Bild: shutterstock.com Grundlagen Sie ist eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit. Sie kennt emotionale und rationale Aspekte. Irgendwo dazwischen liegt wohl die Antwort. Wir müssen uns fragen, wie viel Sicherheit wir eigentlich wollen und was wir bereit sind dafür zu bezahlen. Wie viel Sicherheit wollen wir und was ist sie uns wert? VON PROF. DR. IUR. HANSJÖRG SEILER W o gearbeitet wird, gibt es gelegentlich Arbeitsunfälle, oft mit schwerwiegenden Auswirkungen für die Verunfallten und ihre Angehörigen, aber auch für die Arbeitgeber und die Versicherungen. Es ist daher ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten, dass Sicherheitsmassnahmen getroffen werden, um Unfälle zu vermeiden. Allerdings haben Sicherheitsmassnahmen auch Nachteile: Sie verursachen in der Regel Kosten, seien es direkte Kosten von Sicherheitseinrichtungen, seien es Prof. Dr. iur. Hansjörg Seiler ist Bundesrichter. Safety-Plus 3/10 Kosten durch reduzierte Verfügbarkeit oder Produktivität. Wer immer verpflichtet ist, Sicherheitsmassnahmen zu treffen, wird sich daher fragen, welche Massnahmen er noch treffen will oder muss und auf welche man verzichtet, weil sie schlicht zu teuer sind. Oder anders gefragt: Was ist uns Sicherheit wert? Manche Leute mögen diese Frage intuitiv als provokativ oder gar zynisch empfinden. Haben denn Leben und Gesundheit nicht oberste Priorität? Müsste man nicht alles Erdenkliche tun, um Unfälle zu vermeiden und Leben zu schützen? Diese Fragen sind – so hart das auf den ersten Blick scheinen mag – zu verneinen: Trotz aller Sicherheitsmassnahmen ereignen sich immer noch Unfälle. Mit weiteren Sicherheitsmassnahmen könnten diese reduziert werden, aber in der Regel mit zusätzlichen Kosten. Irgendwann einmal werden die Kosten exorbitant. Trotzdem können auch die ausgeklügeltsten und aufwändigsten Massnahmen nie eine hundertprozentige Sicherheit gewährleisten: Das Streben nach dem Null-Risiko ist eitles Bemühen. Wer alles tun will, um Unfälle zu vermeiden, wird nichts anderes mehr tun können, weil er dafür schlicht kein Geld mehr hat. Das ist im Privatleben selbstverständlich: Wir alle gehen täglich gewisse Risiken ein, die vermeidbar wären, aber nur um den Preis bestimmter Kosten oder anderer Nachteile wie beispielsweise dem Verzicht auf einen bestimmten Nutzen oder Vorteil. Dasselbe gilt für die Gesellschaft als Ganzes. 15 Auch aus rechtlicher Sicht müssen nicht alle erdenklichen Sicherheitsmassnahmen getroffen werden. Das Gesetz verpflichtet die Arbeitgeber, zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den gegebenen Verhältnissen angemessen sind (Art. 82 Abs. 1 UVG). Verlangt werden also nicht alle Sicherheitsmassnahmen, sondern nur die angemessenen. Das entspricht dem Verhältnismässigkeitsprinzip, welches ein genereller Grundsatz allen staatlichen Handelns ist (Art. 5 Abs. 2 BV). Dieses besagt, dass nur geeignete und nötige Massnahmen zu treffen sind, die zudem ein vernünftiges Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag beziehungsweise zwischen Kosten und Nutzen aufweisen. Damit ist aber erst sehr allgemein umschrieben, was erforderlich ist. Die Frage, wo die Grenze zwischen den notwendigen und den nicht mehr notwendigen Massnahmen verläuft, ist damit noch offen. Vorschriftenbasiertes Sicherheitsrecht Nach Art. 83 Abs. 1 UVG erlässt der Bundesrat nach Anhören der unmittelbar beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen Vorschriften über technische, medizinische und andere Massnahmen zur Verhütung von Berufs- unfällen und Berufskrankheiten in den Betrieben. Gestützt darauf hat der Bundesrat eine Vielzahl von Vorschriften erlassen, namentlich die Verordnung über die Unfallverhütung (VUV). Nach Art. 3 Abs. 1 VUV muss der Arbeitgeber zur Wahrung der Arbeitssicherheit alle Anordnungen und Schutzmassnahmen treffen, die den Vorschriften dieser Verordnung und den für seinen Betrieb sonst geltenden Vorschriften über die Arbeitssicherheit sowie im Übrigen den anerkannten sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Regeln entsprechen. Die VUV und viele weitere Verordnungen schreiben für manche Tätigkeiten bestimmte Sicherheitsmassnahmen vor. Diese Vorschriften bezeichnen die bei der entsprechenden Tätigkeit anzuwendende Sorgfalt und umschreiben damit (indirekt) auch das zu vermeidende beziehungsweise umgekehrt das akzeptable Risiko. Die rechtliche Bedeutung solcher Vorschriften liegt darin, dass ihre blosse Missachtung bestraft wird, auch wenn kein Unfall eingetreten ist (Art. 112 Abs. 4 UVG), und dass die Verantwortlichen wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung (Art. 117/125 StGB) bestraft werden können, wenn wegen der Missachtung der Vorschriften jemand getötet oder verletzt worden ist. Daneben hat die Missachtung der Vorschriften auch haftpflicht- und versicherungsrechtliche Bedeutung. Umgekehrt liegt grundsätzlich keine strafbare Sorg- faltswidrigkeit vor, wenn sich trotz Einhaltung der Vorschriften ein Unfall ereignet. Das Sicherheitsrecht ist somit weitgehend vorschriftenbasiert, oder, in den Worten des Bundesgerichts: «Das Mass der im Einzelfall zu beachtenden Sorgfalt richtet sich, wo besondere, der Unfallverhütung und der Sicherheit dienende Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, in erster Linie nach diesen Vorschriften … Sie bezeichnen einerseits das bei der entsprechenden Tätigkeit üblicherweise aufzubringende Mindestmass an Sorgfalt und enthalten andererseits eine Entscheidung darüber, welche Risiken gemeinhin in Betracht gezogen werden müssen (…)» (Urteil 6S.311/2005 vom 26.10.2005, E. 3.1.3). Die gesetzliche Vorgabe angemessen wird also auf Verordnungsstufe übersetzt mit vorschriftsgemäss. Man spricht von einem vorschriftenbasierten Sicherheitsrecht: Einhaltung der Vorschriften impliziert eine genügende Sicherheit und umgekehrt: Missachtung der Vorschriften bedeutet ungenügende Sicherheit. Ein solches vorschriftenbasiertes Sicherheitsrecht hat Vorteile. Es schafft Klarheit und Rechtssicherheit: Man weiss, woran man ist. Zudem schafft es Rechtsgleichheit: Für alle Betriebe gelten die gleichen Vorschriften. Schliesslich wird der Vollzug vereinfacht: Die Kontrollorgane müssen nicht die Sicherheit beurteilen, sondern nur kontrollieren, ob die Vorschriften eingehalten sind. !"#$%&'(( )*('+,-(.'-/ !"#$%&''()*&+,-./,01"&)2 !"#$%&'()!*')+*"#),-#.'(/)/'.)0.1'*%2)3$.%#)1*'%'%)'*(')4567+8 +'(/')04+,7#92):.;6'++*;('99'.)0.1'*%++"#4%&<)='%'+%'%)>;():.;?+) 6$.):.;?+2 01"&),!3,4,5."/678$/6$9,::,4,;:;;,!"<$')$%=,4,>$<2,?@:,A?B,C:,::,, DEF,?@:,A?B,C@,GC,4,%/H.I6*$"&)JE92(),4,66626*$"&)JE92() 16 !"#$%&'()*+,-./0-+1+2345611777/ !"#$%&'( )*+#,"-./0/1&23 4%,"56$7 889:&;/-<%1/*=#$7,// >/?& @A2&93&BC9&C:&2: D6E& @A2&93&BC9&C:&2C F6.?& .*5%G,"#$%H$7 Safety-Plus 3/10 004894/877789:0; Dem stehen Nachteile gegenüber: Vorschriften sind oft kompliziert, scheingenau oder lückenhaft, indem sie nicht alle gefährlichen Situationen erfassen. Sie sind zudem starr, unflexibel, behindern teilweise die Eigenverantwortung und sind manchmal inkohärent. Sie schaffen zudem eine Sicherheitsillusion: Sie erwecken den Eindruck, dass bei ihrer Einhaltung Sicherheit garantiert sei; dieser Eindruck täuscht: Auch wenn alle Vorschriften beachtet werden, kann es Unfälle geben. Schliesslich schaffen sie keinen Bezug zwischen Aufwand und Nutzen. Vielleicht ist die Befolgung der Vorschriften sehr aufwändig, ohne dass ein entsprechender Gewinn an Sicherheit vorläge. Vielleicht wären umgekehrt viel kostengünstigere und wirksamere Sicherheitsmassnahmen denkbar, die aber nicht vorgeschrieben sind und deshalb nicht getroffen werden. Die Grundphilosophie des risikobasierten Ansatzes wirkt für manche ungewohnt: Es wird zwischen Menschenleben und finanziellem Aufwand abgewogen, was bisweilen als ethisch problematisch erachtet wird. Bild: shutterstock.com Beispiel Als Beispiel für vorschriftenbasiertes Sicherheitsrecht mögen die Bestimmungen über den Schutz vor Stürzen bei Bauarbeiten dienen: Gemäss Art. 15 der Bauarbeitenverordnung (BauAV) ist ein Seitenschutz zu verwenden bei ungeschützten Stellen mit einer Absturzhöhe von mehr als zwei Metern. Die Anforderungen an den Seitenschutz sind in Art. 16 BauAV detailliert umschrieben. Nach Art. 18 BauAV ist ein Fassadengerüst zu erstellen, wenn bei Hochbauarbeiten die Absturzhöhe von drei Metern überschritten wird. Wo das Anbringen eines Seitenschutzes nach Artikel 16 oder eines Gerüstes nach Artikel 18 technisch nicht möglich oder zu gefährlich ist, sind gemäss Art. 19 BauAV Fanggerüste, Schutznetze oder Seilsicherungen zu verwenden oder gleichwertige Schutzmassnahmen zu treffen. Die Absturzhöhe bei Abstürzen in ein Schutznetz darf nicht mehr als sechs Meter, diejenige bei Abstürzen in ein Fanggerüst nicht mehr als drei Meter betragen. Bei Arbeiten an Dachrändern sind ab einer Absturzhöhe von drei Metern Massnahmen zu treffen, um Abstürze zu verhindern. Bei Dächern mit einer Neigung bis und mit 60° ist gemäss Art. 29 BauAV ein Spenglergang anzubringen. Bei Dächern mit einer Neigung bis 10° kann der Spenglergang entfallen, wenn ein durchgehender Seitenschutz nach Artikel 16 angebracht ist und alle Arbeiten innerhalb des Seitenschutzes ausgeführt werden können. Bei Dächern mit einer Neigung zwischen 25° und 60° ist der Seitenschutz des Spenglerganges als Dachdeckerschutzwand auszugestalten. Bei Dächern mit einer Neigung über 60° darf, unabhängig von der Traufenhöhe, nur von Gerüsten oder beweglichen Arbeitsbühnen aus gearbeitet werden. Gemäss Art. 32 BauAV genügen allerdings bei Arbeiten, die gesamthaft pro Dach weniger als zwei Personenarbeitstage dauern, reduzierte Massnahmen: Bei Dachneigungen bis 25° und Absturzhöhen von mehr als fünf Metern sind Massnahmen zur Absturzsicherung Safety-Plus 3/10 nach Artikel 19 zu treffen. Ist dies nicht möglich, so sind ein Geländerholm und ein Zwischenholm anzubringen. Bei Dachneigungen zwischen 25° und 60° und Absturzhöhen von mehr als drei Metern sind Massnahmen zur Absturzsicherung nach Artikel 19 zu treffen. Beträgt die Dachneigung mehr als 40°, so sind zusätzlich Dachleitern zu verwenden. Bei Dachneigungen von mehr als 60° und Absturzhöhen von mehr als drei Metern sind bewegliche Arbeitsbühnen oder gleichwertige Vorrichtungen zu verwenden. Bei Gleitgefahr sind solche Massnahmen bereits für Absturzhöhen von mehr als zwei Metern zu treffen. Verunfallt ein Bauarbeiter bei einem Sturz von einem Dach, so wird ein Gericht prüfen, um was für eine Art Arbeiten es sich handelte, wie hoch die Absturzhöhe und wie steil die Dachneigung war, ob die Arbeiten auf dem Dach gesamthaft mehr oder weniger als zwei Personenarbeitstage dauerten und ob Gleitgefahr bestand; je nachdem müssen bei einer Absturzhöhe von zwei, drei, fünf oder sechs Metern bestimmte Sicherheitsmassnahmen getroffen worden sein. Das Gericht versucht, anhand dieses Vorschriftendschungels herauszufinden, welche Sicherheitsmassnahmen in der betreffenden Situation hätten getroffen werden müssen. Hat der Bauführer diese Massnahmen getroffen, wird er freigesprochen, andernfalls verurteilt (s. z.B. Urteil des Bundesgerichts 6B_ 691/2008 vom 20.1.2009). Ob die Vorschriften als solche sinnvoll und nützlich sind, interessiert das Gericht nicht, und schon gar nicht, ob sie verhältnismässig sind, also ob die Vorschriften wirklich das Risi- ko reduzieren und ob der Aufwand, der durch diese Vorschriften verursacht wird, in einem angemessenen Verhältnis zum Gewinn an Sicherheit steht. Trotz den sehr detaillierten Vorschriften in der BauAV gibt es weiterhin Unfälle durch Sturz von Dächern. Dabei korrelieren aber die Unfallzahlen nicht unbedingt mit der potenziellen Gefährlichkeit einer Tätigkeit. Gemäss Suva-Statistik waren in den Jahren 2003 bis 2007 total 863 Berufsunfälle durch Absturz von Dächern zu verzeichnen, wovon 20 zu Todesfällen und 107 zu Invalidenrenten führten. Erstaunlicherweise sind dabei die Zimmerleute, die nebst den Dachdeckern wohl am häufigsten auf Dächern arbeiten, nur mit 144 Unfällen, einem Todesfall und fünf Invalidenrenten vertreten. Rechnet man diesen einen Todesfall in fünf Jahren auf die circa 16 000 in der Schweiz tätigen Zimmerleute um, so ergibt sich ein Individual-Todesfallrisiko durch Absturz vom Dach von ungefähr 1,25 x 10-5 pro Jahr. Zum Vergleich: Das ist etwa fünfmal kleiner als die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit eines Schweizers, durch einen Verkehrsunfall zu sterben. Man könnte sich nun fragen, weshalb es bei den Zimmerleuten trotz gefährlicher Arbeit relativ wenige Unfälle gibt. Ist das wirklich auf die Vorschriften zurückzuführen, oder vielleicht auf andere Faktoren wie Ausbildung, Erfahrung, Risikobewusstsein oder Berufsstolz? Nicht bekannt, aber vermutungsweise nicht unerheblich sind umgekehrt auch die Kosten, die den Zimmereibetrieben durch die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften erwachsen. 17 effizienz der denkbaren Sicherheitsmassnahmen. ¼ Der Vollzug kann im Einzelfall kompliziert und aufwendig sein, weil die Erstellung kompletter Risikoanalysen in der Regel teurer ist als die Kontrolle, ob Vorschriften eingehalten sind. ¼ Darunter leidet die Rechtssicherheit, weil die Verantwortlichen wie auch die Behörden nicht genau wissen, welche Massnahmen sie zu treffen haben. ¼ Ein weniger rechtliches als vielmehr faktisches Hindernis liegt ferner darin, dass die Juristen – und damit auch die Gerichte – traditionellerweise vorschriftenzentriert denken und in der Regel mit Risikoüberlegungen nicht vertraut sind. Dieses Hindernis wäre freilich mit geeigneten Ausbildungsmassnahmen abbaubar. Vorschriften und Technologien schaffen auch eine Sicherheitsillusion: Sie erwecken den Eindruck, dass bei ihrer Einhaltung Sicherheit garantiert sei. Dieser Eindruck täuscht. Bild: shutterstock.com Mittelweg Risikobasiertes Sicherheitsrecht Das wirft die Frage auf, ob es nicht Alternativen zu einem vorschriftenbasierten Sicherheitsrecht geben könnte. Als solche Alternative ist ein risikobasiertes Sicherheitsrecht denkbar. Dabei werden nicht bestimmte Massnahmen vorgeschrieben, sondern eine bestimmte maximal zulässige Risikohöhe. Es ist den Verantwortlichen freigestellt, auf welche Weise sie diese Risikolimite einhalten. Die Umsetzung dieses Ansatzes erfordert einerseits empirisch/analytisch eine quantitative Erfassung der Risiken. Die Risiken müssen erkannt und quantifiziert werden. Andererseits bedingt der Ansatz normativ die Festlegung quantitativer Risikogrenzwerte. Verbreitet ist dazu ein Dreibereichsmodell: ¼ Risiken, die über einem bestimmten (Individual-)Risikogrenzwert liegen, sind unzulässig und müssen auf diesen Wert reduziert werden. Dazu kann das maximal zulässige Todesfallrisiko pro Jahr festgelegt werden (z.B. maximal 10-4/Jahr). ¼ Unterhalb dieses Grenzwerts müssen Risiken reduziert werden, soweit dies verhältnismässig ist (ALARA-Prinzip: As low as reasonably achievable); Massnahmen sind zu treffen, solange deren Kosten geringer sind als die Kosten der dadurch vermiedenen Unfälle (Kosten-/Wirksamkeitsüberlegung). Dazu muss ein Grenzkostenwert festgelegt werden, bis zu welchem zusätzliche Massnahmen noch getroffen werden müssen (z.B. maximal fünf Mio. Franken pro gerettetes Menschenleben oder 200 000 Franken pro gerettetes Menschenlebensjahr). ¼ Die danach noch verbleibenden Risiken stellen das akzeptable Restrisiko dar. Eine risikobasierte Strategie wird in verschiedensten Gebieten angewendet, so in manchen Bereichen technischer Risiken (Störfallverordnung, Strahlenschutz, Aviatik), aber auch in anderen Regulierungsbereichen (Versicherungs- und Finanz- 18 marktaufsicht). In der Arbeitssicherheit ist diese Regelungsstrategie ansatzweise im Instrument der Spezialisten der Arbeitssicherheit (Art. 11a ff. VUV) eingeführt. Der risikobasierte Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel dar: Die Frage lautet nicht: «Was für Sicherheitsmassnahmen muss ich treffen?», sondern: «Wie hohe Risiken sind akzeptabel?» oder «Wie viel Sicherheit wollen wir (uns leisten)?». Gefragt wird also nicht nach dem Mittel, sondern nach dem anzustrebenden Ziel. Dabei wird nicht die Illusion gepflegt, mit einer Einhaltung von Vorschriften werde völlige Sicherheit geschaffen. Risiken werden vielmehr bewusst in Kauf genommen, aber optimal begrenzt. Genau diese Grundphilosophie wirkt für manche Leute ungewohnt: Es wird zwischen Menschenleben und finanziellem Aufwand abgewogen, was bisweilen als ethisch problematisch erachtet wird. In Tat und Wahrheit ist eine solche Abwägung aber in jedem Fall unvermeidlich. Sie geschieht implizit auch bei einem vorschriftenbasierten Sicherheitsrecht, nur ist man sich dessen vielfach nicht bewusst. Der risikobasierte Ansatz ist in diesem Sinne nicht anders, sondern einfach ehrlicher und transparenter. Erfolgt die Risikobegrenzung mittels Kosten-/Wirksamkeitsüberlegungen, hat der risikobasierte Ansatz zudem zumindest theoretisch den grossen Vorteil, dass er zu einer optimalen Sicherheitseffizienz führt: Sicherheitsmassnahmen, die mit grossem Aufwand einen geringen Gewinn an Sicherheit bringen, werden unterlassen; dafür werden Massnahmen getroffen, die mit geringerem Aufwand mehr Sicherheit bringen. Insgesamt kann so das gleiche Sicherheitsniveau mit weniger Aufwand oder mit gleichem Aufwand ein höheres Sicherheitsniveau erreicht werden. Die praktische Umsetzung eines risikobasierten Ansatzes birgt freilich verschiedene Probleme: ¼ Oft fehlen die erforderlichen Daten über die Höhe der Risiken und die Kosten- Die Ersetzung eines vorschriftenbasierten durch einen rein risikobasierten Ansatz ist aus den genannten Gründen nur ratsam, wenn der Mehraufwand im Vollzug aufgewogen wird durch grössere Effizienz der Sicherheitsmassnahmen. Nicht zu empfehlen ist ein kumulativer Ansatz, in welchem den Adressaten sowohl die Einhaltung von Vorschriften als auch die Durchführung (aufwendiger) Risikostudien vorgeschrieben wird; denn eine solche Strategie kumuliert die Nachteile beider Strategien, ohne deren Vorteile zu erzielen. Als realistischer Mittelweg erscheint ein indirekt risikobasierter Ansatz. Die erforderlichen Sicherheitsmassnahmen werden zwar nach wie vor durch verbindliche Vorschriften festgelegt, aber diese Vorschriften sind ihrerseits risikobasiert: Strengere Vorschriften gelten dort, wo hohe Risiken bestehen. Demgegenüber sind im ALARA-Bereich nur Massnahmen vorzuschreiben, die auf ihre Kostenwirksamkeit hin überprüft worden sind; Vorschriften, welche kostenunwirksame Massnahmen vorschreiben, sind aufzuheben und dafür solche zu erlassen, welche kostenwirksame Massnahmen vorschreiben. Im Bereich des akzeptablen Risikos sind Vorschriften nicht am Platz. Vorgeschriebene Sicherheitsmassnahmen können zudem durch andere Massnahmen ersetzt werden, wenn nachgewiesen wird, dass damit ein gleiches Sicherheitsniveau eingehalten ist. Fazit In der Verantwortung stehen damit in erster Linie die Regulierungsbehörden: Die zu regulierenden Bereiche sind systematisch auf ihre Risiken hin zu überprüfen, und zwar in beide Richtungen: Wo liegen Schwachstellen und sind strengere Vorschriften angebracht? Und wo sind bestehende Vorschriften überflüssig und können aufgehoben werden? Auf diese Weise kann eine Optimierung zwischen Kosten von Unfällen, Kosten von Sicherheitsmassnahmen und Vollzugspraktikabilität angestrebt werden. Safety-Plus 3/10
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