Peter Gülke Musik und Abschied Bärenreiter Metzler Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung Auch als eBook erhältlich (epub: ISBN 978-3-7618-7024-2 · epdf: ISBN 978-3-7618-7025-9) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. © 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel und J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar Umschlaggestaltung: + christowzik scheuch design unter Verwendung eines Fotos von Karoline Gülke Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel Korrektur: Daniel Lettgen, Köln Innengestaltung: Dorothea Willerding Satz: edv + Grafik, Christina Eiling, Kaufungen Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ISBN 978-3-7618-2377-4 (Bärenreiter) ISBN 978-3-476-02564-7 (Metzler) www.baerenreiter.com www.metzlerverlag.de Inhalt Am Abend zuvor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 2 3 4 5 6 7 Schuberts Quintett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sie war gern in Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rettung durch András . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weimarische Todesmystik · Der junge Bach . . . . . . . . . . Davor und danach · Reiner Kunze und Nelly Sachs . . . . . . Nächtliches Totenamt · Pierre de la Rue, Ockeghem, Brumel . Vox humana · Totenrede auf Dietrich Fischer-Dieskau . . . . 12 15 16 17 23 29 35 Selbstgespräche I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Verbotener Enquist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Trauermusik für große Damen und Herren . . . . . . . . . . 55 Zwei Königreiche · Bach und Friedrich der Große . . . . . . . 67 Gryphius betet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Zweimal Orpheus · Monteverdi und Gluck . . . . . . . . . . . 75 Tage des Zorns · Zelenka, Mozart, Verdi . . . . . . . . . . . . 78 Sprachmächtige Sprachlosigkeit · Ombra-Szenen . . . . . . . 84 Ombra-Szene ohne Szene · Mozarts »Jenamy«-Konzert . . . 89 Eigener und ritueller Tod · Pamina und Freimaurer . . . . . . 91 Transzendiertes C-Dur · Gluck, Haydn, Beethoven . . . . . . 94 Selbstgespräche II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 18 19 20 21 22 23 24 »Den Tod statuiere ich nicht« · Goethe . . . . . . . . . . . . . Ewigkeit im Vergänglichsten · Alte Motetten . . . . . . . . . . Plädoyer und Gedenken · Palestrinas »Missa Papae Marcelli« . Totengedenken unter Musikern · Von Du Fay bis Kurtág . Zerbröselnde Themen · Beethoven . . . . . . . . . . . . . . . »Todes-Erfahrung« · Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Teil das Ganze · Rückblicke bei Beethoven, Schubert und Bruckner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 114 116 121 143 153 156 25 Totentänze? · Mozart und Schubert . . . . . . . . . . . . . . . 26 Zerschnittenes Lied · Schuberts »Leiermann« . . . . . . . . . 27 »Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß« · Schubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Musik oberhalb der komponierten – und Beethovens op. 131 29 »In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn« · Mozart und Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Hörbar und unhörbar tönendes Schweigen · Nachklang und Coda bei Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms . . . . . 161 168 170 174 186 189 Selbstgespräche III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 Vorkammern der Ewigkeit · Verschwiegene Melodramen der Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zyklisch im Blick aufs Ende · Schumanns »Kerner-Lieder« Keine Erlösung, nirgends · Brahms’ »Vier ernste Gesänge« . Erinnerung, Heimweh · Dvořáks Cellokonzert . . . . . . . . . »Dass sie nicht allein seien« · Brahms und Berg . . . . . . . . Musik für den eigenen Tod · Du Fay, Josquin, Gombert, Gesualdo, Froberger, Schostakowitsch . . . . . . . . . . . . . . Frauen sterben anders · Purcell, Janáček, Verdi . . . . . . . . »Mitleidig das Auge zu Marke erhebend« · Tristans Liebestod Liebestod verfehlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier Tode · Mussorgsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Musik voraussterbend? · Tschaikowskys letzte Sinfonie . 209 214 216 218 222 229 250 255 262 267 269 Selbstgespräche IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 42 43 44 45 46 47 Tod mit und ohne Verklärung · Strauss und Mahler . . . . . Mallarmés stille Musikantin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Land, das ferne leuchtet«: Fahrkarten nach Orplid · Duparc . Mélisandes leiser Tod · Debussy . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausfahrt ohne Ankunft · Rimbaud und Britten . . . . . . . . Sterbeprotokolle · Janáček und Hodler . . . . . . . . . . . . . 285 291 294 298 301 302 Selbstgespräche V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 48 49 50 51 52 53 54 Mahlers »Kindertotenlieder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Zu langsam« richtig · Furtwängler, Fischer-Dieskau, Walter, Barenboim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätwerk – und Mahlers letztes Adagio . . . . . . . . . . . . . Lob des Wiederhörens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Im Abendrot« · Richard Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . Unkomponiertes Finale · Bartóks Sechstes Streichquartett . . »Stets die Wahrheit« · Schostakowitsch . . . . . . . . . . . . . Ad finem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 311 314 318 330 333 338 342 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Peter Gülke ist Träger des »Nobelpreises für Musik« (Ernst von Siemens Musikpreis) und des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Er wurde 1934 in Weimar geboren, wo er seit dem Tod seiner Frau wieder lebt. Peter Gülke wirkt als Dirigent, Musikwissenschaftler und Musikschriftsteller. Er war Kapellmeister unter anderem an der Staatsoper Dresden und Generalmusikdirektor in Weimar und Wuppertal und lehrte von 1999 bis 2004 an den Universitäten Zürich und Basel. Bei Bärenreiter/Metzler sind viele Bücher von ihm erschienen, zuletzt »Von Bach bis Beethoven. Streifzüge durch große Musik«. 16 Eigener und ritueller Tod Hier gilt das Alles-oder-Nichts der idealen, absolut gesetzten Liebe. »Er ist es – sie ist es«, rufen Pamina und Tamino sich zu, da sie sich zum ersten Mal sehen, werden sogleich aus einandergerissen, er zur Prüfung abgeführt. Sie hat bereits ein Duett über die Liebe gesungen – mit einem Fremden, der es dabei anders, weniger platonisch meinte. Zu ihrer Klage um »Wonnestunden«, welche nimmer zurückkommen, gehört auch, dass es sie bis jetzt nicht gegeben hat. Weil die Bläser mitreden, wenn Pamina den Geliebten anspricht, darf man bei ihnen auch ihn seufzen hören. Generell übersehen wir bei Mozarts Arien, dass sie nicht nur die des Singenden, dessen Wesensausdruck sind, sondern die Situation, den Angesprochenen mitenthalten. Deshalb darf man Pamina nicht unterstellen, sie wolle Taminos Schweigen mithilfe der Musik brechen. Sie, in Schutzhaft genommen, hat jetzt nur ihn. Von der Mutter, die sie vor Sarastro mutig verteidigt hatte, wurde sie verflucht; und ob Sarastros pastörliche Rede von »heil’gen Hallen«, in denen man »Rache nicht kennt«, Monostatos’ Belästigung vergessen ließ, steht dahin. Vom Schweigegebot weiß sie nichts, der stumm abgewandte Geliebte macht sie einsamer, als wenn sie allein wäre. Mozart legt sie musikalisch in Ketten – im schleppenden Gleichschritt der Streicher, den man nicht nur als Signatur des Weges in den Tod, als stockenden Herzschlag oder antizipierte Todesstarre wahrnimmt, sondern auch als Ausdruck der Gefangenschaft in tiefster Verzweiflung, zugleich ein Hintergrund, vor dem ihre melodischen Schleifen sich wie hilfloses Vogelflattern ausnehmen. Gekettet erscheint sie zudem durch die Tonart, der sie nur im B-Dur der »Wonnestunden« kurz entkommt. Sie flüchtet in alte Klageformeln – Abgänge, mit Ausnahme der »Wonnestunden« engschrittige Linien, Seufzer-Vorhalte, chromatische Führungen, wo immer die Tonrepetitionen im Untergrund es erlauben, bis hin zum Lamento-Bass und mehrmaligen Zuläufen auf verminderte und Nonen-Akkorde. Metrisch bleibt das Stück im Schwimmen, Mozart nutzt den geringen Schwere-Unterschied der Zeiten im 6/8-Takt und Eigener und ritueller Tod 91 suggeriert wiederholt, angefangen bei Paminas erstem Einsatz, mehr Schwere auf der Taktmitte als auf der Takteins. Als müsse sie es ihm und sich einreden, singt Pamina viermal von »Ruh’ im Tod«, am Ende – die Musik kommt vom Tonika-DominantWechsel nicht los – singt sich fast in sie hinein. Beim ersten Mal durchmisst sie den chromatischen Lamento-Abstieg, bricht danach nochmals ins geschriene »fühlst du nicht der Liebe Sehnen« aus. Die Zuwendung in letzter Not macht die Arie eher zum Duett mit einem, der nicht reden darf, Paminas Musik ist auch seine. Je länger die Antwort ausbleibt, desto mehr wird das »Duett« zum Monolog. Beim zweiten »so wird Ruh’« passieren ihre Girlanden die wichtigen Nebentöne der Tonart – bis hin zum neapolitanischen as. Beim dritten hängen die Töne wie unverbunden über der ungerührt voran gehenden Begleitung, deren querständige Wechselnoten – Bratschen gegen Celli / Bässe – Schubert in »Der Tod und das Mädchen« aufnehmen wird. Und das vierte bringt, als sei sie bereits im Tode angekommen, die ostinate Bewegung zum Erliegen. Zu der über die Szene gelegten Beklemmung gehört, dass wir einen Zusammenbruch Taminos gewärtigen und zugleich, weil die Prüfung scheitern würde, befürchten. Hier fährt keiner rettend dazwischen wie vor der Abschlachtung Isaaks, kein Deus ex machina interveniert. Letzten Ernst verdeutlicht im oft geschundenen Dialog einer der großen Sätze der Opernbühne: »Nicht wahr, Tamino, ich kann auch schweigen, wenn’s sein muß«, sagt ausgerechnet der mit Essen und Trinken beschäftigte Papageno: Selbst er hat begriffen, dass es »sein muß«. Außer bei direkten, emphatisch verstärkenden Wiederholungen, die sich zu Wortwiederholungen verengen (»ewig hin – der Liebe Glück«; »Sieh Tamino! – diese Tränen«; »dir allein«; »der Liebe Sehnen«; »im Tode sein«) geht die Arie zu immer Neuem fort und hält sich nicht lange bei Kadenzierungen auf. Umso besänftigender wirken die zweischlägigen, vom ostinaten 6/8-Anschlag erlösenden Sequenzierungen, nachdem Pamina ausgesungen hat, eben damit für den Geliebten redend, der nicht reden darf. · · · · · 92 Dass wir Toter nicht gedenken können, ohne die eigene Sterblichkeit zu bedenken, bringt hohe Ansprüche für jede Trauermusik mit sich und macht uns im Gegenüber zum Tod als dem großen Schweiger verdächtig, weniger den Verstorbenen als uns selbst zugewendet zu sein. Folgt der Choral »Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir« in der »Matthäuspassion« nicht allzu prompt dem Verzweiflungsschrei: »Warum hast du mich verlassen?« Der Kalamität begegnen Rituale, besonders bei ohnehin hierauf eingeschworenen Geheimbünden. Am 6. bzw. 7. November 1785 waren zwei von Mozarts prominenten Logenbrüdern gestorben, Herzog Georg August von Mecklenburg- Strelitz und der Großmeister und ungarisch-siebenbürgische Hofkanzler Franz Graf Esterházy von Galanta; die Totenfeier fand am 17. November statt. Hierfür schrieb Mozart die »Maurerische TrauerMusick«, den Ton der Klage und das Ritual – dieses vertreten durch das in der Karwoche gesungene »Incipit lamentatio Jeremiae« – als je eigene Bereiche ebenso respektierend wie zueinander bringend: die emotional gehobene Klage als Rahmen, das durch den gregorianischen Cantus vertretene Ritual, zunehmend mit vordem exponierten Prägungen verflochten, in der Mitte. Mit seinen Fünftaktern hebt es sich von den quadratischen Gruppen der Rahmenteile ab. Im Adagio-Tempo, in an- und abschwellend in sich selbst vertieften, kleinschrittig absteigenden Tönen präsentiert Mozart einen alten Klagetopos, setzt einen weiteren in Violin-Girlanden hinzu, die das c-Moll und seine chromatischen Nebenpositionen ausmessen, steigert dies in der threnodischen Quart der Oboen, nunmehr kontrapunktiert von Synkopen, einem energischen Gegenmotiv der Violinen und Punktierungen der Bässe – eine nach dem meditativ versunkenen Beginn dramatische Verdichtung, der das unisone Sforzato-B der Bläser als Doppelpunkt vor dem Einsatz des Cantus ein Ende setzt. Dieser erscheint vom Vorangegangenen mit Es-Dur und weich umspielender Begleitung zunächst abgehoben, bevor es ihn einholt – mit Forte, c-Moll und Prägungen jener dramatischen Verdichtung die engste Verbindung von Affekt und Ritual. Sie verlangt freilich auch Auflösung; die Musik kehrt zu threnodischen Abgängen und einer verkürzten Reprise des Anfangsteils zurück, nun mit chromatischen Aufstiegen gar in drei Tonlängen – im Bass ab Takt 44 innerhalb einer Terz in Ganzen, ab Takt 51 Eigener und ritueller Tod 93 innerhalb einer Quart mehrmals in Achteln, ab Takt 63 zweimal in Vierteln. Das fällt umso mehr auf, als Mozart das nächstliegende Trauer- und Klagesymbol, den chromatischen Quartabgang, meidet, in den Umkehrungen geradezu auf die Abwesenheit hinweist. Wie beim versöhnenden Dur am Schluss mag die freimaurerische Entschlossenheit mitgesprochen haben, dem Tod als der letzten, größten Prüfung ins Auge zu sehen. Transzendiertes C-Dur 17 »Meta-C-Dur« könnte man es auch nennen – abgehoben vom für sich schon schlackenfreien, von Versetzungszeichen verschonten C-Dur, das nach hergebrachtem Verständnis die Mitte des Ton- und Tonartenraums repräsentiert. Um Superlative kommt man bei der Beschreibung von Ankunftsmusiken in C-Dur schwer herum, bei denen Zeit und Vergänglichkeit mitsprechen, als bedürfe es keiner erklärenden Außenbezüge: Glucks Orfeo in den Gefilden der Seligen, Haydns Paradiesverheißung in den »Sieben letzten Worten«, Beethovens Arietta. Begreift man die bei Gluck den ersten Akt eröffnende Ombra-Szene »Ah, se intorno a quest’urna funeste« als Startpunkt für »Che puro ciel«, so geht der Weg jedes Mal von c-Moll nach C-Dur. · · · · · Nachdem die besänftigten Furien den Weg in die Gefilde der Seligen geöffnet haben, findet Orfeo sich in der Quintessenz aller pastoralen Idyllen wieder – »deliziosa per i boschetti che vi verdeggiano, i fiori che rivestono i prati, ritiri ombrosi che vi si scuoprono, i fiumi ed i ruscelli che la bagnano« –, er erlebt einen Reigen seliger Geister, so schön, dass er sich fragen muss, ob es richtig sei, Eurydice ins irdische Jammertal zurückzuholen. Dies erst recht, wenn die Gefilde der Seligen, wenn »Haine und Blumen, … Flüsse und Bäche« von sich aus zu singen beginnen – denn hierum handelt es sich eher als um eine Arie: 13 Takte lang lauscht Orfeo der Feier in C-Dur, dem Bachgemurmel und einander antworten94 Selbstgespräche II Ambivalenzen der Trauer – Gemisch von Regungen, die sich schlecht ver tragen und wechselweise vordrängen: Hinwendung zur Toten, ausschließlich bei ihr sein, zu ihr hinkriechen, das Totsein mit ihr teilen wollen; nicht begreifen können, dass jemand da war und nicht mehr da ist – an sie denken bedeutet sie herbeidenken; Selbstmitleid mitsamt dem Verdacht, sie werde missbraucht, damit wir in Melancholie baden können. Descartes hypochondrisch vereinnahmt: Triste ergo sum – ich bin traurig, also bin ich, oder: Wenn ich traurig bin, bin ich »eigentlich«. Müssen wir Trauer arten zensieren, ist die Wahllosigkeit nicht ehrlicher, mit der sie ihre Anlässe suchen und finden? · · · · · So beschattet, wie ungesteuerte Erinnerungen es suggerieren, war sie nicht! Genug Anlass, die Anteile genauer aufzurechnen, die Rückschau bewusst auf helle Momente zu lenken, auf Stunden, Tage, Wochen des Glücks. Oft freilich bleiben sie weiter entfernt, passen weniger gut zu den Gemütslagen, aus denen die Erinnerung sich am liebsten nährt – keine Postbotin, die den Brief so in den Kasten würfe, wie das Leben ihn geschrieben hat. Sie liest mit, zensiert, schreibt selbst – »the medium is the message« gilt auch hier. Wie könnte sie die hellen Bilder unbehelligt durchs Dunkel der letzten Monate schleusen? · · · · · Früher gegangene Wege gehen, Gespräche erinnern, gemeinsam gehörte Musik hören, von ihr Gelesenes lesen etc. – die Blende des Erinnerns verengen, sodass sie die damals von den Umständen umschlossene Leerstelle genau erfasst, diese nicht leer bleiben kann. Da müsste die Tote doch kommen, Musik müsste erzählen, wie sie sie anhörte, Bücher müssten erzählen, wie sie sie las, Wände müssten ein Echo hergeben von dem, wie sie gesprochen, geschwiegen, gelacht, geweint hat! · · · · · Selbstgespräche II 101 Weil Erinnerung tausend Einzelheiten festhalten will, muss sie einfügen, bündeln, braucht Schubfächer, sucht ein Gerüst, ein oder das Bild der Gestorbenen. Früher war’s anders. Sie war gegenwärtig, lebendig, beweglich, unfestgelegt; die Frage kam nicht auf, wie unerwartet Erlebtes ins Bild passen würde. Irgendwann würde es passen; wir konnten uns leisten, uns aneinander zu ärgern, befanden uns in ein und demselben, nur uns gehörigen Resonanzraum. Erinnerung verwandelt Reibungen, Verletzungen von einst – auch die, die wehtaten –, in Belebungen, Bereicherungen, willkommene Beunruhigungen jenes bündelnden Ganzen, willkommen, weil sie verklärenden Aufweichungen entgegenstehen. Ich will keine Distanz, will aufgeraute Erinnerung. Je näher uns ein Mensch steht, desto weniger bedarf es jenes Bildes, wie immer wir ohne es schwer auskommen. · · · · · Freie Bahn dem Kummer – so reden Psychologen, öfter noch die, die sich dafür halten: So käme man am ehesten drüberweg. Ergo Durchleben, Ausleben, Schleusen öffnen, Heulen, Schreien, Toben. Ich brauche den Ratschlag nicht. · · · · · »Heimgegangen« – wohin? Wo ist »heim«? In der Nötigung zu dreist ausgreifenden Fragen ist der Tod erfinderisch. Wieviel Himmel etwa braucht Gott für die auf Milliarden von Planeten in Millionen von Sonnensystemen in unzählbaren Galaxien anfallenden Seelen? Wie steht es mit den Seelen von Tieren? Hat er vor 13,8 Milliarden Jahren den Urknall in einer pyromanischen Laune gezündet? Was hatte, was war er zuvor, brauchte er davor nichts und niemanden, um Gott zu sein? Hat er’s vielleicht schon einmal oder nebenan in einem anderen Universum knallen lassen? Wenn wir von der Welt als »Schöpfung« reden, besorgt schon das Wort die Unterstellung, irgendwas, irgendwen müsse es davor gegeben haben – Huhn oder Ei? Dass wir Schöpfung ohne Schöpfer schwer vorstellen können, selbst wenn sie immer noch fortgeht, gehört zu seinen stärksten Aktivposten, freilich nur innerhalb des uns Denkmöglichen. Dieses jedoch käme ihm nie bei, sollte er die unvorstellbare Ursache ihrer selbst, der unbewegte Beweger sein, der Urknalle zünden, Unbelebtes beleben kann und – anderer Aktiv posten – als ad infinitum hinausverlegter Fluchtpunkt von allem gebraucht 102 wird, was wir nicht begreifen. Wären die Wunder der Welt, der Natur, des Lebens nicht größer, wenn wir keinen Universal-Uhrmacher unterstellen? · · · · · »Selig sind die Toten …, sie ruhen von ihrer Arbeit aus« – wie oft wunderbar komponiert, unter anderem von Schütz, Brahms, Hugo Distler! Für wen? Kümmernisse und Schmerzen seien überstanden, so sagt und tröstet man; diese wenigstens könnten die Toten nicht ins Grab mitnehmen. Stimmt nicht: In Erinnerungen, Schuldgefühlen derer, die die Kümmernisse hätten mindern können, leben und wirken sie fort; in Nichts aufgelöst sind sie nicht; auch Schuldgefühle holen die Toten ein Stück weit aus dem Totsein heraus. War das Jüngste Gericht neben aller Drohung auch eine Projektion von Hoffnungen? Immerhin würde da irgendetwas von uns vorgeladen, was den Übertritt ins Jenseits überstanden hat. Vielleicht gibt’s gar ein Wiedersehen, bevor wir sortiert werden. · · · · · Ante mortem, post mortem: Der Tod des Nächsten legt quer durchs Leben des Zurückbleibenden eine Barriere, eine Grenze, die vorerst zu erkennen schwer macht, was davor und dahinter identisch ist. Mich gab es doch dort und gibt es hier! Wie bekomme ich die beiden zusammen, sind wir den Toten nicht schuldig, es nicht zu können? Trauer, in dogmatische Treue flüchtend, gebärdet sich als Wachtposten, der Grenzübertritte verhindern will. Wenn das eine Leben »das Leben« war, kann das andere doch nur Nachleben sein! In dem »fahre« ich, mit Isaacs »Innsbruck-Lied«, »in fremde Land’ dahin«, bin »im elend« (Ausland). Erinnerungen erscheinen dann wie Versuche, Reste von drüben über die Grenze zu schmuggeln, auf der man erwischt wird und Zoll entrichtet. Sie ähnelt dem Jahr Null, von dem aus die Jahre gegenläufig gezählt werden, sodass der Verkettung der Geschehnisse ante christum natum kein Anwachsen der Zahlen entspricht. In der Nähe der Wasserscheide ohnehin, auch bei der griechisch-römischen »Modellgeschichte« bleibt der Widerspruch fühlbar, plausibler wiederum erscheint die Verknüpfung vielstelliger, unvorstellbarer Zahlen mit entlegener Vergangenheit. Selbstgespräche II 103 Wir leben nach vorn; über jene Barriere geworfen jedoch wollen wir nicht nur rückwärts zählen, sondern in allem Gelebten Rückbezug unterbringen. So erscheint die Einsicht gleichzeitig grausam und tröstlich, dass es das in nur eine Richtung gelebte Leben nicht gibt – am ehesten damals, da wir es, unsere Unfertigkeit in ihm wiederfindend, vorläufig wussten, im wahren, »eigentlichen« Leben noch nicht angekommen. Nun jedoch zwingt jene Barriere, das vorläufige als das eigentliche zu erkennen, beides zusammenzudenken. Und der Rückwärtsgang der Erinnerung hat recht, weil er schon in der Richtung eine Zusammengehörigkeit, e inen existenziellen Cantus firmus bestätigt, den viele »nicht-firme« Ereignisse begleitet, bereichert, gestört, bedroht haben; der weitergezogen ist und, je älter wir wurden, seine Unbeirrbarkeit aus immer reicheren Quellen bezog. Im Blick auf Lebensabschnittsgefährten etc. und zur Aufhellung der Trauer ist vielleicht ein wenig Stolz darauf erlaubt, dass wir zusammengehalten haben. 18 »Den Tod statuiere ich nicht« Sterben und Grablegung des Freundes Schiller, der eigenen Frau, des seit mehr als einem halben Jahrhundert ihm vielfältig verbundenen Landesherrn und anderer gemieden, zum Tod weder des Vaters noch der Mutter nach Frankfurt geeilt, den meisten aufs Ende bezogenen Gestaltungen und Gesprächen aus dem Wege gegangen – da scheint die Philosophie des »Stirb und Werde« ebenso vergessen wie die Ernennung des Todes zum »Kunstgriff« der Natur, »viel Leben zu haben«. So bietet Goethe sich als früher Anwalt der heutzutage perfektionierten Todes-Amnesie an. Um Glaubwürdigkeit und Reichweite des dem »Memento mori« emphatisch entgegen gesetzten »Gedenke zu leben« steht es nicht zum Besten. Wirklich? Hatten Sterben und Tod zu jener Zeit nicht eo ipso mehr Anteil an der Lebenswirklichkeit als in unserer Verdrängungsgesellschaft, und arbeitet nicht so gut wie jedes Bild des Todes, indem es dem »factum brutum« sinnstiftendes Umfeld besorgt, einer Amnesie zu – etwa, wenn wir ein Jenseits als Bewahranstalt für hienieden definierte 104 Identität vorstellen, mithin den Tod zur Durchgangsstation degradieren? Konsequente Frömmigkeit müsste darauf verzichten, elysäische Gefilde, das Paradies, den Garten Eden usw. mit irdischen Vorstellungen, mit zwar geläuterten, doch fürs Jammertal tauglich gewesenen Seelen zu bevölkern. Überdies übersehen unsere, jene Amnesie betreffenden Selbstanklagen gern, dass es ohne sie bei einem Gegenstand nicht abgeht, der unserer Erfahrung entzogen ist. Der Tod, um den wir herumdenken, über den wir reden und philosophieren, ist nie unser eigener. »Solange wir leben, ist er noch nicht da, wenn er aber gekommen ist, sind wir nicht mehr da«: Epikur klingt apodiktisch, weil vor den Tod das Sterben gesetzt ist, und auch, als wären wir nur mit Dingen beschäftigt, die »da« sind. »Siehe, wir träumen, wenn wir vom Tode reden«, heißt es in Werthers Abschiedsbrief. Nicht weniger lohnt zu fragen, ob sich das diesbezügliche Denken nicht einseitig im »Sein zum Tode« eingerichtet habe und, dem Selbstmitleid zuarbeitend, etliche transzendent überhauchte A-priori-Tragik für uns reklamiere. »Es ist immer sonderbar, daß man soviel von unserer Fortdauer nach dem Tode spricht, und so wenig von der Vordauer vor der Geburt.« Von Lichtenbergs Verwunderung ist es nicht weit zu dem, was die Philosophie im Gegenzug zur dumpfen Selbstverständlichkeit des Vorhandenseins »Geburtlichkeit« nennt: dass dem Wohin ein Woher gegenüberstehe, Sein also von der Möglichkeit des Nicht-Seins grundiert zu verstehen sei, aus dem es herkommt, Leben als ein diese Möglichkeit widerlegendes, dennoch von ihr hinterfangenes Geschenk. Dem zwar sicher vorausgewussten, hier und jetzt jedoch weggeschobenen Tod könnte eine untergründige Erinnerung an die schwierige Torfahrt entsprechen, die uns ins Leben befördert hat. Woher sonst das durchschnittlich weniger beschwerte Naturell von Kaiserschnitt-Kindern? »Niemand, so scheint es, erinnert sich an seinen Welteintritt, obwohl von der Physiologie des Gedächtnisses her nichts dagegen spricht, auch das archaischste Geschehen zu vergegenwärtigen … Die Geburtsdunkelheit, die allem Wissen als Folie dient, ist kein unschuldiges Nochnichtbekanntsein mit einer Neuigkeit. Sie ist eine konstitutive Unwissenheit, eine Dunkelheit als erste Intention. Das Geburtsvergessen ist ein geleistetes Nichtwissen, »Den Tod statuiere ich nicht« 105 das die ichbildende Grundanstrengung: nicht dabeigewesen zu sein, aufbietet … Je präsentischer ein Leben sich vollzieht, desto geringer wird schließlich sein Verkennungsaufwand in bezug auf seine geburtliche Mitgift« (Sloterdijk). Man sollte die Beschreibung der »glücklichen« Konstellation bei Goethes Geburt genau lesen und im Erzählton nicht vorschnell Koketterie mit Prädestination mitklingen hören: »Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch die Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt«. Könnte das nicht zum Quellgrund vieler emphatischer Bekenntnisse zum Leben und all seinen Formen, deren begeistert identifizierender Wahrnehmung, überhaupt von Goethes Kreativität gehört haben? »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut«, »Es sei wie es wolle, / es war doch so schön«, »Gedenke zu leben« – spricht daraus nicht eine unermüdet entzündbare Lebens- und Weltfrömmigkeit? Noch die Wolkenbildungen in den Alpen beim Übergang nach Italien waren wichtig; ob Charlotte von Stein im Reisetagebuch gerade hierüber lesen wollte, darf man bezweifeln. »Was ist doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding. Wie abgemessen in seinem Zustande, wie wahr! Wie seiend« – den Jubelruf kann ihm eine Muschel am Lido entlocken; und Faust macht die Begrüßung der auf gehenden Sonne zu einer Willkommensfeier für den Morgen, das Leben, die Welt – irgendwo unten liegt Gretchen, hingerichtet –, die noch in der emotionalen Höhenlage mit Sonnenaufgängen der Musik bei Georg Benda, Haydn oder Ravel mühelos konkurriert. Er war mehr als das Sprachwunder, der Universalist, der »Glück liche«, dem in Schillers Augen »das Höchste frei von den Göttern« herabkam: ein Alles-Erfühler, dem das Senkblei nahezu jeglichen Erlebens in einen Untergrund hinabfahren, dort ankern, aus ihm sich nähren konnte, von woher Dasein, Leben, Welt je neu als Geschenk und Gnade erschienen – alle Begabungen hinterfangen von dieser einen, umfassendsten, die ihm Erlebnisse als Epiphanien zu begreifen, Krankheiten in rettende Fluchten und Häutungen zu verwandeln half, eine fromme Lebensneugier, die Licht und Farben, die Urpflanze, Wolkenbildungen, Gesteinsarten, den Zwischenkieferknochen nicht auslassen konnte und 106 Mahlers »Kindertotenlieder« 48 Unter Almas egomanen Torheiten erscheint am ehesten entschuldbar, dass sie meinte, ihr Mann habe den Tod des Kindes herbeikomponiert. Gewiss brauchte sie Ventile für ihr Unverständnis gegenüber seiner Musik, und: Sie hatte dem Kind das Leben geschenkt. Seinem mystischen, für Fügungen empfänglichen Verständnis fürs Ineinander von Leben und Kunst war sie mit der Beschuldigung recht nahe. Wie um dieses zu bestätigen, hat er einmal von Kunst als einem »anticipando des Lebens« gesprochen, hat sich zum Beispiel nach langer Ratlosigkeit von der »Zufälligkeit« des Trauergottesdienstes für Hans von Bülow zum Finale der Zweiten Sinfonie inspirieren und Alma in die Fünfte Sinfonie intervenieren lassen – im Adagietto, bei dem er selbst besorgt war, es könne als private Musik, die es in die öffentliche Sinfonie verschlug, weniger dieser als der Geliebten zuge hören. Die Verarbeitung der Adagietto-Melodie im Finale beweist, dass die Begegnung mit ihr nicht schon von sich aus die Integration in das Stück gewährleistet hat. Weitab von ihm befand Alma sich mit ihren präpotenten, aufs Recht der Nähe pochenden Verflechtungen von Kunst und Leben also nicht. Mahler seinerseits hat mehrere Geschwister sterben sehen; der zu ihnen gehörige Bruder Ernst hatte denselben Namen wie eines von Friedrich Rückerts toten Kindern. Das mag den Gluthauch des Erlebten zu er klären helfen, der die Lieder durchweht. Wie präzise andererseits das gedankliche Konzept! Textlich wie musikalisch erweist sich der Zyklus in die Spannung zwischen Erlebnis und religiöser Tröstung gestellt, in den vier Zeilenpaaren des ersten Liedes durch viermaligen Wechsel von Moll und Dur unterstützt: »als sei kein Unglück die Nacht geschehn« – »das Unglück geschah nur mir allein« – »du mußt nicht die Nacht in dir verschränken« – »ein Lämplein verlosch in meinem Zelt« gegen »Nun will die Sonn’ so hell aufgehn« – »die Sonne, sie scheinet allgemein« – »mußt sie ins ew’ge Licht versenken« – »Heil sei dem Freudenlicht der Welt«. Mahlers »Kindertotenlieder« 311 Mahler stärkt das auf seine Weise, indem er stützende Verdoppelungen meidet: Der hell aufgehenden Sonne geht die Klage der Oboe v oraus, im Lamento des Sängers gibt es weder Helligkeit noch Aufgang, nur konsequentes Abwärts; nach dem karg begleiteten Einstieg verleiht die später eintretende harmonische Grundierung dem »Unglück« schmerzvolle Innigkeit, die im Solo des Hornisten nachklingt und zum Anschlag des Totenglöckchens hinleitet. Im zweiten Zeilenpaar verkehrt sich die Zuordnung – nun hat das »Unglück« die klagende Oboe und den kargen Satz und die »Sonne« die harmonische Bettung. Auch in den verbleibenden zwei Zeilenpaaren gehört die erste Zeile dem Unglück, die zweite der Tröstung – in charakteristischen Steigerungen: »Heftig« will Mahler das dritte Zeilenpaar genommen wissen, erweitert das Vorspiel zum ersten Sängereinsatz, verschränkt dessen Melodie bei »Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken« als Umkehrung mit der abermals der Oboe gegebenen Hauptmelodie und schließt sofort mit »mußt sie ins ew’ge Licht versenken« an, hält die ausladende Lamentatio jedoch von aller Tröstung fern, komponiert weniger das »ew’ge Licht« als dass die Nacht dorthinein »versenkt« werden müsse. In die folgenden, wild bewegten Takte (»mit leidenschaftlichem Ausdruck«) lässt sich die Verzweiflung darob hineinhören, dass es nicht gelingt. Danach, fast wie Reprise nach Durchführung, klagt die Oboe wieder, schlägt auch die Totenglocke wieder an; wir kehren zum Anfang und zu dessen getragenem Tempo zurück und zum letzten Zeilenpaar, das das Gegenüber mit erloschenem »Lämplein« und »Heil sei dem Freudenlicht« weiter aufspannt als zuvor. Jedoch – wie schwer fällt das mühsam sich emporwindende »Heil« zu einer Melodie, die ursprünglich den Worten »als sei kein Unglück die Nacht geschehn« gehörte! Dass der Sänger auf der Mollterz schließt und am Ende nur das Glöckchen übrig bleibt, zeigt an, wie alles offengeblieben, nichts bewältigt ist. Fast könnte man sagen, der Trauernde fiele in den drei folgenden Liedern zurück, versuche dem Abgrund zwischen Unglück und Tröstung zu entgehen. Im zweiten will er in Erinnerung an strahlende K inderaugen vom »verblendenden Geschicke« wegkommen, will die Sterne »in künft’gen Nächten« vorweggenommen sehen. Mahler verdeutlicht es in mühe vollen, tristanesken Anläufen, beim »verblendenden Geschicke« im Rück312 griff auf die verschränkte Gegenführung von Sänger und Oboe vom ersten Lied und der hymnischen Höhung des »Leuchtens« der Augen als der Versicherung »wir möchten nah dir bleiben gerne«. Keinem anderen Wort im Zyklus baut Mahler ein solches Podest wie diesem »Leuchten«. Er verlängert, verzögert den Anlauf stärker als irgendwo sonst; wie bei »nun seh’ ich wohl« und »doch ist uns das vom Schicksal a bgeschlagen« reicht dieser nicht in die Ankunft in der erwarteten Harmonie als Vorhalt hinein, er hat sie sofort und ganz und in einer die anderen Male überstrahlenden Höhe: »Erfüllung«, die in dem unter den fünf Texten als Sonett besonders streng geformten Gedicht den Eintritt in die Terzette markiert, vorweggenommener Epilog im Himmel innerhalb des harmonisch nach C orientierten Liedes in der dem Zyklus insgesamt hinterlegten Tonart D-Dur. Hier leuchtet es in den Kinderaugen von oben. Umso größer der Rückfall im dritten Lied, als der Verzweiflung des Vaters, der neben der Mutter »nach der Schwelle« sieht, »dort, wo würde dein lieb’ Gesichtchen sein«; und am größten im vierten, da er sie »nur ausgegangen« vorstellt, in die Illusion »jener Höh’n« flüchtet und über der Illusion »der Tag ist schön« – wieder mit verschränkter Gegenführung von Singstimme und Oboe – sich verhehlt, dass es keine Wiederkehr gibt. Mit »in diesem Wetter, in diesem Braus« fegt das letzte Lied alle Illusion hinweg, nach einer 16 Takte währenden Gewitterszene kämpft der Singende, in die Wirklichkeit zurückgerissen, gegen sie im – nur hier groß besetzten – Orchester an, versucht zu begreifen, was die »eitlen Gedanken« waren, dass er »nichts dazu sagen« durfte, und hält verzweifelt am »nie hätt’ ich gesendet die Kinder hinaus« fest. Woher außer von der Musik kommt die Wende zu »Langsam, wie ein Wiegenlied«, einer Einkehr und Ankunft bei »sie ruhn, sie ruhn wie in der Mutter Haus«? Hier klingt die Musik des Lindenbaums, bei dem der fahrende Gesell »zum ersten Mal geruht« hatte, ebenso mit wie »Des Baches Wiegenlied« in Schuberts »Müllerin«. Das langwährende D-Dur, worin die Toten glocke von der lieblich klingenden Celesta vertreten wird, erweist sich als seit dem ersten Lied anvisierter Fluchtpunkt. »Von keinem Sturm erschrecket«, »von Gottes Hand bedecket« und »der Mutter Haus« s tehen nebeneinander – trotz zweimal choralhaften Einschlägen die Not zwiMahlers »Kindertotenlieder« 313 schen Unglück und Tröstung eher aufhebend, ebenso zu Musik hin auflösend wie ergeben gläubig. Mit »gänzlich verklingend«, im letzten Takt angewiesen, will Mahler das Diminuendo von Klang und Bewegung über die denkbar niedrigste Schwelle ins Schweigen hinübergenommen, imaginär weiterklingend wissen, als könne die Musik eine Unendlichkeit erreichen, die irgendeinen Trost bereithält. »Zu langsam« richtig 49 »Sie dürfen eine gewisse Nervosität bei Mahler niemals außer Acht lassen, der Mensch hatte keine Ruhe in sich!« – so begründete Bruno Walter gegenüber Dietrich Fischer-Dieskau sein Unbehagen an den Tempi der von Furtwängler dirigierten »Gesellen lieder«. »Sehr langsam« fand der Sänger die Aufnahme gegen alle Genug tuung ob ihres kanonischen Ranges bis zuletzt selbst. Walter wusste sich als neben Otto Klemperer wichtigster Kronzeuge, wohingegen Furtwängler mit Mahler trotz etlicher Aufführungen in den Zwanzigerjahren Schwierigkeiten hatte, andererseits später sich besorgt zeigte, seine eigenen Sinfonien könnten »wie Mahler klingen«. Da galt es ungewollte Nähe abzuwehren. Gewiss waren zwischen ihm und Walter nach dem Krieg einige, meist nobel beschwiegene Rechnungen offen. Dennoch erscheint Walters Rückschluss von der Person Mahlers auf die Musik arg direkt und polemisch – im Munde eines Mannes, dessen Handhabung der Spielräume beim Musizieren von der – zweifellos eigenmächtigeren – Furtwänglers kaum so weit entfernt lag, als dass er nicht nach manchem Zugewinn bei »falschen« Interpretationen hätte fragen können. Kunstreligiös inspirierte Verlangsamungen, bei denen Andante- oder Adagio-Sätze der Wiener Klassik mit »Parsifal« oder Bruckner konkurrieren mussten, haben Tiefen ausgeleuchtet, sind auf eine Weise beglaubigt gewesen, der mit »falsch« oder »richtig« nicht beizukommen ist. Wiederholbar allerdings, weil in einen Konsens von Musizierenden und Hörern, Zeitgeist und Zeitklima gebettet, sind sie nicht. 314
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