst leben.
(Er zückt einige Geldnoten und legt sie auf die Theke.) Stimmt so. Aber du solltest neu
streichen. (Die Cellistin intoniert "Blueberry Hill". Das Licht verändert die Stimmung. Alles hält
still. Rune F. Lindgren singt mit Inbrunst "Blueberry Hill.) Man braucht jemanden, auf den
man warten kann. Sonst geht es nicht ... Echt nicht."
Wurzelwerk
Lässt sich jedes Theaterstück in jede Mundart übertragen? Nicht nur die Sprache ist
Ausdruck einer Landschaft. Auch das Theaterstück, der Stoff hat seine eigene Topographie.
Wie stark muss der Stoff im Lokalen verwurzelt sein? Um 900 eroberten Schweden das
Gebiet um Schleswig. Liegen hier die gemeinsamen Wurzeln? Mankells Werk ist lokal und
global zugleich. Wie aber verändert sich seine Literatur durch die Mundart? Niederdeutsch
als immaterielles Kulturerbe trifft hier auf den entwurzelten Menschen. In weiter Ferne, so
nah. Eine universelle Figur wird konkret im Lokalen.
Postmigrantisches Volkstheater
90-60-90 Rollenscheiß (Eigenproduktion) – JugendtheaterBüro Berlin
Landschaft
Berlin, Berlin. 3.420.786 EW. Drei Flüsse, ein Fernsehturm, rotes Rathaus und rotes
Kaufhaus, Schuttberge, sonst flach, meist 4 -5 stöckige Alt- und Neubauten, windig.
Inhalt
„Sei eine Lady! Sei niedlich! Sei schwach! Putz! Koch! Krieg Kinder! Aber vergiss deine
Arbeit nicht! Und dabei bitte immer gut aussehen!“
Sechs Freundinnen verlaufen sich in die pinke Barbie-Welt am Berliner Alexanderplatz. Was
als spaßiger Ausflug beginnt, entwickelt sich zu einem Alptraum und zeigt die Welt hinter der
Barbie-Fiktion. Nach und nach entdecken die Mädchen immer mehr die erschreckende
Realität der beengenden Rollenbilder, die sich hinter den Stationen im Barbiehaus auftun:
Zerrüttete Ehen, beengende Geschlechterrollen, die zerstörerische Realität der Supermodels
- die scheinbar westlich-emanzipierte Frau im Kontrast zur Muslima.
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Wurzelwerk
Kiezdeutsch ist eine sehr junge Mundart. Und so auch die Auffassung von Volkstheater des
Jugendtheaterbüros. Es ist ein langer Weg vom Mysterienspiel bis hierher, in das
postmoderne, postmigrantische Berlin. Die Stadt ist kein ländliches Idyll und auch kein
heiliger Ort. Aber es gibt nicht viele populärere Orte als Berlin Alexanderplatz. Hier stehen
die Tempel des Konsums, hier huldigt man dem Fetisch und unterwirft sich dem Diktat der
Mode. Rollenzwang. Hier erlebt man komische Handlungen mit komischen Personen in
komischen Situationen. „Oft sehr derb, mitunter sogar zotenhaft“ werden Rollenbilder
hinterfragt, Klischees zerstört.
Kritisches Volkstheater
Umsonschd isch dr Dod (Manfred Eichhorn) – Theater Emerkingen
Landschaft
Emerkingen, Baden – Württemberg. 817 EW. Zwischen Donau und Bodensee, am Fuße des
Bussen (767 m). Felder und Wälder.
Inhalt
Jakob und Isabelle, zwei Menschen, die auf der Karriereleiter ihres Lebens ganz unten
hängengeblieben sind, resümieren an einem Tag im Spätherbst auf einer Parkbank ihr
Leben. Es ist von Niederlagen und nicht erfüllten Hoffnungen geprägt. Jakob, der politische
Schwärmer von einst, Isabelle, die in der Ehe ihr Glück gesucht und nur Schläge gefunden
hat, haben sich auf dem Abstellgleis der Gesellschaft gefunden. In ihren letzten
Augenblicken erkennt Isabelle, dass ihr dieses Leben neben all den Traumata auch
Wahrheiten und Einsichten, Kurioses und Schönes beschert hat – und zuletzt sogar etwas,
wonach sie sich ein Leben lang gesehnt hat: Liebe.
Wurzelwerk
Wie man spätestens seit dem erfolgreichen Werbeslogan weiß, speist sich alles Können der
Menschen in Baden – Württemberg aus ihrer Mundart. Alles ist wandelbar, erlernbar,
änderbar, - außer ihrer Sprache. Sie ist die Wurzel, der Ausgangspunkt von der aus der Blick
in die Welt geht. Richtet man den Blick auf Schwaben, so erscheint das Ländle sparsam,
sauber, fleißig, erfolgreich. „Schaffe, schaffe Häusle baue“. In der Sprache deutet sich ein
Lebensprinzip an. Hier scheint kein Platz für Scheitern. Was aber wenn alles „umsonschd“
ist? Das Theater Emerkingen wagt den kritischen Blick und stellt die Frage, was bleibt von
den Wurzeln, wenn das „Schaffe, schaffe Häusle baue“ nicht mehr gelingt.
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Türkisches Schattentheater
Almanya yolculugu und Herr Nixverstehen (Ein Stück in 2 Teilen) – Ali & Erhan Köken
Landschaft
Grevenbroich, Nordrhein-Westfalen. 61.891 EW. In der Kölner Bucht an der Erft gelegen.
Zwei Braunkohlekraftwerke. Angrenzende Braunkohleförderung. Künstlichen Anhöhen,
renaturierte Abraumhalden, Vollrather Höhe und Gustorfer Höhe. In einem Gebiet nahe der
Kraftwerke wurden für die Region ungewöhnliche Orchideen (Helm-Knabenkraut , MückenHändelwurz) entdeckt. In der Erft werden neben Piranhas immer wieder eigentlich in
Nordamerika beheimatete Sonnenbarsche gefischt.
Inhalt
Teil I: Hacivat möchte mit Karagöz nach Deutschland, um das Land besser kennen zu
lernen. Doch bevor sie mit ihrer Reise beginnen, findet Karagöz heraus, dass Hacivat
deutsch kann und möchte die Sprache nun auch lernen. Doch egal was Hacivat Karagöz
beibringt, versteht dieser die Worte falsch und übersetzt sie nach seinem eigenen Ermessen
frei.
Teil II: Hacivats Onkel, der in Deutschland lebt, stirbt und Hacivat möchte zur Beerdigung, so
fahren beide mit dem Zug nach Deutschland und stellen fest, dass Deutschland anders ist
als ihre Heimat, so sehen sie ein Auto, was sie noch nie zuvor gesehen haben und auch eine
Fabrik. Auf die Frage, wem denn diese Sachen gehören, antwortet Hacivat, dass man doch
die Leute auf der Straße fragen sollte. Karagöz, verwirrt von dieser Idee, fragt sich dann, ob
die Deutschen denn türkisch verstehen, so antwortet Hacivat, dass alle türkisch verstehen,
denn man könne türkisch sprechen, wenn man auf die Welt kommt, das wäre wie mit dem
Schwimmen. Von dieser Aussage überzeugt, spricht Karagöz die Leute auf der Straße
türkisch an, doch diese Antworten mit "Nixverstehen", Karagöz und Hacivat denken nun,
dass alles, was sie sehen einem Herren Nixverstehen gehört und wollen diesen Herren
finden.
Wurzelwerk
Als traditionelles türkisches Schattentheater ist das Karagöztheater schon seit dem 16.
Jahrhundert ein Mittel soziale und gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen. Durch die
Gegensätze der Figuren konnte sich sowohl das gemeine Volk als auch die „high society“
am Hof des Sultans im Osmanischen mit den Charakteren identifizieren und über die
satirischen Dialoge lachen. Auch heute noch erfreut sich das Karagöztheater einer ähnlichen
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Beliebtheit wie das Kasperletheater in Deutschland. Die Thematik der Karagöz-Stücke ist
aber nicht nur ein Beispiel für die Unterschiede innerhalb eines Landes und seiner
gesellschaftlichen Schichten, sondern auch für die mitunter schwierige Völkerverständigung.
In seiner Rolle als gebildeter Gegenpart zum grobschlächtigen Karagöz gebraucht Hacivat
gern Fremdwörter, die für allerlei Missverständnisse und Verwirrungen sorgen.
Die Auswahl der Gruppen wurde wesentlich von folgenden Parametern bestimmt:
Geographische Verteilung
Vielfalt der Mundarten
Vielfalt der Volkstheaterformen
Schleswig – Holstein
Niederdeutsch (Plattdeutsch)
Adaption eines Gegenwartsstückes
Nordrhein – Westfalen
Kiezdeutsch
Eigenproduktion
Berlin
Moselfränkisch
Klassisches Volkstheater
Hessisch
Schwank
Schwäbisch
Kritisches Volkstheater
Bayerisch
Mysterienspiel
Saarland
Hessen
Baden-Württemberg
Türkisches Schattentheater
Bayern
Podiumsdiskussion „Volkstheater in der Einwanderungsgesellschaft“
War die Diskussion „Vom Volk? Fürs Volk? Was ist Volkstheater?“ anlässlich des amarena
Preisträgerfestivals 2014 geprägt vom Versuch einer Begriffsklärung, so steht diesmal das
Verhältnis Volkstheater und Einwanderungsgesellschaft im Zentrum der Debatte. Unstreitig
gilt Volkstheater als Ausdruck kultureller Identität. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies im
Mundarttheater. Wenn Kroetz also schreibt „Dialekte sind Ausdruck von Arbeit, Landschaft
und Gesellschaft. Dialekte sind Verhaltensweisen in der Sprache“, dann skizziert er damit
wesentliche identitätsstiftende kulturelle Prägungen. Die von Kroetz beschriebenen
Verflechtungen, das Wurzelwerk, scheinen auch im immer wiederkehrenden Topos „Heimat“
auf, der wie kein zweiter die Geschichte und das Image des Volkstheaters prägen. So gibt es
beispielsweise in der Schweiz seit 100 Jahren sogenannte Heimatschutztheater. In
Deutschland ruft eine derartige Bezeichnung Assoziationen zum Kulturverständnis der
Nationalsozialisten hervor. Aber ganz aktuell führt das Diktum „Volkstheater ist Theater vom
Volk fürs Volk“ (Siehe Podiumsdiskussion anlässlich amarena 2014) und der von den
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Pegida-Anhängern reklamierte bzw. usurpierte Satz „Wir sind das Volk“ zu einer fatalen
begrifflichen Nähe und eventuell zu einem inhaltlichen Vorurteil, was das traditionelle Volksund Mundarttheater angeht. Ist das so? Ist das (traditionelle) Volkstheater nationalkonservativ? Welches Gesellschaftsbild zeichnet sich in den (theatralen) Verhaltensweisen
des Mundarttheaters ab? Welche künstlerische Sprache spricht das Volkstheater heute? Wo
kommt diese Sprache her? Wen und warum schließt Mundarttheater ein oder aus? Und in
welchem Verhältnis stehen Volkstheater und Transkultur 2015?
Diese Fragestellungen werden am Ende des Festivals den Ausgangspunkt für die
Podiumsdiskussion „Volkstheater in der Einwanderungsgesellschaft“ bilden.
Mit diesem bundesweit bisher einmaligen Festival leistet das Amateurtheater einen wichtigen
öffentlichen Beitrag zum Dialog der Kulturen und damit zur Integrationsdebatte im
Einwanderungsland Deutschland. Vom 30. April bis 3. Mai begegnen sich in Sulzbach / Saar
Gruppen, denen in der (ver-)öffentlichten Meinung eine eher unversöhnliche,
gesellschaftliche Opposition zugeschrieben wird. Wertkonservativ – postmigrantisch, Stadt –
Land, alt – jung, Tradition – Avantgarde, Vergangenheit und Gegenwart. Das Festival
Wurzelwerk versetzt diese scheinbar konträren Begriffspaare, die sehr aktuell die
gesellschaftliche und kulturelle Debatte prägen, miteinander in einen nicht nur künstlerischen
Dialog.
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