- Geschichtswerkstatt St. Georg

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Kultur im Gewerkschaftshaus e.V.
Vererbte Kriegserfahrungen –
was lebt in den Kindern
und Enkeln weiter?
Vortrag
Dr. Anna Staufenbiel-Wandschneider
Ärztin und Psychotherapeutin
Kriege, Terroranschläge, Gewalterfahrungen, Flucht und Vertreibung, Katastrophen lösen oft traumatische Erfahrungen aus. Sie belasten die Betroffenen ein Leben lang und werden nicht selten an ihre Nachkommen weitergegeben. Auch bei ihren Kindern oder sogar bei den Enkeln der Betroffenen können die Erfahrungen zu seelischen Störungen führen. Traumata können über Generationen hinweg weiter gegeben werden. Gibt es dafür
Behandlungsmöglichkeiten und Therapien?
Eine Veranstaltung in Kooperation
zwischen der „Geschichtswerkstatt St. Georg“
und „Kultur im Gewerkschaftshaus e.V.“
Dienstag, 26.5.2015, 19.00 Uhr
KLUB im Gewerkschaftshaus, Besenbinderhof 62
Verantwortlich: Wolfgang Rose, „Kultur im Gewerkschaftshaus e.V.“, Besenbinderhof 60, 20097 Hamburg
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
lassen Sie uns biblisch beginnen: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon
stumpf geworden“ ( Ezechiel 18,2) - das steht in der hebräischen Bibel. Schon vor mehr als 2000 Jahren wussten die
Menschen, dass das Tun der Vorfahren Auswirkungen auf die Nachkommen hat.
Kriegserfahrungen und seelische Folgen des 2. Weltkriegs – mit dieser Themenstellung bat mich Michael Joho im
Rahmen der Veranstaltungen der Geschichtswerkstatt St. Georg um einen Vortrag. Ich nehme die Aufgabe als einen
Chance, mit Ihnen gemeinsam nachzudenken, denn fertige Positionen gibt es nicht, es gibt mehr Fragen als Antworten, wir sind weiter eher Lernende als Wissende in diesem Gebiet.
Was sind „Kriegserfahrungen“?
Aus Sicht der Historiker gibt es keine „Kriegserfahrung“,
es gibt „Zeit-Erfahrungen“, also Lebenssituationen, wie
sie für Menschen, die in den Jahren 1939 bis 1945 lebten und sich erinnern können, als zeittypisch bezeichnet
werden können.
An was denken Sie bei „zeittypisch“?
Jeder denkt an etwas Eigenes, etwas, das innen aufbewahrt wurde, verborgen, vernebelt oder viele Male
schon angesehen und erzählbar gemacht.
Das ist sowohl selbst erlebt oder gehört als auch gesehen in Büchern und Filmen, bewahrt wird es als Bildersequenz mit Tönen, Geräuschen, auch Gerüche und
besondere Lichtverhältnisse bleiben in Erinnerung.
Wenn wir jetzt durch die Reihen hindurch jeden bitten
würden, seinen ersten Einfall zum Wort „Kriegserfahrung“ oder „zeittypisch“ für 1939 bis 1945 zu sagen, was
käme wohl zur Sprache? Es kämen Alltagsbilder und
Schreckensszenarien, Bombennächte erlebt als Mutter,
als Kind, Evakuierung, harte körperliche Arbeit, Hunger.
Soldatenerinnerungen an der Front, unterwegs. Verlusterfahrungen aller Art und Schwere, Fluchtszenen.
Bahnhofssituationen. Szenen als Flakhelfer, Tätigkeit als
Krankenschwester, der eingebrannte Augenblicke, als
der Brief mit einer Todesnachricht kam.
Erinnerungen an Alltag wie Schule, Familienärger, Liebeskummer und Lebensfreuden.
Meine Schwester
*1934 erinnert sich, wie sie Granatsplitter sammelte
und tauschte, sie erzählte mir von der Kinderlandverschickung. Die meisten Menschen beginnen, wenn man
sie bittet, von diesen Jahren zu erzählen mit dem Satz :
es gab auch gute Zeiten.
Kann man denn über diese vielfältigen Lebenssituationen etwas aussagen, über ihre Auswirkung auf das Seelenleben damals bis heute?
Was lebt weiter? - die Frage beinhaltet, dass etwas weiterlebt in den Nachkommen.
Diese Frage zielt auf die interpersonellen, die zwischenmenschlichen Vorgänge: die im Fachwort „Transgenerationelle Prozesse“ genannten Geschehnisse.
Was können wir uns darunter vorstellen ?
„trans“ d.h. zwischen den Generationen Großeltern Eltern - Kindern und Enkeln wird „ETWAS“ prozessiert.
Das Wort geht auf procedere zurück d.h. vorwärtsgehen, vorrücken, vortreten.
Im philosophischen Kontext wird Prozess auch als Synonym für „Bewegung“ genommen.
Zwischen zwei und natürlich auch drei, vier und mehr
Menschen finden Bewegungen statt, unsichtbare Fäden
verbinden uns, ein Netzwerk wird gesponnen. Wir haben uns dafür die Vorstellung von energetischen Prozessen, Schwingungen, Vibrations, Resonanzen angewöhnt.
Erlebtes, Gefühltes und vor allem Gedachtes – es
schwingt hin und her, da wird gesendet und empfangen - immerzu in beide Richtungen - davon das allermeiste ohne Worte und ausgeformte Botschaften.
Diese Beschreibung beinhaltet die Vorstellung, dass es
Denken und Fühlen ohne Worte gibt.
Wir sprechen heute Abend hier also über verborgene
Vorgänge, die keiner direkt beobachten kann. Kein Mikroskop, kein Bild im NMR, keine Interviewtechnik, kein
Psychologe finden direkten Zugang zu etwas, das real
geschieht und sich doch nicht enthüllen lässt.
Wir können lediglich Spuren lesen und mittels einfühlsamen Nachdenkens uns „einen Reim darauf machen".
Beispiel
Eine Freundin, 76 Jahre alt, sagt zu mir: Durch diese
ganzen Erinnerungstage, die jetzt so in den Medien sind,
muss ich wieder mal grübeln, was mein Vater im Krieg
getan hat. Ich bedauere so, dass ich ihn nicht gefragt
habe. Heute denke ich, er wäre bereit gewesen etwas
zu erzählen, aber wir haben uns wohl beide immer geschont.“
Was hören Sie? Dieser Satz ist sicher von vielen Nachgeborenen und Kriegskindern gesagt worden.
Eine Botschaft, die ich höre, ist die Angst, der Vater sei
in Gewaltverbrechen verwickelt gewesen. Eine weitere
ist die Frage, wer hat wen geschont und wovor?
vor dem Inhalt der Erzählung?
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vor dem Verlust eines idealen Bildes von der väterlichen Persönlichkeit?
Das würde für mich zu der weiteren Frage führen: Wenn
einer keine Fragen hat, wo sind sie geblieben?
vor dem Unvorstellbaren, dass er erlebt hat?
Dieses Beispiel soll hier folgendes verdeutlichen:
vor der Entdeckung, dass er darüber keine
Scham oder Schuld gefühlte hätte?
Gesprochene Worte sind lediglich eine Ebene der zwischenmenschlichen Prozesse, die gesendeten und empfangenen Botschaften sind zeitgleich um ein Vielfaches
mehr und komplexer und zu trennen von dem, was die
Worte transportieren.
oder dass er über diese Gefühle seiner Lieblingstochter gegenüber nicht hätte sprechen
können?
vielleicht wäre er bei Rechtfertigungen geblieben wäre?
vielleicht wäre er zusammengebrochen?
vielleicht hat die Tochter sich geschont …
Eine Frau von 43 Jahren sagt in einer Therapiestunde :
„Wir hatten ein Familienfest, sicher das letzte, an dem
mein Vater noch dabei war. Irgendwie dachte ich plötzlich, fragt doch mal den Opa, ich hab doch noch die
Chance. Andere haben keine Eltern mehr ? Und dann
habe ich meinen Vater - 87 Jahre alt - echt gefragt, so
als wir nur zu dreien waren, mein Sohn war dabei.
„Opa“ habe ich gesagt, „wie war denn das, damals, was
erinnerst Du denn so vom Krieg“. Und wissen Sie, was er
geantwortet hat? er sagte doch glatt: „Ach weißt Du
Kind, es war nicht alles schlecht beim Hitler.“
„Ich dachte, ich fall um“ fuhr sie fort, ich sagte „Opa,
wie kannst Du das denn sagen ! Der war doch der größte Verbrecher auf der Erde“ und dann dachte ich, lass
uns mal schnell das Thema wechseln. Und er sagte
dann: „Die Deutschen waren damals sehr arm und er
hat ihnen Arbeit gegeben.“
Die Frau machte eine längere Pause und saß nachdenklich da – fuhr dann fort: „und am nächsten Tag habe ich
meinem Sohn gesagt „das war ja wohl heftig, was Opa
da gestern gesagt hat“ Und der hat darauf gar nicht
richtig reagiert.“
Welche Spuren lassen sich hier lesen?
Dieser alte Mann, von dem die Tochter annimmt, dass
er nicht mehr lange leben wird, den sie liebt, schont sie
nicht, er antwortet ihr in gewissem Sinne „unbedacht“,
er nimmt die Zurechtweisung, die ihn wohl nicht überrascht hat, in Kauf.
Er bietet zunächst seinen Satz an, wie eine Formel, so
klingt es in meinen Ohren, vielleicht dient sie ihm als
Abwehrformation? Abwehr gegen was? gegen eigene
Fragen? Das wäre eine Art die Spuren zu lesen, wie sie
mir einfiel.
Vielleicht denken Sie: was soll das heißen, das sei eine
Abwehr? Der hat keine Fragen an sich und an seine
Zeiterfahrungen! Vielleicht macht sie mein Einfall ärgerlich?
Sie zeigt auch: Offene Fragen können deren ungesagte vermutlich wertende Erwartungshaltung - nicht verbergen.
So kann ein Gesprächsversuch wie eine Annäherung
beginnen, ja sogar so gemeint sein und als Distanzierung
mit Ratlosigkeit oder Abwertung weiter gehen.
Und sie soll weiter aufzeigen, dass es bis heute in Familien, die sich miteinander verständigen und verstehen
möchten, unüberwindliche Hürden gibt, die aus Gefühlen und aus Bewertungen bestehen.
2 Zitate aus dem Buch: „Unbewusste Erbschaften des
Nationalsozialismus“, psychosozial-Verlag
Ute Althaus „Lügen Wünsche Wirklichkeiten“ schreibt
dazu: (S 275)
„Wir Kinder der Nazis sind in einer verlogenen Umwelt
aufgewachsen und diese wurde uns zur Normalität.
Worte bedeuteten nicht, was sie zu bedeuten vorgaben.
Lügen wurden als Wahrheit verkauft. ---- Verbrechen
wurden als moralische Pflichterfüllung, Unterwerfung
und Gehorsam wurden als Liebe zu den Eltern angesehen. Die Wirklichkeit der Eltern durften wir nicht sehen
noch durften wir merken oder uns anmerken lassen,
was sie uns antaten.“
Ruth Waldeck: „Spuren des Grauens“ (S 246)
„Ein auf Leid zentriertes Fragen und Sprechen ist nicht
nur für die Fragenden konfliktreich, sondern mehr noch
für das beschädigte Individuum selbst, denn es muss
dazu bereit sein, sich seine seelische Verwundbarkeit
einzugestehen.
Das bedeutet, vom Phantasma der eigenen Stärke Abschied zu nehmen, was mit Beschämung und Ohnmachtsempfinden einhergeht.
Das heißt auch, den Staat als Täter zu benennen, in dessen rassistische Machtpolitik sich die Soldaten einspannen ließen. Vom Leiden …. lässt sich für deutsche
Kriegsteilnehmer und die Zivilbevölkerung also nur
dann lösend sprechen, wenn sie bereit sind, die eigene
Verstrickung in die nationalsozialistische Politik bewusst
werden zu lassen.“
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In diesem Text, in dem es um die Kriegserlebnisse der
Väter und deren Schatten auf die Nachkriegsgeneration
geht, bemüht sich die Autorin – eine Psychotherapeutin
- im Gespräch mit dem Vater um Verständigung mit ihm.
Es heißt es weiter:
„Durch die Zentrierung auf die eigene Verletzlichkeit
entsteht – für viele Soldaten erstmals – bewusst ein
Mitgefühl mit sich selbst. Dies ist Voraussetzung dafür,
allmählich auch Mitgefühl für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und des Krieges zu empfinden
und ein Schuldbewusstsein zu entwickeln. In diesem
Konflikt zwischen dem Wunsch, sich Belastendes von
der Seele zu reden und der Angst vor den dann möglich
werdenden Einsichten, vor Scham – und Schuldgefühlen
befindet sich die am Nationalsozialismus beteiligte Generation.“
Was lebt weiter in uns?
Diskussion zum Thema „seelische Auswirklungen vom 2.
Weltkrieg“ anzuregen, ist in einem solchen offenen
Rahmen nicht ohne Risiko, es ist unvermeidlich, dass das
Thema persönliche Erinnerungen auftauchen lässt, deren emotionale Wucht unerwartet groß sein kann.
Wir Menschen brauchen dann eigentlich einen geschützten Rahmen und die Zusicherung, dass ein begonnenes Sprechen Fortsetzung finden kann, dass Interesse aneinander da ist.
Das kann eine solche Veranstaltung nicht leisten.
So möchte ich zumindest sagen: Sollte bei jemandem
von Ihnen heute etwas aus der Erinnerung aufsteigen
und ihn sehr aufwühlen, dann rate ich Ihnen, geben sie
sich genug Zeit, um die Bilder abklingen zu lassen,
schreiben Sie auf, was aufgetaucht ist, das kann bei der
Verarbeitung helfen, wenn möglich, sprechen sie in den
kommenden Tagen mit vertrauten Menschen darüber –
möglichst auch über ihre Gefühle und ihre Fragen.
Kranksein vor allem wenn Arbeitsunfähigkeit und ihre
sozialen Folgen das Leben ändern, wenn das Selbstbewusstsein wegbricht, weil krankheitsbedingt die Rollen
im Alltag sich ändern, dann reagiert jeder emotional.
Vor allem weil Hilfsbedürftig - Sein, Angst und Verlassenheit erfahren werden.
Dann kommt zum Tragen, dass jeder Mensch individuelle Möglichkeiten der Bewältigung von Krisen in sich hat.
Diese sind in Familien tradiert, aber sie sind auch von
der Gesellschaft, d.h. sie sind zeittypisch geprägt
Sie sind nicht nur private Angelegenheit und Ausdruck
individueller Lebensauffassung.
Meine Möglichkeit zur Frage, was lebt in uns weiter?
etwas zu sagen, bezieht sich auf mein berufliches Gebiet: Krankheitsbewältigung und Umgang mit Schmerz,
Angst und Trauer.
Der psychohistorische Blick
Dass in der ärztlichen Praxis und der Psychotherapie der
„psychohistorische“ Blickwinkel eine bedeutende Rolle
spielt – spielen sollte, ist eine moderne Sicht.
Modern in dem Sinne, als sie die aktuellen psychologischen und psychotherapeutischen Vorstellungen der
Persönlichkeitsentwicklung aufnimmt.
Wurden Sie von einem Arzt nach Kriegserfahrungen –
eigenen und denen ihrer Vorfahren schon einmal gefragt?
Was denken Sie, wenn Ihnen diese Blickrichtung angeboten würde? Wollen Sie das?
Auf viele Menschen wirkt es meist erstmal befremdlich
und führt zu Einwänden – etwa wie

das liegt doch alle sehr lange zurück,
Zu meiner Person

das haben ja damals alle erlebt,
Dass Michael mich anfragte, hat mit meiner beruflichen
Tätigkeit als Ärztin und Psychotherapeutin zu tun – weil
ich mich damit beschäftige, dass es innere, vor allem
unbewusste Verbindungen geben kann zwischen frühen
Lebenserfahrungen und späterem Krankwerden - das
können seelische Leiden sein wie z.B. Angsterkrankungen, Depression und chronische Schmerzen ohne körperliche Ursache. Aber auch körperlich Kranke kommen zur Psychotherapeutin und fragen nach der eigenen Lebensgeschichte oft nach den Folgen von einschneidenden Belastungen.

was nützt es, daran zu denken, jeder musste mit
seinem Schicksal fertig werden,

offensichtlich hat es ja den meisten nicht geschadet,

man kann doch nicht dem, was heute ist, entrinnen
und

was heute in den Familien läuft auf die Ereignisse
von damals schieben, das geht nicht,

die alten Geschichten wühlen doch nur auf und wecken Angst und Schrecken auf, und steigern nur die
Verzweiflung
Was kann Psychotherapie da „machen“, wenn das Leben schwer war?
Es gibt noch ein anderes Hemmnis nach dem Leiden in
der eigenen Familie zu fragen:
Aus der Lebensgeschichte lassen sich die inneren Einstellungen, die Haltungen von Betroffenen verstehen.
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Die eigenen Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus
und den Kriegsjahren nicht wichtig zu nehmen, war und
ist aus der Einsicht geboren, dass der Krieg von Deutschland ausging und dass die NS Verfolgungspolitik sehr
vielen Menschen, so viel Leid zugefügt hat, dass nur die
Folgen dieser Massenverbrechen zum Thema werden
dürfen.
Diese lange verbreitet Haltung hat damit zu tun, dass
Scham und Schuld, ebenso auch von uns Nachgeborenen übernommenen Schamgefühle und Schuldgefühle
eine Barriere aufrichteten, sich mit dem Leid der deutschen Täter - Opfer zu beschäftigen. Damit wird immer
die Sorge verbunden, dass durch das Anerkennen, dass
Täter traumatisiert sind, das Leiden der Opfer relativiert
werde
Es ist eine fachliche und eine politische Diskussion, ob
die Leiden von Opfern von Gewalt und das Leiden von
Tätern und Mitwissern vergleichbar seien und worin ihr
Unterschied besteht.
Über die Folgen des 2 Weltkrieges zu sprechen geht
nicht, ohne darüber zu sprechen, dass alle unter der
Diktatur, unter dauernder Propaganda lebten. Diese
setzte alles daran, die Ideologie der Stärke, des Herrenmenschentums einzupflanzen. Das propagierte Menschenbild beinhaltete das systematischen Abtrainieren
von Mitleid.
Die Gewaltherrschaft begann, wie Sie alle wissen, 1933,
d.h. nicht erst im Krieg.
Es darf und muss Thema sein, was die Lebenswege der
heutigen Alten entscheidend geprägt hat, denn deren
Verstrickungen, Schuld und deren Leid hat auf unsere
Kultur und Gesellschaftsentwicklung große Wirkungen.
Dabei gilt es sowohl das Leben und Aufwachsen im
Nationalsozialismus und die Kriegsjahre zu bedenken beides ist miteinander engstens verwoben.
Die Kommunikation in Familien wird weiterhin davon
tiefgreifend geformt, beides wirkt auf die bewusste und
unbewusste Auswahl, von dem was sagbar und unsagbar ist - was denkbar und undenkbar ist, was gefühlt
werden kann und was unfühlbar bleibt.
Tatsachen - Zahlen
ich muss jetzt einige wesentliche Zahlen nennen: Als
Kriegstote oder Menschenverluste des Zweiten Weltkrieges werden im engeren Sinn die Menschen bezeichnet, die seit dem Kriegsbeginn in Europa am
1. September 1939 bis zur Kapitulation Japans am
2. September 1945 durch Kriegshandlungen getötet
wurden; im weiteren Sinn auch die, die durch Massenverbrechen im Kriegsverlauf und Kriegsfolgen ihr Leben
verloren.
Die Schätzungen, die Verbrechen und Kriegsfolgen einbeziehen, reichen bis zu 80 Millionen Kriegstoten. Für
die durch direkte Kriegseinwirkung Getöteten werden
meist zwischen 50 und 56 Millionen angegeben.
(Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Reihe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 2008.)
5,3 Mill deutsche Soldaten starben - von mehr 18 Mill
eingezogenen Soldaten zwischen 1939 und 45 - 1,1 Mill
vermisste Soldaten - etwa 500.000 Menschen starben
im Bombenkrieg, die Hälfte Frauen und Kinder.
Die toten Soldaten und die vermissten hinterließen
mehr als 1,7 Mill Witwen, fast 2,5 Mill Halbwaisen, etwa ein Viertel aller Kinder wuchsen nach 1945 ohne
Vater auf.
11 Mill körperlich und vor allem seelisch schwer verletzte, verstümmelte Männer kamen zwischen 1945 bis 55
ins Alltagsleben zurück.
Opfer deutscher Massenverbrechen :
Gesamtzahl 13.109.600
Was lebt weiter?
Kriegsfolgen aus medizinischer und psychologischer
Sicht.
Es gab eine Zeit, in der war in Lehrbüchern der Psychiatrie unter den Stichworten Krieg, Verfolgung, Ausbombung, Vertreibung, Vergewaltigung nichts zu finden.
So hielt die psychiatrische Wissenschaft lange an der
Annahme fest, „Psychisches Leiden infolge extremer
Gewalterfahrung sei in der Regel auf eine anlagebedingte Schwäche und nicht auf das Erleben selbst zurückzuführen. Wer Leid nicht zügig bewältigen konnte, galt als
Neurotiker.
Ärzte und Patienten saßen sich also in Sprachlosigkeit
und Hilflosigkeit gegenüber. Dieses „Dogma der Stärke“
beherrschte den psychiatrischen Diskurs in Deutschland
nach beiden Weltkriegen
Große gesellschaftliche Umbrüche führten zu neuen
Einsichten. Der gesellschaftliche Diskurs um den
Auschwitzprozess herum und die psychiatrischen Auffälligkeiten vieler Vietnam - Heimkehrer, die die Entwicklung von „Psychotraumatologie“ als Fachgebiet anstießen, müssen hier in aller Kürze als zwei Hinweise darauf
dienen, dass in den 70iger Jahren das psychiatrische,
psychologische soziologische und politische Denken
sich wandelte.
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Dass Gewalterfahrungen zu bleibenden Veränderungen
der Persönlichkeit führen können, wurde nun wissenschaftlich anerkannt.
Wir kommen zu dem Begriff „Trauma bzw. Psychotrauma“
Was ist „PTSD“ d.h. post traumatic stress disorder posttraumatische Belastungsstörung?
Fischer und Riedesser definieren „Trauma“ in ihrem
Lehrbuch der Psychotraumatologie (München, 1998, S.
79.) als:
„[…] ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit
und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis
bewirkt.“
Das amerikanischen System DSM-IV-TR sieht das Trauma- Kriterium erfüllt, wenn die beiden folgenden Aspekte gleichzeitig vorliegen:
„(1) die Person erfuhr, beobachtete oder war konfrontiert mit einem oder mehreren Ereignissen, die tatsächlichen oder drohenden Tod, tatsächliche oder drohende
ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der
körperlichen Unversehrtheit von einem selbst oder Anderen einschloss.
(2) die Reaktion der Person schloss starke Angst, Hilflosigkeit oder Grauen ein.
Hinweis: Bei Kindern kann sich das stattdessen in Form
von desorganisiertem oder agitiertem Verhalten äußern.“
Stand der Forschung in Deutschland
Generation der Kriegsteilnehmer und bei den sogenannten „Kriegskinder“, die 1933 bis 45/47 geborenen, zu ?
Michael Ermann (München): Die bislang (Stand 2010)
größte Studie zum Thema "Kriegskindheit" ergab u.a.
Kriegskinder leiden bis heute weit häufiger unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Rund ein Viertel der befragten Kriegskinder zeigte sich
stark eingeschränkt in der psychosozialen Lebensqualität, damit sind die Beziehungen gemeint, ob diese als
ausreichend gut empfunden werden.
Jede/r Zehnte war traumatisiert oder hatte deutliche
traumatische Beschwerden, zum Beispiel wiederkehrende, sich aufdrängende Kriegserinnerungen, Angstzustände, Depressionen und psychosomatische Beschwerden wie Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen
Gewalterfahrung und Psychosomatik
Warum nehmen die psychischen und psychosomatischen Krankheiten im Alter zu?
Im Alter nehmen die Verluste, die jeder erleben muss,
zu. Eltern, Partner und Freunde sterben, Kinder und
Enkel gehen weg, Hören, Sehen, Potenz und Denkfähigkeit nehmen ab, Gelenke werden steif, schmerzen, die
Beweglichkeit ist eingeschränkt.
Auch die sozialen Funktionen und Ämter werden in der
Regel weniger.
In dieser Lebensphase hat jede/r also Verlusterfahrung
hinter sich, erlebt sie aktuell und viele noch vor sich.
Nach Hartmut Radebold können wir davon ausgehen,
dass etwa die Hälfte der Jahrgänge 1930 bis 32 bis 194748 unter lang anhaltenden und unter dauerhaft beschädigenden Einflüssen ihre Kindheit und Jugend verbrachten.
Stellen Sie sich es so vor: Bedeutende emotionale Ereignisse werden „im Inneren abgelegt“ - im Gedächtnisspeicher. Wie ein jede/r mit Trennung, Verlust, Schmerz
und Trauer umzugehen vermag, ist ein in Familien eingeübter und von der umgebenden Gesellschaft geprägter Vorgang.
Als belastende bis traumatisierende Ereignisse gelten:
Die Bindungsforscher (John Bowlby) sprechen von
„Modellszenen und innere Arbeitsmodellen“, die sich
formen und in Krisen als Denk - Fühl - und Handlungsanweisungen dienen.
häufige Fliegeralarme, Ausbombungen, Evakuierung,
Flucht, Hunger, Armut, langfristige und dauerhafte Abwesenheit der Väter, Mütter, Geschwister und anderer
zentraler Bezugspersonen.
Seine Forschung ergab, dass mehr als 15 % der heute
über 60 jährigen unter Angstkrankheiten, depressiven
und psychosomatischen Störungen leiden. Ein europäischer Vergleich ist wegen der unterschiedlichen Methoden von Datenerhebung nicht möglich.
Radebold ging der Frage nach, warum nehmen vor allem
psychosomatische und seelische Krankheiten in der
Wir haben aber noch etwas mehr im Speicher, nicht nur
„Drehbücher“, sondern auch Wertefühler und kontrollen und diese stammen von den Elterngenerationen.
Nach Sigmund Freud in „Totem und Tabu“ sei keine
Generation imstande, bedeutsame seelische Vorgänge
vor der nächsten zu verbergen.
Freud schreibt 1933 in „Neue Folgen der Vorlesungen“
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„So wird das Über - ich des Kindes eigentlich nicht nach
dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen ÜberIchs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt,
es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen
Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.
Sie erraten leicht, welch wichtige Hilfen für das Verständnis des sozialen Verhaltens der Menschen sich aus
der Berücksichtigung des Über-Ichs ergeben“
Das heißt: Was meine Vorfahren für falsch und richtig
ansahen, habe ich verinnerlicht.
Wenn ich nun im Alter von z.B. 70 Jahren durch eigene
Krankheit, Verlust und Einsamkeit traurig bin, kommen
die Lebensthemen der frühen Jahren in Berührung mit
heutigem Erleben.
Nun werden die Anlässe zum Trauern und Traurigsein
häufiger.
Aber was konnte ein Mensch zwischen 1933 und der
Nachkriegszeit übers Trauern kennen lernen?
Während der Jahre ab 1933 und lange bis nach 1945
herrsche eine Art Verbot zu Trauern
Unsere Vorfahren lernten vor allem nicht, gemeinsam
zu trauern. Sie kultivierten nicht, den Trost, den Gemeinschaft in der Zeit des Abschiednehmens und der
Trauer bedeuten kann.
Sigrid Chamberlain analysierte NS Erziehungsbücher von
Johanna Haarer.
„Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“
so hieß ein Erziehungsbuch, dass millionenfach in Haushalten gelesen wurde.
Das Erziehungsideal im Dritten Reich kann nach A. Eckstaedt so beschrieben werden:
„Ein Kind soll früh abgehärtet werden. Dieses Abhärten
bezog sich nicht allein auf die Stärkung körperlicher
Widerstandskraft, sondern ebenso auf psychisches
Wachstum. Gefühle galten als Verzärtelung, die der
Ertüchtigung entgegen stand und wurden so lange unterdrückt, bis sie gar nicht mehr erlebt wurden. Man
fror nicht, man schob den Gang zur Toilette auf, ein
Junge weinte schon gar nicht, man fürchtete sich nicht,
sondern zeigte Mut, Stärke Unerschrockenheit“.
„Das war damals die Auffassung“, denken Sie jetzt vielleicht. So war eben autoritäre, disziplinierende Erziehung. Nun muss klar unterschieden werden: eine autoritäre Erziehung ist nicht dasselbe wie eine nationalsozialistische. Es muss noch ein Aspekt hinzukommen: es ist
der, dass eine nationalsozialistische Erziehung immer
eine Erziehung zur Bindungslosigkeit bis zur Bindungsunfähigkeit ist.
Zusammenfassung:
Was unter der Idealisierung von Abhärtung und Gefühlskontrolle abtrainiert wurde, fehlt nun.
„Kriegserfahrungen“, d.h. Gewalterfahrungen und Verlusterfahrungen waren für die Kriegsgeneration und die
Kriegskinder mit dem Einüben von Gefühlskontrolle
verbunden.
Die Forschung zeigt, dass, wenn Angst und Hilflosigkeit
erfahren werden, Schutzsuche, Suche nach Nähe und
Geborgenheit die wichtigsten Heilmittel sind.
Mit dem eigenen Leid Trost und Geborgengeit bei Anderen zu suchen, war tabuisiert, es herrschte das Verbot
zu trauern.
Wenn es nicht genügend Schutz gibt, sind Erstarrung,
Fühllosigkeit und im weiteren Verlauf dann Minderwertigkeitsgefühle die Folge.
Erfahrung von mitfühlender Gemeinschaft im Leid fehlte.
Die ungefühlten Emotionen, die unter der Erstarrung
nicht verschwinden, können sich z. B. in Herzdruck, Unruhe, Schlafstörung, Müdigkeit, Lebensangst zeigen.
Das ist eine zentrale Hypothese, wie psychosomatischen
Symptom entstehen können,
einschließlich eines
psychohistorischen Blickwinkels.
Wir sind nun bei der Frage nach der nationalsozialistisch
Erziehung und Propaganda und ihren Spätfolgen.
Haben wir uns von deren Menschenbild und gesellschaftliche Implikationen erholt?
Wohin haben wir uns in den Jahren von 1945 bis heute
entwickelt?
Das Ideal der Stärke und das Ausgrenzen und Entwerten
von allem, das als schwach und anders angesehen wurde, war herrschend.
Einfühlsamkeit, Bindungsfähigkeit und Nähe waren keine Ideale.
Diese Erziehungs-„ideale“, dieses Menschenbild lebt in
den Kindern, Enkeln und Urenkeln nicht ungebrochen
weiter. Seit Ende der 60 iger Jahre hat sich viel entwickeln können.
Die Frage nach dem Erbe führte zu Frage nach unserem
Menschenbild.
Dem jedes Einzelnen von uns und dem, das gesellschaftlich handelnde Gruppen wie Parteien, Gewerkschaften,
Kirchen und religiöse Gruppen, Geschäftsleute, Finanzmanager, Juristen, Pädagogen und Ärzte u.v.a.m. in
Wort und vor allem in Tat zum Ausdruck bringen.
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Als Ärztin habe ich den Schwerpunkt darauf gelegt, dass
es gesellschaftlich hergestellte und zu verantwortende
Zustände sind, wie Alte und Kranke behandelt werden,
wie Ungeborene und Neugeborene und Kinder gesehen
werden, wie Todkranke und Sterbende leben können.
fühlsamkeit, mit Linderung von Angst, was mit Respekt
vor den Bedürfnissen zu tun hat.
Auch an was und wie geforscht wird, hat mit den Vorstellungen, was Menschen zum guten Leben brauchen,
zu tun. Wissenschaftliche Forschung steht immer im
Dienst des erwünschten Menschenbildes. Wir sehen
eine Entwicklung, die die Versorgung von Kranken mit
gutem medizinischem Handwerk und reduziertem pflegerischen Einsatz als Produkt, als Ware anbietet und
verkauft.
Wenn von „Humankapital“ gesprochen wird, wenn der
Trend der „Selbstoptimierung“ kritiklos propagiert wird,
wenn die Vorstellung, dass „die Gene“, „das Erbgut“ und
nicht, wie wir leben, für Gesundheit und Krankheit von
zentraler Bedeutung sind, sind wir dann im Bann des
post-faschistischen Denkens, ohne es zu erkennen?
Hirnforscher und Genetiker bestimmen die medizinischen Forschungsrichtungen weitaus stärker als Sozialmediziner und Ärzte, die den Leib - Seele - Dualismus
überwinden wollen.
Es gibt in der Gesellschaft beides: Gruppen, die die Fähigkeit zu solidarischem Handeln als hohes Gut festhalten und einfordern, wo es bedroht ist – sie sind für mich
die Erben des antifaschistische Denkens und Handelns
es gibt z.B. Pädagogen und Jugendmediziner, die Kinder
als Individuen sehen und ihre Entwicklung respektvoll
fördern wollen.
Was als heilsam und menschenwürdig angesehen wird,
ist eine gesellschaftliche „Vereinbarung“. Der Umgang
mit Schutzbedürftigkeit, mit Angst und Hilflosigkeit ist
ein zentrales menschliches Thema, es ist und sollte ein
Prüfstein für den Zustand von Gesellschaften, für ihre
Menschlichkeit sein.
Mit großer Sorge und scharfer Kritik sollten wir z.B. die
Situationen in Krankenhäusern und Pflegeheimen sehen und begleiten, wo die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte immer mehr verschlechtert werden. Diese
Entwicklung mindert und behindert alles, was mit Ein-
Sind das die Folgen nationalsozialistischer Erziehung,
von Krieg und Nachkrieg in der zweiten, dritten und
vierten Generation?
Es gibt starke Gruppen, die Abhärtung, Leistungsfähigkeit und hohe Belastbarkeit idealisieren und das Leben
von Bedürftigen immer mehr erschweren.
Ein Ergebnis dieses Abends sollte sein, uns die historischen Wurzeln dieser Denkrichtungen ins Bewusstsein
zu heben, damit wir wachsam bleiben.
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Bücherliste
Folgen der Verfolgung
William G. Niederland
Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945
Die vergessene Generation
Alexander Kluge
Sigrid Bode
Dabei war ich doch sein liebstes Kind
Kriegsenkel
Tilmann Moser
Sigrid Bode
Kinder der Opfer Kinder der Täter
Schweigen die Täter, reden die Enkel
Bergmann u.a.
Brunner, von Seltmann
Die Gesellschaft der Überlebenden
Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes
Kind
Sigrid Chamberlain
Svenja Goltermann
Vernichten und Heilen
Ebbinghaus, Dörner
Transgenerationelle Weitergabe kriegsbelasteter
Kindheiten
Radebold, Bohleber, Zinnecker
Bindung und Gefahr
Stokovy, Sahhar
Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus
Lohl, Moré
Normalität und Nationalsozialismus
Kaminer I. 1997
Die Vergangenheit ist gegenwärtig
Psyche 51 S 385 – 409 (kann von mir abgerufen
werden)
psychosozial Heft 36 1988/1989
Generation, Unbewusstes und politische Kultur
Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und ihre
Familien
psychosozial Heft 68 1997
Lamparter, Wiegand-Grefe, Wierling
Kindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen
psychosozial Heft 92 2003