„Preußisch-deutsch“ und „wallonisch“: Zur Identitätsproblematik der „Malmedyer Wallonie“ im Ersten Weltkrieg Christoph Brüll Durch die Artikel 32-34 des Versailler Vertrags wurden die beiden deutschen Grenzkreise Eupen und Malmedy nach einer umstrittenen Volksbefragung im Jahr 1920 Belgien zugeschlagen. Dabei wies der Kreis Malmedy eine Besonderheit auf: er war zwei- bzw. dreisprachig Deutsch-Wallonisch-Französisch. Tatsächlich waren rund 10.000 Wallonen seit den Beschlüssen des Wiener Kongresses von 1815 Bürger Preußens und später des Deutschen Kaiserreichs gewesen. Der Beitrag fragt nach ihrer Identität im Kaiserreich, wo sie zu Kollateralopfern der gegen größere Minderheiten gerichteten Germanisierungspolitik wurden. Hieraus resultierte wiederum ein wallonischer Kulturpartikularismus an der deutschbelgischen Grenze. Dabei wird auch deren Offenheit während des „langen“ 19. Jahrhunderts deutlich, die durch intensive grenzüberschreitende soziale, wirtschaftliche und auch kulturelle Kontakte gekennzeichnet ist. Der Beginn des Ersten Weltkriegs wurde deshalb als umso dramatischer empfunden. Die Haltung der Bevölkerung in der so genannten Preußischen Wallonie während des Kriegs ist jedoch bisher von der Forschung kaum in den Blick genommen worden. Deutlich lässt sich jedoch der Einfluss eines sich nunmehr erheblich beschleunigenden Nationalisierungsprozesses an der Grenze zum besetzten Belgien ausmachen. Auf der Grundlage der im Staatsarchiv Eupen erhaltenen Bestände des Kreisarchivs Malmedy sollen die Auswirkungen des Krieges auf die kleinste Minderheit im Westen dargestellt werden. Gefragt werden soll nach Misstrauensbekundungen „von oben“, nach potentiellen Loyalitätskonflikten, z.B. in Form von Desertionen, ggf. nach Nachkriegsvorstellungen der Betroffenen und nach einem Wandel von Zugehörigkeitsgefühlen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf jene (überaus seltenen) Akteure gelegt, die schon vor 1914 einen Anschluss des Gebietes an Belgien gefordert hatten und die sich der besonderen Aufmerksamkeit der preußischen Behörden gewiss sein konnten. Kaum zu überschätzen ist auch die Bedeutung der Pfarrer, die in einer als streng katholisch geltenden Region erheblichen Einfluss auf das politisch-gesellschaftliche Leben und – selbstverständlich – auf die Trauerarbeit für gefallene Soldaten (deren Zahl sich auf einige Hundert beläuft) nahmen. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Erfahrung des Kriegsendes und der darauf folgenden Besatzungszeit durch britische Truppen, die im August 1919 von belgischen Soldaten abgelöst wurden. Diese Fragen sind bisher, so sie denn überhaupt gestellt worden sind, zumeist aus der Perspektive des Staatenwechsels von 1920 beantwortet worden. Der Kampf einiger Akteure für die Behauptung einer wallonischen Identität innerhalb des Kaiserreichs wurde in der belgisch-nationalen Historiographie zu einem Kampf für die Eingliederung durch Belgien umgedeutet, die Zugehörigkeit zu Preußen zum darkage der lokalen Vergangenheit erklärt – wobei die Zugehörigkeit zur französisch-wallonischen Sprachgemeinschaft hier eine andere Ausgangslage schaffte als für ebenfalls an Belgien abgetretenen deutschsprachigen Gemeinden um die Städte Eupen und St. Vith. Diese Narrative entfalteten ihre durchschlagende Wirkung jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der 1940 erfolgten Wiedereingliederung Eupen-Malmedys durch das „Großdeutsche Reich“. Der Beitrag unternimmt den Versuch, die Entwicklung der Jahre 1914-1920 nicht von ihrem Ende her zu betrachten, wobei der – bisher vernachlässigten – erfahrungsgeschichtlichen Perspektive besondere Bedeutung zukommt. Insofern zielt er ebenfalls darauf ab, die Grenzgeschichte aus der Zentrum-Peripherie-Perspektive zu lösen und – auch sehr kleine – Grenzregionen als Akteur (und nicht als bloßes Objekt) zu fassen. Kurzbiographie: Christoph Brüll ist Chercheur qualifié (Research Associate/unbefristet) des Nationalfonds für Wissenschaftliche Forschung (FNRS) am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Lüttich. Forschungsschwerpunkte: deutsch-belgische Beziehungen; Geschichte der deutschen „Westforschung“ und vergleichende Geschichte des Antikommunismus nach 1945 Publikationen (u.a.): Eupen-Malmedy, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, www.1914-1918-online.net, (im Erscheinen); ZOOM 1920-2010. Nachbarschaften neun Jahrzehnte nach Versailles, Eupen 2012; Verbotene Erinnerung? Die Neu-Belgier und der Erste Weltkrieg (1918-1925), in: Patrick Nefors und Pierre-Alain Tallier (Hrsg.), Quand les canons se taisent. Actes du colloque de Bruxelles, 6-8 novembre 2008, Brüssel 2010, S. 578–590.
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