Noetzel, Thomas (1991): Solidarität ohne Wahrheit – braucht Politik philosophische Begründungen?, in: Perspektiven des Demokratischen Sozialismus, Jg. 8, Nr. 2, S. 121-130. Thomas Noetzel Solidarität ohne Wahrheit - braucht Politik philosophische Begründungen ? Die alte und seit der Rationalisierung der Welterklärung verstärkt geführte epistemologische Debatte über das Verhältnis des erkennenden Subjekts zum zu erkennenden Objekt bestimmt auch den philosophischen Streit um die Postmoderne. Insbesondere die naive und methodologisch unaufgeklärte Vorstellung, bei der sprachlichen Konstruktion von Realität handele es sich um eine Repräsentation „wirklicher“ Wirklichkeit, um eine Abbildung objektiver Verhältnisse, ist im Zuge dieser erkenntnistheoretischen Kritik destruiert worden. Unser Wissen, unsere Sprache sind eben kein „Spiegel der Natur“1, sondern soziales Projekt. Die Kategorie der „Wahrheit“ verweist mithin nicht auf „Objektivität“; sie ist selbstreflexiv und bezeichnet etwas, was in konkreten diskursiven Kontexten für „wahr“ gehalten wird. Auch der Hinweis auf die Erklärungskraft und Realitätsangemessenheit der Naturwissenschaften stärkt das korrespondenztheoretische Arsenal „objektiver“ Erkenntnisse nicht. Daß es scheinbar unbestrittene, objektive, naturwissenschaftliche Wahrheit gibt, zeigt nur, daß die Einigung auf „Wahrheit“ in diesem Diskurs relativ einfach ist und in den jeweiligen sozio-historischen Kontexten relativ schnell zwischen „Meinung“ und „Wissen“ differenziert wird. I. Im Anschluß an metaphysik-kritische Realitätskonstruktionen Nietzsches, Heideggers und Derridas verweist der Streit um Grenzen und Möglichkeiten „objektiver“ Welterkenntnis und Wahrheit (fruchtbar nur dann, wenn nicht in die substanzialistischen Sicherungspositionen dieser Überwindungen zurückgefallen wird)2 auf Begründungszusammenhänge politischen Handelns, weil die radikale Kritik des auf Objektivität zielenden 'platonischen Auges'3 auch auf moralische Erkenntnisse anzuwenden ist. In den großen politischen, normativen Ordnungsentwürfen nach der Aufklärung stehen immer bestimmte Annahmen über allgemein menschliche "Wesens"-Eigenschaften im Zentrum. Politische Philosophie hat dabei viel Zeit und Energie aufgewendet, solche Kerne des Menschseins zu finden, um zur Formulierung einer politischen und moralischen „Wahrheit“ als Ausdruck einer Übereinstimmung mit Realität zu gelangen. Es geht um das Erkennen überhistorischer, universeller Fundamente individueller und gesellschaftlicher Praxis: „Im Mittelpunkt der liberalen Gesellschaftstheorie steht seitdem immer der Gedanke einer durch objektive Erkenntnis der Beschaffenheit des Menschen ermöglichten Sozialre- 121 form, wobei es ... um die Erkenntnis der Eigenschaften der Menschheit an sich (geht). ... Der von dieser Tradition gehegte Traum ist eine letzte Gemeinschaft, die die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Gesellschaftlichen überwunden hat und eine Solidarität an den Tag legt, die nicht gruppengebunden ist, weil sie eine ahistorische menschliche Natur zum Ausdruck bringt.“4 Richard Rorty, einer der originellsten Vertreter des Neo-Pragmatismus, beschreibt hier genau die Intentionen der vielfältigen Systemphilosophien des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihrer Suche nach „Wesen“ und „Gesetz“, deren emanzipatorische Spielarten vor allem um die Kategorien „Arbeit“ und „Kommunikation“ kreisen. Gerade dem hegelmarxistischen Arbeitsbegriff einerseits und universal- bzw. transzendentalpragmatischen Begründungen kommunikativer Vernunft andererseits liegen weitreichende Korrespondenzmodelle der objektiven Wirklichkeitserkenntnis zugrunde. In beiden Entwürfen findet sich die Behauptung, endlich eine begehbare Brücke zwischen Subjekt und Objekt und damit auch zwischen normativen Handlungsentwürfen und Tatsachenfeststellungen entdeckt zu haben. Lange Zeit stand „Arbeit“ im Mittelpunkt kritischer und utopischer Gesellschaftstheorie. In der „Arbeit“ schien ein überzeitlicher, interkultureller Maßstab für die richtige, humane Organisation der Gesellschaft, für die Überwindung von „Entfremdung“ zu stecken. Die seltsamwidersprüchliche marxistische Vorstellung gesellschaftlicher Veränderung und sozialen Fortschritts als Handlungstheorie (Klassenkämpfe der Subjekte sind Motor der Geschichte) und Systemtheorie (objektive Spannung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen treibt Geschichte an) fußt auf der „Erkenntnis“, daß das menschliche Wesen erst im Arbeitsprozeß zu sich komme. In der Tatsachenfeststellung einer engen Verbindung von Arbeit und Ontogenese fallen Geschichtsphilosophie und Moral zusammen. Gerade in Überlegungen zur „Theorie des kommunikativen Handelns“ wird nun aber darauf aufmerksam gemacht, daß sich in jedem Arbeitsprozeß strategische, instrumentelle Rationalität der Objektbeherrschung manifestiert. Hier wird also - entgegen dem philosophischen Selbstverständnis - die Distanz zwischen Subjekt und Objekt nicht abgebaut. Ein solcher Arbeitsbegriff zielt auf subjektive Weltkonstruktion und überwindet damit eben nicht die partikulare Basis subjektiver Selbstbehauptung durch Objektbeherrschung. 5 Diese marxistische „Entdeckung“ des Universellen hat aber nicht nur Bedeutung für die Geschichte subjektphilosophischer Systeme und ihr jeweiliges Scheitern, sondern verweist auf den potentiellen Fundamentalismus und Dogmatismus philosophischer Letztbegründungen des Politischen. Wahrheitsansprüche implizieren die Hoffnung auf Harmonie des Homogenen, auf den zwanglosen „Zwang“ der besseren Argumente. Mit einem entgegengesetzten Anspruch versucht der Universalprag- matismus6 das vom Hegelmarxismus hinterlassene Vakuum zu füllen. In der wissenschaftlichen Rekonstruktion alltagssprachlicher kommunikativer Kompetenz soll eine auf Verständigung, Intersubjektivität zielende und die kalkulatorisch-strategische Vernunft überwindende Rationalität herauspräpariert werden: „... jeder, der philosophiert, und das heißt: je- 122 der, der ernsthaft argumentiert, (muß) auch schon - zumindest implizit eine ethische Grundnorm anerkannt haben. Ist er bereit, auf den impliziten Sinn seiner Argumentationskette zu reflektieren, so muß er einsehen, daß er zugleich mit der Möglichkeit von sprachlichem Sinn und Wahrheit auch schon voraussetzt, daß alle Sinn- und Wahrheitsansprüche von Menschen im Prinzip in einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft durch Argumente - und nur durch Argumente - einlösbar sein müssen. Damit hat er aber auch bereits anerkannt, daß er als Argumentierender eine ideale Kommunikationsgemeinschaft aller Menschen als gleichberechtigte Partner voraussetzt, eine Kommunikationsgemeinschaft, in der alle Meinungsverschiedenheiten - auch solche, die praktische Normen betreffen - im Prinzip nur durch konsensfähige Argumente aufgelöst werden sollten. Die ethische Grundnorm, die jeder Argumentierende - und das heißt: jeder ernsthaft Denkende - notwendigerweise anerkannt hat, besteht also in der Verpflichtung auf die Metanorm der argumentativen Konsensbildung über situationsbezogene Normen.“7 Im alltäglichen, nichtsystemisch verzerrten Sprachgebrauch existiert „objektive Wahrheit“8, die den Menschen das Versprechen aufgehobener Entfremdung und realisierter Gerechtigkeit macht. Wohl nicht zufällig ist die Behauptung der Notwendigkeit fundamentalistisch-universeller Polit i k b e g r ü n d u n g e n m i t d e m A n s p r u c h v e r b u n d e n , a l s P h i l o soph/Intellektueller zur Entdeckung dieser Wahrheit prädestiniert zu sein. Aufgrund besseren, genaueren Denkens wissen sie über „richtige“ und „falsche“ Wege gesellschaftlicher Entwicklung Bescheid. Politik löst sich in Theorie auf. Habermas bestreitet zwar, daß dieser Universalismus starke Statusansprüche erhebt, aber auch bei ihm ist ein gewisses Unbehagen am fundamentalistischen Anspruch bemerkbar: „Heute liegt es aber auf der Hand, daß sich die Reichweite universalistischer Fragen -beispielsweise der Frage nach den notwendigen Bedingungen der Rationalität von Außerungen, nach den allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen des kommunikativen Handelns und der Argumentation - zwar in der grammatischen Form universeller Aussagen spiegeln muß, nicht aber in der Unbedingtheit der Geltung oder der 'Letztbegründung' (H.i.O.,TN), die für sie und ihren theoretischen Rahmen beansprucht würde. Mit diesem Fallibilismus verzichten wir, Philosophen und Nichtphilosophen zumal, keineswegs auf Wahrheitsansprüche. Diese lassen sich in der performativen Einstellung der ersten Person gar nicht anders als in der Weise erheben, daß sie - als Ansprüche - Raum und Zeit transzendieren. Wir wissen aber auch, daß es keinen Nullkontext für Wahrheitsansprüche gibt. Diese werden hier und jetzt erhoben und sind auf Kritik angelegt. Deshalb rechnen wir mit der trivialen Möglichkeit, daß sie morgen oder an anderem Ort revidiert werden. Die Philosophie versteht sich nach wie vor als Hüterin der Rationalität im Sinne eines unserer Lebensform endogenen Vernunftanspruchs. Bei der Arbeit bevorzugt sie aber eine Kombination von starken Aussagen mit schwachen Statusansprüchen, die so wenig totalitär ist, daß eine totalisierende Vernunftkritik gegen sie nicht aufgeboten werden muß.“9 Doch der Hinweis auf den Fallibilismus kann nicht überzeugen, wenn 123 damit mehr gemeint sein soll als die Bereitschaft zur Reflexion über die eigenen Aussagen. Die Theorie des kommunikativen Handelns fundiert eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Sprache der Vernunft/ die Vernunft der Sprache nicht zum Zuge kommt und begründet mit der Rekonstruktion der in der Sprache enthaltenen intersubjektiven Orientierung Solidarität. Es zeichnet die Diskursethik doch aus, daß sie unhintergehbare, regulative und universelle Begründungen moralischen Handelns als Abbildungen der den Sprechakten und Argumentationen inhärenten, objektiven Vernunftwahrheit versteht. Sie will aufgrund ihrer Kenntnis „des in der Sprache angelegten Logos der diskursiven Verständigung ... universale philosophische Kriterien“10 zur Bewertung politischer Herrschaft entwerfen. Wir stoßen hier auf starke Aussagen und starke Statusansprüche. Gerade der Bezug auf erkannte „Wahrheiten“ läßt Fallibilismus nicht zu. Die Unduldsamkeit einiger Vertreter diskursethischer Positionen mit ihren Kritikern macht den hohen Statusanspruch dieser Ethikfundierung deutlich.11 Das Vertrauen in die „besseren“ Argumente bekommt sehr schnell etwas gouvernantenhaft-pädagogisches, schmallippiges. II. Dabei sind Zweifel an der behaupteten Kompetenz der Letztbegründung öffentlicher, politischer Ethik angebracht. Erinnern wir noch einmal an das von Habermas beanspruchte fallibilistische Bewußtsein (die Selbstwidersprüche dieser Position zur behaupteten universellen Form diskursiver Stiftung von Intersubjektivität sollen unberücksichtigt bleiben). Er verweist auf sozio-historische Wahrheitskontexte, die zur Revision zwingen könnten. Aber fußt Wahrheit nun objektiv und überhistorisch auf der lebensweltlich-unverzerrten Kommunikation oder verweist sie auf gesellschaftliche Praxis? Habermas bleibt hier unbestimmt. Allerdings ist diese Unbestimmtheit eher ein philosophisches als ein politisches Problem, denn für die Praxis gesellschaftlicher Freiheit und Solidarität sollten Behauptungen, über die „besseren“ Argumente und „richtigen“ Erkenntnisse zu verfügen, irrelevant sein. John Rawls hat in dem Aufsatz „Justice as Fairness - Political not Metaphysical“ auf die Unmöglichkeit einer philosophischen, universalistischen Begründung des gerechten Politischen hingewiesen: „Der wesentliche Punkt ist dieser: Als praktisch-politische Angelegenheit kann keine allgemeine Moral-Konzeption die Basis für eine öffentliche Konzeption der Gerechtigkeit in einer modernen demokratischen Gesellschaft liefern. Die sozialen und historischen Bedingungen einer solchen Gesellschaft haben ihren Ursprung in den auf die Reformation folgenden Religionskriegen und in der Entwicklung des Prinzips der Toleranz und im Anwachsen der konstitutionellen Regierung und der Marktwirtschaft. Diese Bedingungen bestimmen zutiefst die Anforderungen an eine funktionsfähige 124 Konzeption der politischen Gerechtigkeit: eine derartige Konzeption muß Spielraum lassen für eine Mannigfaltigkeit von Lehren und für die Pluralität konfligierender, ja miteinander inkommensurabler Konzeptionen des Guten, die von den Mitgliedern der existierenden demokratischen Gesellschaften vertreten werden.“12 Politische Diskurse zielen auf bestimmte soziohistorische Kontexte; Rechtfertigung und Begründung sind soziale Projekte, für die es keine „Königswege“ gibt: „Die einzige Gestalt, die eine pragmatische Rechtfertigung der Toleranz, der Forschungsfreiheit und des Strebens nach unverzerrter Kommunikation annehmen kann, ist ein Vergleich zwischen Gesellschaften, die diese Gewohnheiten aufweisen, und Gesellschaften, in denen sie nicht existieren - ein Vergleich, der dann zu der These hinführt, daß keiner, der beide Gesellschaftsformen erlebt hat, die letztere bevorzugen wird.“13 Das Plädoyer für liberale, sozialdemokratische Gesellschaften (wenn man so will, für das atlantische Projekt der industriellen und politischen Moderne) ist dabei intuitiv14 und selbstverständlich. Ein Beispiel soll diese Selbstverständlichkeit von Vergleich, Wertung und Entscheidung verdeutlichen: Eine Mitarbeiterin der britischen Botschaft im Iran wurde von Ordnungskräften auf der Straße angehalten, weil sie ihre Fingernägel lakkiert hatte und damit gegen iranische Vorschriften zur Bekleidung und Kosmetik von Frauen verstieß. In aller Öffentlichkeit und mit physischer Gewalt haben dann die Ordnungskräfte der Betroffenen den Lack von den Nägeln gerieben. Will im Ernst jemand behaupten, er brauche für die Bewertung dieses Vorgehens der iranischen Polizei und für die Entscheidung, ob er lieber in London oder Teheran lebe, universelle, überhistorische Kriterien? Nun kann man darauf hinweisen, daß im Iran dieses Vorgehen anders beurteilt würde. Doch diese unterschiedliche Bewertung verdeutlicht ja gerade, daß es bei der Rechtfertigung von politischen Ordnungen nicht um „objektive“ Wahrheiten geht, sondern um Praxis und Geschichte. Auch Argumente versagen hier, denn dem iranischen Wahrheitskontext (um im Beispiel zu bleiben) ist mit „guten“ Argumenten nicht beizukommen (uns auch nicht). Die Begründungen, die wir geben könnten, sind „gute“ Argumente in unserem Rechtfertigungsprojekt des liberalen, säkularisierten, sozialen Rechtsstaates, der seine Legitimation in seiner dreihundertjährigen Geschichte findet. Wir können also nur auf die bessere Praxis verweisen; die ist im übrigen nicht relativ.15 In der Auseinandersetzung zwischen antagonistischen Ordnungen geht es dann auch nicht um „bessere“; „überzeugendere“ Argumente, sondern um „erfolgreiche“ Argumente, etwa - um nochmals im Beispiel zu bleiben - erfolgreich in der Abwehr fundamentalistischer An- griffe auf (post)moderne normative Unübersichtlichkeit, Toleranz und Pluralismus oder erfolgreich im Werben für einen Ausbau des Sozialstaates, der Freiheit und Solidarität verbindet. Überlegungen zur politischen Ordnung und ihrer Verbesserung sollten deshalb ihre philosophischen Begründungsansprüche (im engen, repräsentationstheoretischem Sinne) aufgeben. Notwendig ist Empirie, notwendig sind Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaft, die fremde Praxis erkunden und verstehen lernen, die sich als Wirklichkeits- 125 wissenschaften verstehen und nicht als moralphilosophische Hilfswissenschaften: „Sofern wir zum Philosophieren neigen, werden wir nicht den Wortschatz von Descartes, Hume und Kant anwenden wollen, sondern die von Dewey, Heidegger, Davidson und Derrida gebotene Terminologie mit ihren eingebauten Warnungen vor der Metaphysik. Denn wenn wir uns dieser Terminologie bedienen, werden wir imstande sein, den moralischen Fortschritt nicht als Geschichte von Entdeckungen zu sehen, sondern als Geschichte des Machens - nicht als Geschichte der Entschleierung von 'Prinzipien', 'Rechten' oder 'Werten', sondern als Geschichte einer durch 'radikal situierte' (H.i.O.TN) Individuen und Gemeinschaften bewerkstelligten Errungenschaft.“16 Der Hinweis auf die Bedeutung individueller Idiosynkrasien für die Schaffung neuer Vokabularien ist wichtig, denn der Praxisbezug politischer Legitimation verweist eben nicht nur auf Historismus und Hermeneutik. Dabei geht es allerdings nicht um „Wahrheitsfragen“, weil Wahrheit eben doch nichts anderes ist als die gesellschaftliche -Bestätigung, als eine empfehlende Übereinkunft, etwas für wahr zu halten, und auch nicht um den Appell, mit der vorhandenen Semantik auszukommen. Neugierde ist wichtig und der Wunsch, fremde Vokabularien kennenzulernen und zu prüfen. Wichtig ist auch der individuelle Wunsch nach Selbsterweiterung und der ironische Umgang mit dem eigenen „Wesen“17 Diese Reduktion des Wahrheits- und Begründungsbegriffes löst tiefgehende Verunsicherungen aus. Das wird beim Blick auf die Grenzbereiche des politischen Raumes und seiner Sprachen deutlich. Sollte es etwa unmöglich sein, die „Unwahrheit“ des Faschismus argumentativ zu beweisen? Genauso ist es. Gegen die Barbarei helfen keine Letztbegründungen, sondern nur praktische Entscheidungen, in welchen sozialen Ordnungen man leben will und in welchen nicht.18 Dies ist kein Plädoyer für einen widersprüchlichen Relativismus, allein der Kampf um faschistische oder demokratische Vokabularien findet im „Handgemenge“ (ganz friedlich gemeint) der Praxis mit ihren historisch erfolgreichen regulativen Ideen statt. Praxis heißt hier auch, offen zu sein für originelle Neubeschreibungen und Erweiterungen des gängigen, praktizierten politischen Vokabulars. In dieser Angewiesenheit auf semantische Erweiterungen wird die prekäre Lage der auf Philosophie verzichtenden liberalen, demokratischen und sozialen Ordnungen greifbar. Es gibt letztendlich keine universellen Sicherheiten, sondern das Vertrauen auf praktischen „common sense“ der Individuen. „Common sense“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die erfolgreiche dreihundertjährige Geschichte der langfristig Partizipation und Emanzipation sichernden „civil society“, der in Institutionen gegossenen und praktisch gewordenen Aufklärung. Die bedrohliche Offenheit der Beschreibungen und Vokabularien ist aber gleichzeitig auch eine große Chance, weil sie unverwechselbare Individuen mit ihren idiosynkratischen inkommensurablen Weltansichten, Sinnsflftungen und Bedeutungskonstruktionen produziert und voraussetzt.19 Jenseits philosophischer Letztbegründungen öffnet sich damit das politische Denken für Asthetik, für Literatur. Andere Spra- 126 chen/Sprechweisen können so fruchtbar werden. Berührt uns beispielsweise Paul Celan mit seiner „Todesfuge“ nicht stärker als eine metatheoretische Faschismusanalyse? Hat die Verzweifelung der „schwarzen Milch der Frühe“ keinen Einfluß auf unser Lernen, unsere Erziehung, unser politisches Engagement? Wird da nicht etwas evoziert, was unseren „common sense“ bestimmt und unsere Praxis? Geht von Dickens' Romanen oder Evans' „Tod in Hamburg“ keine politische Wirkung aus? Sind das keine Plädoyers für Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit? Hier wird ein bestimmtes politisches Verhalten selbstverständlich, ohne „begründet“ zu sein. Diese Offnung des Politischen hin zu anderen Semantiken und Vokabularien, zu anderen „Sprachspielen“ markiert Befreiung. III. Die Ablehnung eines philosophischen Primats in der Begründung des Politischen, der Gerechtigkeit etc. und die dadurch mögliche Einbeziehung von Literatur und Malerei (was zu Celan gesagt wurde, gilt z.B. auch für Francis Bacon), von Kunst überhaupt, von den vielfältigsten individuellen Schöpfungen (und ihr Bezug zur Praxis der „civil society“ mit ihrer guten, gelungenen Komposition von Freiheit und Solidarität) schließt andere Sprachspiele (etwa die der Diskursethik) nicht aus, sondern verneint nur deren besonderen Status. Ihr Anspruch, zum „Wesen“ der Dinge vorgestoßen zu sein, „begründet“ nichts, und verschafft ihnen keine besondere politische, moralische Kompetenz. Allerdings steckt in dieser Reduzierung keine Ausschließung der originellen Aspekte etwa des diskursethischen Vokabulars mit seiner Utopie der „idealen Kommunikationsgemeinschaft“. Das sind brauchbare Ideen, die in das Gewebe der Gewohnheiten durchaus eingeflochten werden können: „... Dichter und Revolutionäre (protestieren), im Namen der Gesellschaft selbst, gegen Aspekte dieser Gesellschaft, die Verrat an dem Bild üben, das sie von sich selbst hat. Diese ... Vorstellung scheint den Unterschied zwischen Revolutionär und Reformer auszulöschen. Man kann aber den Idealfall einer liberalen Gesellschaft als einen definieren, in dem dieser Unterschied ausgelöscht ist. Eine Geselschaft ist dann liberal, wenn ihre Ideale durch Überzeugung statt durch Gewalt, durch Reform statt durch Revolution, durch freie, offene Begegnungen gegenwärtiger sprachlicher und anderer Praktiken mit Vorschlägen für neue Praktiken durchgesetzt werden. Das heißt aber, eine liberale Gesellschaft hat kein Ideal außer Freiheit, kein Ziel außer der Bereitwilligkeit, abzuwarten, wie solche Segnungen ausgehen, und sich dem Ausgang zu fügen. Sie verfolgt keine andere Absicht als die, Dichtern und Revolutionären das Leben leichter zu machen und darauf zu achten, daß sie ihrerseits anderen das Leben nur durch Worte, nicht durch Taten erschweren. Große Dichter und Revolutionäre ernennt diese Gesellschaft deshalb zu ihren Helden, weil sie erkennt, daß sie ist, was sie ist, die Moralität hat, die sie hat, die Sprache spricht, die sie spricht, nicht weil sie damit soweit wie möglich dem Willen Gottes oder 127 der Natur des Menschen entspricht, sondern weil bestimmte Dichter und Revolutionäre in der Vergangenheit so sprachen, wie sie sprachen. ... Kurz die Bürger meiner liberalen Utopie wären Menschen, die Sinn für die Kontingenz der Sprache ihrer Überlegungen zur Moral und damit ihres Gewissens hätten. Sie wären liberale Ironiker - Menschen, die Schumpeters Kriterium für Zivilisiertheit erfüllten, Menschen, die Engagemet mit dem Sinn für die Kontingenz ihres Engagements verbanden.“20 Gerade in Deutschland sind Rortys Attacken auf die Scheinsicherheiten philosophischer Letztbegründungen heftig kritisiert worden. Insbesondere seine Behandlung von Sprache, Moral, Gesellschaft als kontingente Produkte zieht Kritik auf sich.21 Karl-Otto Apel hat diese spezifische deutsche Sichtweise, die die Offenheit des Pragmatismus vor dem Hintergrund der deutschen Katastrophe des Nationalsozialismus nicht ertragen kann, paradigmatisch formuliert. Für ihn stellt sich der Nationalsozialismus gerade auch als Kapitulation und moralisches Versagen der damaligen intellektuellen Elite.22 Rortys Hinweis,“... daß die liberale Demokratie zwar womöglich der philosophischen Artikulation bedarf, nicht aber der philosophischen Untermauerung ...(daß) damit ... ein solcher Philosoph nicht diese Institutionen (rechtfertigt), sondern ... verfährt umgekehrt: Er stellt die Politik an den Anfang und stutzt die Philosophie dementsprechend zurecht“,23 ist Apel den Satz wert: „So ungefähr haben es gewisse Philosophen im Dritten Reich tatsächlich gemacht.“24 Aber was besagt das? Wir stoßen hier wieder auf die kontingente soziohistorische Wahrheitskonstruktion, die sich im schlechten Fall als überhistorisch und universell begreift und ihre Kontingenz nicht denkt. Dagegen wappnet nicht eine „wahre“ Wahrheit, sondern Selbstkritik, Selbstzweifel und das Nachdenken oder Einfühlen in die zufällige Stellung in Zeit und Raum. Also kann die politisch bessere Antwort auf die deutschen Erfahrungen nicht in mehr philosophischer Sicherheitsproduktion bestehen, wenn sie diesmal nur emanzipatorisch, humanistisch daherkommt; demgegenüber ist Verunsicherung notwendig und der Hinweis, daß sich deutsche „Sonderwege“, die mit privilegiertem Wissen und privilegierten Erfahrungen begründet werden, verbieten. Vielmehr sollte der Anschluß an das westliche Projekt der liberalen und sozialen Demokratie selbstverständlich sein. Als Rorty nach den Grundlagen der Moral gefragt wurde, antwortete er: „It's just common sense. I am just an American, we have just to persuade the others that our way is the right one.” Das ist wohl das Ergebnis dieses Streits um den Pragmatismus, der in seiner Kritik an universalistischen Letztbegründungen und totalisierenden Vernunft- und Wahrheitsansprüchen so postmodern wirkt und doch gegen sie „nur“die praktisch gewordene Aufklärung sichern will: Wir sollten alle sagen können: „It's just common sense.“ 128 Anmerkungen 1 Richard Rorty, Der Spiegel der Natur - Eine Kritik der Philosophie, dtsch. Frankfurt/M. 1987 2 dazu Richard Rorty, Consequences of Pragmatism - Essays 1972-1980, Minneapolis 1982; ders., Deconstruction and Circumvention, in: Critical Inquiry, XI, September 1984, S. 1-23; ders., Thugs or Theorists - A reply to Bernstein, in: Political Theory, Vol. XV, Nr.4, November 1987, S. 564-580; John D. Caputo, The Thought of Being and the Conversation of Mankind: The Case of Heidegger and Rorty, in: Review of Metaphysics, 36, März 1983, S. 661-685; guter Überblick über die Debatte: Alan Malachowski (Hrsg.), Reading Rorty, London 1990 3 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/M. 1989 zeichnet die Geschichte dieser philosophischen Erkenntnismetapher nach 4 Richard Rorty, Solidarität oder Objektivität?, in: Ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 13 5 vgl. dazu Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968 und ders., Replik auf Einwände, in ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 477ff 6 ebd., Was heißt Universalpragmatismus?, S. 353-441 7 Karl-Otto Apel, Die Situation des Menschen als ethisches Problem, in: ders., Diskurs und Verantwortung - Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/ M. 1988, S.46 8 Hauke Brunkhorst, Romantik, Rationalität und Rorty, in: ders., Der entzauberte Intellektuelle - über die neue Beliebigkeit des Denkens, Hamburg 1990, S. 231 9 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne - zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M., zweite Auflage 1985, S. 247 10 Karl-Otto Apel, Zurück zur Normalität? - Oder könnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? Das Problem des (welt-)geschichtlichen Übergangs zur postkonventionellen Moral aus spezifisch deutscher Sicht, in: ders., Diskurs und Verantwortung - Das Problem des Ubergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/M. 1988, S. 387, 409 11 In diesem Zusammenhang kann etwa auf die Form der Kritik Brunkhorsts und Apels an Rorty hingewiesen werden. Noch aggressiver Gerhard Bolte (Hrsg.), Unkritische Theorie - Gegen Habermas, Lüneburg 1989, wo Habermas der Inquisition unterzogen wird 12 John Rawls, Justice as Fairness - Political not Metaphysical, in: Philosophy and Public Affairs, XVI, 1985, S. 225. Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ ist eine Reflexion über mögliche Begründungen von Strategien größerer Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der Praxis liberal-demokratischer Systeme. Ganz deutlich wird das an der Legitimation des „Unterschiedsprinzips“, das sich etwa - mehr oder weniger befriedigend - in der Trivialität der Steuergesetzgebung wiederfindet. Rawls „Theorie“ ist also nicht fundamentalistisch, sondern pragmatisch orientiert. vgl. dazu Rawls Selbstreflexion, Kantian Constructivism in MoralTheory - The Dewey Lectures 1980, in: The Journal of Philosophy, LXXVII, Nr. 9, September 1980, S. 515-571 13 Rorty, Solidarität, a.a.O.,S. 25 14 Intuition als Grundlage politischen Handelns und gesellschaftlichen Fortschritts ist in der anglo-amerikanischen Politikwissenschaft ein breit diskutiertes Thema: Brian Berry, Political Argument, London 1965, vgl. dazu auch John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, S. 52ff 15 Versteht man unter Relativismus die Behauptung, jede Aussage, jeder Glaube, jede Überzeugung sei genausoviel wert, wie jeder bzw. jede andere, so trifft dieser Vorwurf den Pragmatismus nicht. „Relativ“ ist er nur dann zu nennen, wenn man die konsequente Rückbindung von Wahrheitsansprüchen an ethnozentrische Wahrheitskontexte für „relativ“ hält. 16 Richard Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: Forum für Philosophie - Bad Homburg (Hrsg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins; Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1988, S. 273-290, hier zitiert nach der Langfassung in: 129 ders., Objektivität, ... a.a.O., S. 100 wie politisch individuelle Selbstbeschreibungen sind, die sich der Kontingenz von „Identität“ bewußt bleiben, zeigt Theweleit in den „Männerphantasien“ 18 vgl. dazu Paul Feyerabend, Science in a Free Society, London 1978 19 vgl. dazu Joseph H. Smith/ William Kerrigan (Hrsg.), Pragmatism's Freud. The Moral Disposition ofPsychoanalysis, London/ Baltimore 1986 20 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, S. 109ff 21 Brunkhorst, Romantik, a.a.O., S. 2.30, sieht in der Behauptung, „alles“ sei kontingent, einen Rückfall in jenen „Gottesstandpunkt“, den Rorty anderen doch gerade vorwirft. Aber Rorty sagt eben nicht, daß alles kontingent ist, sondern, daß er alles als kontingent behandelt. Das ist genau der Unterschied zwischen Wahrheitsanspruch und Praxis des Experimentierens, des Herummodelns, von Versuch und Irrtum. Auch Brunkhorsts Zuspitzung seines Metaphysikvorwurfes in dem Artikel „Metaphysik im Rücken des Liberalismus - Richard Rortys vernichtende wie brilliante Kritik an der Herrschaft des platonischen Auges“, Frankfurter Rundschau, 9.1.1991, S.9 geht fehl. Zur aktuellen Rezeption Rortys siehe Florian Rötzer, Entsorgung als pragmatisches Prinzip - Richard Rorty s amerikanisch e Artistenphilosophie, Fr ankfurter Rundschau, 20.1.1991; Andreas Kuhlmann, Der Vorrang der Demokratie - Recht als Kultur, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.1990; Johannes Ritter, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 12/1990; Wahrheit als Auf und Ab, Der Spiegel 6/1990; Thomas Schmid, Ein bewegliches Heer von Metaphern Richard Rortys Plädoyer für eine liberale Utopie, Süddeutsche Zeitung, 20/21.1.1990 22 Apel, Normalität, a.a.O., S. 410 23 Rorty, Vorrang der Demokratie, a.a.O., S. 87 24 Apel, Normalität, a.a.O., S. 403 17 130
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