DAS LEID – In den Kriegslazaretten und Gefangenenlagern waren Sie in engem Kontakt mit leidenden Menschen. Wie empfanden Sie diese neue Richtung Ihres Priesterlebens? – Lange schon bevor ich als Feldgeistlicher in die Lazarette geschickt worden war, hatte ich das Leid kennengelernt, doch der Krieg erweitert sein Register auf schreckliche Weise. Ich sah verwundete Soldaten und Gefangene aus allen Kampfzonen, die grauenvoll litten. Die stärksten schmerzstillenden Mittel halfen ihnen nicht mehr. Vielen – leider Gottes waren es ihrer viele! – wagte ich nicht mitzuteilen, daß man unter den Bombentrümmern die Leichen derjenigen gefunden hatte, die ihrem Herzen am nächsten gestanden waren. Ich entsinne mich eines zwanzigjährigen Burschen, dem man beide Beine amputiert hatte ... Heute zählt man nicht mehr die für immer behinderten Unfallopfer der Straße. Jemand hat einmal geschrieben: „Es gibt kein objektives Unglück.“ Wer kann abschätzen, wie sehr ein anderer leidet, wer sich zu sagen erlauben: „Dieser oder jene hat Mut oder nicht?“ Die körperlichen Schmerzen sind nicht die einzigen, die uns ereilen können. Da ist das Drama der entzweiten Eheleute. Wie einfach ist es doch, weder dem einen noch dem anderen zu Hilfe zu kommen, unter dem Vorwand, man habe nicht „das Recht zu urteilen“! Und so verurteilt man sie aus „beiderseitigem Verschulden“. „Muß man wirklich siebenundsiebzigmal vergeben‘1?“ wie mich eines Tages eine Frau fragte, deren Leben die Hölle war. Nichts jedoch ist schmerzlicher als der Tod eines uns lieben Menschen. Die Totenliturgie ist sehr schön. Sie bittet uns, die Verstorbenen nicht zu beweinen, so als hätten wir keine Hoffnung: „Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden.“2` Selbst der heilige Hieronymus, dieser alte Löwe, schreibt an Paula nach der Beisetzung seiner Tochter Blesillia: „Wer wird jemals trockenen Auges dieses zwanzigjährigen Mädchens gedenken können? Die Tränen überströmen unser Angesicht, das Schluchzen erstickt unsere Stimme; gehemmt durch die Regung unseres Herzens zögert unsere Zunge.“ Das asketische Leben Paulas, ihre Kenntnis der Heiligen Schrift haben ihr Wesen nicht verändert und nicht ihr Herz. Sie ist nur noch ein aus seinen Wunden blutendes Tier, ein vor Schmerz brüllender Leib. Während der prunkvollen Beisetzung Blesillias stößt sie Schreie der Verzweiflung aus. Sie bricht zusammen, und wie eine Tote bringt man sie nach Hause. Hieronymus wird ihr dies vorwerfen, doch faßt er sich wieder: „Werden wir einer Mutter die Tränen verbieten – während wir selbst weinen? Ich bekenne, daß dieses ganze Werk mit Tränen geschrieben ist. Denselben Schmerz, dieselben Qualen, die du erleidest, erleide auch ich ... und es geschieht zuweilen, daß ich mir sage: ,Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin‘3, oder auch: ,Weh über mich!‘ “ Was sollen hier Tröstungen! ... Blesillia ist tot! Warum, mein Gott? Das bleibt die ewige Frage. Das ist der Klageruf, den uns heute noch das Leid Unschuldiger, die Sinnlosigkeit der Welt entreißen. „Bricht sich nicht oft die Woge des Zweifels auch an meinem Geist?“ schreibt weiter Hieronymus, erbärmlich, wie er ist, unglücklich gekreuzigt ... Später sucht er, wie er kann, nach Gründen ...~er ist hilflos. 4 Doch Paula kann durch diese manchmal unbeholfenen Zeilen spüren, wie sehr ihre Tochter geliebt wurde und wie sehr sie selbst immer noch geliebt wird. Vielleicht spreche ich ein wenig zu ausführlich über den heiligen Hieronymus, doch kenne ich diese Textstellen allzu genau. Sie steigen von meinem Herzen zu meinem Geist angesichts der Verzweiflung eines Vaters, einer Mutter beim Tod ihres Kindes. Und ich verstehe, wie vergeblich jeglicher Trost sein muß; doch geschieht es, daß Gott selbst – und besser als wir –zu jenen spricht, die vom Schicksal geprüft werden. Eine junge Mutter, die gerade ihren Sohn verloren hatte, sagte zu mir: „Vielleicht könnte ich es in zehn, in zwanzig Jahren fertigbringen, weniger zu leiden.“ Man könnte ohne Ende über das Leid sprechen. Es findet sich in unterschiedlichem Ausmaß im Leben jedes einzelnen. Ich hatte meinen Teil davon wie die anderen. Und dennoch frage ich mich, ob es nicht das Allerschlimmste ist, wenn der Geist angegriffen ist. Eines Tages kommt ein junger Mann zu mir: „Der Wahnsinn befällt mich“, sagt er, „und ich bin mir dessen bewußt. Ich bitte Sie, mit mir zu beten, solange ich noch genügend Zurechnungsfähigkeit und geistige Klarheit besitze, um von Gott zu erreichen, daß ich diese Prüfung annehme.“ –Ist er denn wirklich wahnsinnig geworden? 1 I –Ja. Er befindet sich jetzt in einer psychiatrischen Klinik. Der Wahnsinn ist dann die am schwersten zu ertragende Form menschlichen Leids, wenn der Kranke selbst erkennt, wie er allmählich seine geistigen Fähigkeiten verliert. In seiner Autobiographie – einem Kunstwerk der Analyse, mit vielen ausführlichen Einzelheiten, um die Proust ihn Mt 18,22. 1 Kor 15,51 3 Ijob 3,3 4 Briefe des heiligen Hieronymus, CSEL 54,162 f 1 2 hätte beneiden können – erzählt der mir so teure Newman von seiner Krankheit auf Sizilien: „Gegen Ende des folgenden Tages war ich völlig niedergeschlagen; ich lag in Nicolosi zu Bett mit dem Gefühl, mein Verstand könnte mir wohl entweichen.“ Wer kann schon sagen, was Menschen empfinden, deren nächster Verwandter im Begriff steht, den Verstand zu verlieren; besonders dann, wenn sie, zumindest zu Beginn der Krankheit, die krankhaften Wurzeln von dessen Verhalten nicht erkennen können? – Die Wissenschaft hat heute so viele Fortschritte gemacht, daß fast alle körperlichen Schmerzen gemildert werden können. Man hat auch eine wirkungsvolle Chemotherapie für depressive Zustände entdeckt. – In vielen Fällen erreicht man eine Linderung bestimmter Schmerzen, aber wir Christen dürfen nicht vergessen, daß uns das Leid und der Schmerz eine Prüfung auferlegen, und diese Prüfung müssen wir annehmen. Lehnt man sich dagegen auf, so verweigert man zu hören, was diese Prüfung uns sagen will. Simone Veil hat gesagt – ich zitiere aus dem Gedächtnis –: „Ein Unglück ist es, wenn wir leiden, und Gott ist nicht da.“ – Das Unglück – ist es die „Nacht“ des Johannes vom Kreuz? Der Augenblick, da selbst Christus sein Leiden ohne Sinn erschien und er schrie: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.‘‘?5 Er konnte sich wieder fassen – aber wir? – Nicht alle Menschen haben die gleiche Kraft, es hinzunehmen, wenn Gott uns durch das Leid erreicht und wir beinahe die Schwelle der Verzweiflung überschreiten. Muß man an diesen äußersten Punkt gelangen, um zu erkennen, daß das irdische Leben, das wir gerne als ein Ganzes betrachten, nichts ist als ein langes Wegstück zu etwas Anderem, als der Keim eines neuen Werdens? Man darf nicht mit menschlichen Maßstäben über die Auflehnung desjenigen urteilen, dessen Leid nicht mehr zu ertragen ist. Ich kannte einen Geistlichen, der sich in einer solchen Lage befand. Ich besuchte ihn regelmäßig. Eines Tages sagte er zu mir: „Ich wünsche Ihre Besuche nicht mehr, nicht Ihre Freundschaft und nicht Ihr Mitgefühl. Ja, mit mir ist es soweit gekommen. Das, was zählt, ist unser Verhalten, solange wir noch stark genug sind, um alle unsere Leiden als ein Geschenk Gottes hinzunehmen. Was dann kommt, ist der Abschnitt des brüllenden Tieres. Ich habe ihn erreicht. Was liegt daran, was aus einem wird, ist man dort angelangt! Gott der Herr, an den ich glaube, wird dafür Sorge zu tragen wissen.“ Es gibt verschiedene Aspekte des Leids; doch alle Leiden der Welt, welche Form und Intensität sie auch haben mögen, rufen uns auf, fordern uns heraus. „Es ist ein Skandal“, sagt man. Ich gebe zu, daß der Anblick eines leidenden Menschen im Allgemeinen zu einer solchen Reaktion führen kann. Doch muß man bis auf den tiefsten Grund des Leids gehen, nicht um eine Philosophie daraus zu machen, sondern um es anzunehmen und um es bewußt zu leben. Das Leid ist das Schicksal des Menschen. Von seinem ersten bis zu seinem letzten Tag erduldet er tausend Arten des Leids: Sorge, Furcht, Todesangst, Krankheit, Alter, Tod ... Hin und wieder, wie der Tag der Nacht folgt, erlebt er helle, glückliche Stunden. Doch diese Rastpausen im Licht können leider immer seltener, immer schwächer werden, entschwinden ... Das Leid ist für den Menschen dann nicht mehr ein Teil seines Lebens, sondern all sein Leben. Und er versinkt in Verzweiflung. – Hat Jean-Paul Sartre nicht geschrieben: „Das wahre Leben befindet sich jenseits der Verzweiflung“? – Aber erkennt dies der Mensch? Er kämpft zuweilen, um sich nicht erdrückt zu fühlen, aber, er gelangt an einen ausweglosen Punkt, er kann nicht mehr ertragen, was ihm widerfährt. Der Gedanke, daß andere die gleichen Prüfungen weniger schlecht bestehen als er, versetzt ihn in Schrecken ... Er fühlt sich an den Rand gedrängt. Es wird ihm sogar unmöglich, sich auch in eine leidende Gemeinschaft einzugliedern. Von allen verlassen (zumindest empfindet er dies so), sucht er nach der Bedeutung, die er in den Augen anderer noch haben kann. „Gibt es mich überhaupt noch?« fragt er sich. Sein Leid mag geistig oder körperlich sein, er wiederholt diese jahrtausendealte Frage: „Warum? Warum ich?“ Jeglicher Mut hat ihn verlassen. Nach dem Kriege habe ich unter dem Titel Gefallen in Gottes Hand6 Briefe herausgegeben, die mir junge verwundete oder gefangene Soldaten vor ihrem Tod geschrieben hatten. Lieben heißt teilen. In dieses neue Leben, das der Mensch, der so sehr gelitten hat, endlich wahrnimmt, wird er sich nicht alleine wagen. Er muß es beschützen, es verteidigen, es vollenden mit einem Anderen, der jenseits des menschlichen Maßes ist. Gerade das Übermaß an Leid hat uns das menschliche Maß überschreiten lassen. Jetzt wollen wir mehr und Besseres. In dieser Erkenntnis rufen wir aus: „0 Herr, hilf mir!“ Dieses neue Leben, zu dem jene gelangen, die leiden, ist schon nicht mehr von dieser Welt. Um seine Dimension der Ewigkeit zu erreichen, wird dieses Leben wachsen, an Stärke gewinnen, aufblühen und dem Tode trotzen: „Ich weiß, in wen ich meinen Glauben gesetzt habe“, sagt der heilige Apostel Paulus. Das Leid führt zu Gott, ebenso wie die Liebe und die Suche nach der Wahrheit. 5 Mt 26,39. 6 Herder, Wien 1947. Man kann davon, ich wiederhole es, nur aus eigener Erfahrung sprechen. Daher ist das, was ich sage, unverständlich für viele. Sie haben mich gefragt, was ich an der Seite so vieler verzweifelter Menschen erfahren konnte und im Besonderen an der Seite so vieler junger Menschen aus allen Ländern der Welt, die ich in den Lazaretten und Gefangenenlagern leiden und sterben sah. Von ihnen habe ich erfahren, was ich über das Leid weiß. Und niemand wird mir widersprechen können. – Wenn auch der Mensch Gott durch das Leid finden kann, so wird er doch auch die Nacht des Glaubens erfahren. Man kann zweifeln, nachdem man geglaubt hat. – Sie haben Recht. Der aus dem Leid geborene Glaube, so stark er auch sein mag, hängt nicht von unserem guten Willen ab. Er ist nicht wie ein Fernsehprogramm, das. man nach Belieben unterbrechen und wieder einschalten kann. Der Glaube kann mit dem Leid in einen Brunnen ohne Grund versinken, zu schwarzem Wasser werden, das dem Menschen den Blick verdunkelt und ihn überflutet. Der Glaube wird von Verwirrung begleitet, von innerem Zweifel und von diesem Dunkel, das der Herr empfand, als er rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘‘7 Einer der schönsten Texte des Alten Testaments ist die Klage Ijobs. Eine Sprache von unvergleichlicher Schönheit verkündet das Vertrauen zu Gott, das der Glaubende ihm trotz aller Prüfungen bewahrt; doch langsam dringt Dunkelheit in seine Seele. Er ist nicht mehr Herr seiner selbst, und er ist sich dessen bewußt: „Noch hatte ich nicht Frieden, nicht Rast, nicht Ruhe, fiel neues Ungemach mich an.“8 Er bekennt seinen Zorn und seine Entrüstung. Beißende Ironie und makabrer Spott vermengen sich mit seinen herzzerreißenden Klagen. Und wie eine Woge kehrt seine Gereiztheit wieder. Nie hat die Analyse der vielen Gesichter eines gehetzten, durch geistigen und körperlichen Schmerz verwirrten Geistes einen solchen Ausdruck erreicht. Sie kennen seinen Ausruf: Zum Ekel ist mein Leben mir geworden, ich lasse meiner Klage freien Lauf, reden will ich in meiner Seele Bitternis. Ich sage zu Gott: Sprich mich nicht schuldig, Laß mich wissen, warum du mich befehdest .. . Meinen Pfad hat er versperrt; ich kann nicht weiter, Finsternis legt er auf meine Wege ... ... er riß mein Hoffen aus wie einen Baum.9 Sie sehen, daß Ijob an Gott zweifelt. Er lehnt sich auf und glaubt sich verdammt. Der Weg des Leids ist keine königliche Straße und auch keine Super–Autobahn, um uns zu Gott zu führen. Er ist ein schmaler, steiler Pfad, voller Dornen und Fallen. Wir Christen wissen, daß Christus am Karfreitag den Leidensweg beschritten hat. – Glauben Sie, daß es das Schicksal des Menschen ist, so sehr zu leiden? – Die Menschen haben nicht alle das gleiche Maß an Leid zu tragen. Aber was wissen wir von so viel verschwiegenem Unglück, das die Menschen nicht in der Öffentlichkeit ausbreiten? Wem unter uns ist es erlassen, ein Stück der Via dolorosa. zu gehen? Vergessen wir niemals, daß Golgotha nicht der Endpunkt des Weges ist, sondern die letzte Station vor der strahlenden Auferstehung am Ostersonntag. Gerade durch die Schicksalsprüfung ist es uns gegeben, die Bedeutung des Wortes „Gott“ zu erfassen. In den ältesten Sprachen bedeutet Gott „derjenige, der von oben gesandt ist“. In der äußersten Blöße, die wir durch das Leid erfahren, gerade dann, wenn uns nichts mehr bleibt, vermögen wir zu rufen: „Hör mich an, mein Gott, antworte mir; verlaß mich nicht; verbirg mir nicht deine Freude.“ Es gibt zwei Stellen im Alten Testament, die heute von vielen Exegeten als bezeichnend für die Antwort Gottes auf den Aufschrei der Liebe des sich in einer unerträglichen Lage befindlichen Menschen angesehen werden. In der Genesis haben wir gesehen, wie Abraham alles verließ, um „in das Land, das ich dir zeigen werde“,10zu gehen, so wie es Gott ihm befohlen hatte. Eine so vollkommene Unterwerfung brachte ihm den Bund mit Jahve ein und die Verheißung einer Nachkommenschaft, die zahlreicher sein würde als alle Sterne des Himmels. Dies ist eine Verheißung auf lange Sicht. Die Jahre vergehen; endlich wird Abraham ein Sohn von seiner ägyptischen Sklavin Hagar geschenkt. Dies scheint nur eine halbe Maßnahme zu sein bis zu dem Tag, an dem seine 7 Mt 27,46/Mk 15,34/Ps. 22,2. 8 Ijob 3,26. 9 Ijob 10,1-2; 19,8 und 10. 10 Gen 12,1. alte, unfruchtbare Frau Sara Isaak zur Welt bringt. Doch dieser Gott, der so oft zu seinem Diener mit weicher Stimme spricht und ihn mit Wohltaten überhäuft, ist ein Gott mit zwei Gesichtern. Eines davon ist schrecklich, und er gibt es zu erkennen, als er von Abraham ein unannehmbares Opfer fordert: die Opferung Isaaks. Und er fügt noch wie aus grundloser Grausamkeit hinzu „deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst“. Man traut seinen Ohren kaum! Der unglückliche Vater steht früh am Morgen auf, um Holz zu spalten, den Esel zu satteln. Er bricht mit dem Kinde, dem Esel und den beiden Knechten auf. Dieser traurige Zug braucht drei Tage, um bis an den Fuß des von Jahve erwählten Berges zu gelangen. Die Knechte und der Esel gehen nicht weiter. Vater und Sohn setzen ihren Weg fort. Abraham trägt das Feuer und das Schwert, Isaak das Holz. Das Kind fragt den alten Mann: „Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer?“ Abraham, der alles hingenommen, alles erduldet hatte, stößt daraufhin diesen Schrei der Hoffnung und der Liebe Gott entgegen: „Gott wird sich das Opferlamm aussuchen!“11 Sie kennen das Weitere. Gott läßt seinem Diener durch einen Engel sagen, daß er seinen Sohn, seinen einzigen, unersetzbaren Sohn, verschonen möge. Dennoch hatte Gott dieses arme Vaterherz aufs tiefste gepeinigt. Dieses Schwert und dieser Schrei der Liebe finden sich auch an einer anderen Stelle des Alten Testaments vereinigt. Sie kennen die Geschichte: Zwei Dirnen, die jede einen Knaben zur Welt gebracht hatten, leben in einem Hause. Eine der beiden Mütter erdrückt ihren Sohn unabsichtlich im Schlaf. Sie legt ihn in das Bett ihrer Gefährtin, ohne daß diese es bemerkt, und nimmt das lebende Kind an sich. Man kann sich die Szene vorstellen, die es am nächsten Morgen zwischen den beiden wütenden Frauen gibt. Sie beschimpfen einander, werden handgreiflich und beschließen, König Salomo zu bitten, Recht zu sprechen. Jede von ihnen sagt dasselbe:“ Mein Sohn lebt, der kleine Tote ist der Sohn der anderen.“ Wie sich zurechtfinden? In seiner Weisheit gibt König Salomo einer seiner Wachen den Befehl, sein Schwert zu ziehen, das lebende Kind in zwei Teile zu teilen und jeder der beiden Frauen eine Hälfte zu geben. Wie bei Abrahams Opfer gellt der Schrei der Liebe auf, sobald das Schwert ins Spiel kommt: „Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind, und tötet es nicht!“ fleht die echte Mutter.12 Diese beiden biblischen Texte überliefern uns den Sinn der Prüfung. Von dem Augenblick an, da unser Leid unsere Kräfte übersteigt, haben wir keine andere Zuflucht mehr als Gott. Wir dringen in das Herz der Realität. – Macht uns der Glaube zu Realisten? – Der Realismus des Gläubigen ist kein Mythos. Es findet sich immer ein Augenblick in unserem Dasein, wo unser Geist erwacht und wir erkennen, daß diese Realität unseres Lebens das einzige ist, was zählt. Wir müssen sie mit Festigkeit durchleben. Lassen wir uns nicht gleiten, und halten wir mit. aller Kraft daran fest. Gedruckt in: Kardinal Franz König, Glaube ist Freiheit. Erinnerungen und Gedanken eines Mannes der Kirche. Gespräche mit Yvonne Chauffin. – Wien-München-Zürich-New York : Molden, 1981, S. 77-85. 11 „ Gen 22,1-8 12 1 Kön 3,16-26.
© Copyright 2024 ExpyDoc