Was ist und wohin führt das Übergangssystem? Gliederung (FOLIE

Was ist und wohin führt das Übergangssystem?
Gliederung (FOLIE)
1. Übergangs- und Schulberufssystem
2. Orientierungen am Übergang Schule - Beruf (Ende Klasse 10)
3. Zum Alltag des Übergangssystems
Zu 1.
In der offiziellen Terminologie werden unter dem Übergangs-system
Maßnahmen außerschulischer Träger und schulische Bildungsgänge
verstanden, die keinen qualifizierenden Berufsabschluss anbieten. Im
Unterscheid dazu vermittelt das Schulberufssystem einen qualifizierenden Abschluss in vollzeitschulischer Form. Zwar liegen über den
Verbleib von Absolventen des Schulberufssystems keine amtlichen Statistiken vor, erste Absolventenbefragungen verweisen jedoch darauf,
dass sich die vollzeitschulische Berufsausbildung nicht als Alternative
zum Dualen System etablieren konnte. Vielmehr mündet ein erheblicher
Teil der Absolventen in duale Ausbildungsgänge ein bzw. bemüht sich
darum. Insofern unterscheiden sich die Effekte eines Absolvierens des
Übergangs- und Schulberufssystems kaum.
FOLIE: Beide Bereiche zusammengenommen machen im Jahr 2006
56,5% des gesamten beruflichen Ausbildungssystems aus (Übergangsystem 39,7%, Schulberufssystem 16,8%). & Situation in BO.
Zu 2.
Die zunächst vorgestellten Befunde beruhen auf Klassengesprächen und
Gruppendiskussionen mit Zehntklässlern dreier ausgewählter Schulen
(jeweils eine Haupt-, Real- und Gesamtschule) in einer Großstadt im
Ruhrgebiet.
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Eine Berufswahl findet trotz intensiver Information und Beratung in
Schule und ‚Übergangsmanagement’ bei den SchülerInnen kaum statt:
• Die für ein kundiges Abwägen erforderlichen Informationen sind in
vielen Fällen nicht vorhanden. Einmal präferierte Wege gelten als
die einzig möglichen; bleibt der ‚Traumberuf’ versperrt: „dann würde ich lieber da in der Schule hocken und irgendetwas lernen anstatt den ganzen Tag auf der Arbeit so und so ne Miene zu ziehen“
[HSw4].
• Die Bereitschaft, eine Entscheidung für einen bestimmten Weg zu
treffen, ist deutlich eingeschränkt; viele wollen „möglichst lange auf
der Schule […] bleiben“ [RSm6].
• In Abhängigkeit vom erreichten Schulabschluss bestehende objektive Möglichkeiten werden verworfen.
• Das Aktivitätsniveau bei Bewerbungen ist generell niedrig und wird
insbesondere an der Hauptschule oft mit dem ungeprüften Verweis
auf Aussichtslosigkeit begründet.
All dies ist kaum auf einen Mangel an Beratungs- und Hilfsangeboten
zurückzuführen, vielmehr sind diese in der Regel sehr gut bekannt. Die
SchülerInnen erinnern sich an sie als Ereignisse, die allerdings – zumindest gemessen an den Intentionen der Anbieter – weithin folgenlos bleiben.
Insofern gehen wir gegen die gängige Annahme, den SchülerInnen
mangele es vor allem an Informationen, davon aus, dass spezifische
Haltungen maßgeblich werden. Ein wesentliches Element ist dabei,
dass viele Schüler/innen dem ihnen anempfohlenen, im Beratungsmilieu
als ‚normal’ erachteten, Weg nicht folgen wollen, zugespitzt, dass sie
sich implizit ‚weigern’, das Selektionsergebnis der Schule zu akzeptieren.
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Wir haben außerdem über einen Fragebogen in den kompletten Entlassjahrgängen der drei Schulen erhoben, was die Schulabgänger anschließend vorhaben.
Als relativ unproblematisch können wir wohl zwei SchülerInnengruppen
betrachten:
• diejenigen, die in die duale Berufsausbildung einmünden wollten und
es geschafft haben (das sind 19 %),
• sowie den größeren Teil derjenigen, die die gymnasiale Oberstufe –
meist mit dem Ziel, später zu studieren - besuchen wollen (das sind
weitere 19 %).
‚Übrig’ bleiben SchülerInnen, die:
• ihre ‚Quali’ nicht bekommen haben und das Fachabitur am Berufskolleg anstreben
• einen Abschluss Klasse 10 erreichen oder verbessern wollen (HA10,
FOR, FORQ)
• überhaupt einen Schulabschluss erreichen wollen (HA9)
Über den (nicht) erreichten Abschluss ist vorbestimmt, in welche Bereiche des Übergangssystems die Schüler/innen einmünden(können). Sie
‚wählen’ diesen Weg allerdings nicht im Sinne einer rationalen Entscheidungslogik.
Aus der Perspektive der Lehrer/innen klingt das so:
„Die sagen: ach Schule ist ganz nett, ich mach weiterhin Schule. Und äh
die gehen dann irgendwie bei uns ins Büro und die fragen dann,
habt ihr die Fachoberschulreife, wenn ihr die Fachoberschulreife
habt, dann macht ihr jetzt Fachhochschulreife, und wenn ihr keine
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Fachoberschulreife habt, dann geht ihr ins Berufsgrundschuljahr.
Es besteht bei mindestens 90% der Schüler keine direkte Schulwahl, sondern die sind einfach zugeordnet, damit das Leben weitergeht ohne echte Entscheidung.“
Viele betrachten die Fortsetzung ihrer Schullaufbahn (nicht selten explizit
lustlos) mehr oder weniger als zweite Wahl. Sei es, dass sie (diffus) ihre
Chancen auf eine betriebliche Ausbildung erhöhen wollen, sei es, dass
sie einfach ‚irgendetwas’ machen müssen, bis sie dann doch noch eine
Gelegenheit finden. Die vollzeitschulischen Ausbildungsangebote werden also zu größeren Teilen nicht im Sinne einer ‚weiterführenden’ Ausbildung genutzt, sondern im Sinne der fortwährenden Wiederholung: ‚auf
ein Neues’ (in Prozent: 40).
Zu 3.
Nachfolgende Befunde beruhen auf ersten Auswertungen von Klassengesprächen in vollzeitschulischen Bildungsgängen, Gruppendiskussionen mit Lehrer/innen und Schulleiterinterviews an Berufskollegs. Ich beziehe mich im folgenden auf eine dieser Schulen.
Der Schulleiter fasst seine Haltung zum Übergangssystem knapp zusammen mit: „Wir halten das nicht für richtig“.
Der Grund liegt in erheblichen Diskrepanzen zwischen den Zielsetzungen und dem realen Geschehen:
SL:
[…] „die größten Probleme haben wir im, äh, in der zweijährigen
Berufsfachschule […] weil der Anspruch, der am Ende des Bildungsganges steht, nämlich der schulische Teil der Fachhochschulreife, und die Eingangsvoraussetzung, die die jungen Men-
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schen mitbringen, kaum zu überbrücken sind. […] Also bei den Assistenten-Bildungsgängen haben wir natürlich ähnliche Probleme.“
Dass sich die Schule diesen schwierigen Bedingungen beugt, wird mehrfach mit einem zentralen Argument begründet:
SL:
„Aber (wir) sehen uns in der Verantwortung, auch die jungen
Menschen, natürlich, von der Strasse zu holen, ne.“
Gleichwohl distanziert sich der Schulleiter im Blick auf die Entstehung
des Übergangssystems deutlich von staatlichen Entscheidungen, die zu
Aufgabenzuweisungen an die Berufsschule führen, die ihr fremd sind:
SL:
„Ausgangspunkt war eine äh ja äh, da war die, die Anzahl der jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, da
hat man wieder nach dem Staat geschrieen. […] und dann sind äh
diese Assistentenbildungsgänge und auch diese zweijährige Berufsfachschule und das Berufsgrundschuljahr entstanden.“
Die Lehrer/innen stellen fest: „Das System ist schon ziemlich krank“. Sie
unterscheiden bei den Schüler/innen vollzeitschulischer Bildungsgänge
drei Typen:
Der erste besteht aus den „wirklich Interessierte[n], die es auch leistungsmäßig können“. Diese Gruppe ist offensichtlich sehr klein („das
sind einige wenige“) und wird im Verlauf der Gruppendiskussion so gut
wie nicht thematisiert.
Beim zweiten Typus, denen, „die gefördert werden wollen“, überlegen
Lehrer/innen „jedes Mal wieder aufs Neue, wie kannst du denen helfen,
krieg ich die irgendwie zum Fachabitur oder muss ich wat anderet machen“.
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Dem dritten Typus, dem die Lehrer/innen mit deutlichem Befremden begegnen, fehlen die Grundlagen für ein gedeihliches Zusammenleben
„fast vollständig“:
W1: […] „das geht von zu spät kommen und sich entschuldigen über
gähnen ohne die Hand vor dem Mund zu haben, äh vernünftig mal
auf einem Stuhl zu sitzen, äh die Beine nicht auf den Tisch zu legen.“
M2: „Sich nicht gegenseitig mit Fäkalausdrücken zu beschimpfen, Rangeleien einzustellen.“
Das Verhältnis zwischen denjenigen, die bereit sind, sich auf das schulische Angebot einzulassen, und denjenigen, die sich ihm anhaltend widersetzen, ist dabei offensichtlich schwierig:
M1: „Und dann haben wir nämlich die Tendenz, dass man in einem
Fass mit sauren Gurken nicht zu ner süßen Gurke werden kann.
Das heißt, wir haben ein bestimmtes Klima in der Klasse und selbst
Leute, die eigentlich was anderes wollen, lassen sich von dem
Schlendrian, von dem Nichternstnehmen, so anstecken, dass sie
dadurch, unter anderem, runter gezogen werden. […] wenn die zu
lange in unserm System gewesen sind, […] ja dann sind sie versaut auch nen Stück.“
Insgesamt zeichnen die Lehrer/innen ein Bild, demzufolge die Erfüllung
des offiziellen schulischen Auftrages kaum bis gar nicht möglich erscheint. Sie sehen es als unangemessen an, der Berufsschule als funktionierendem Teil des Berufsbildungssystems allgemeinbildende Funktionen zuzuschreiben, wie dies aus ihrer Sicht bei allen schulischen Maßnahmen des Übergangssystems der Fall ist:
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M1: „… unser System macht die Leute unselbständig. […] Weil wir sie
beschulen […] Also wir simulieren nur Wirklichkeit, während draußen die Wirklichkeit ist und die Wirklichkeit erzieht die Leute und
eine simulierte Wirklichkeit kann nicht erziehen.“
Außerdem sehen sie sich einem erheblichen Druck ausgesetzt, Schüler/innen unermüdlich individuell zu fördern und damit ihre Möglichkeiten
im Zusammenhang der Selektionsfunktion beschnitten: „Da soll ja keiner
mehr durchfallen“.
Insgesamt hat sich damit eine Situation ergeben, in der die Außen- und
die Binnenwahrnehmung von vollzeitschulischen Bildungsgängen an Berufskollegs erheblich voneinander abweichen:
M1: „Wenn die Schüler ihren Eltern sagen, ich mach Fachabitur, finden
Eltern das immer klasse. Dat Kind bildet sich und hat dann eine
deutlich bessere Chance auf dem Markt und vielleicht kann es ja
doch mal studieren oder sonst irgendwas. Ähm während wir eigentlich wissen, dass das der erste Schritt zum Abstieg ist, denken Eltern immer noch, dass ist der erste Schritt zum Aufstieg.“
Die Schüler/innen klagen: „Dann verlangt die von uns, dass wir das
verstehen müssen“.
Sie bestätigen das Bild, das die Lehrer/innen von der Schule zeichnen,
in vielen Hinsichten. Zunächst ist die ‚Entscheidung’, zum Berufskolleg
zu gehen, bei den meisten denkbar ungünstig motiviert: die einen haben
keine Ausbildungsstelle gefunden, andere sind in ihren Bemühungen,
einen höherwertigen Schulabschluss zu erreichen, gescheitert. Dementsprechend spielt bei der Wahl des Ausbildungsganges dessen besonderes Profil (technisch, kaufmännisch, sozial) eine bestenfalls untergeord-
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nete Rolle. Den meisten geht es um eine Höherqualifizierung ‚beliebiger’
Art.
Sobald die schulischen Anforderungen ein Niveau erreichen, mit dem die
Schüler/innen Probleme haben, erhalten die Kommentare den Charakter
einer Entrüstung bzw. Beschwerde:
M:
„Die kloppen hier, im zweiten Halbjahr, haben die volle Pulle gegeben, alles. Die haben alles aus sich raus geholt. Vorher immer so
ganz lockere Arbeiten.“
Die Mehrheit der Schüler/innen akzeptiert grundsätzlich nicht, dass sie
einem gewissen Pensum gerecht werden müssen und bei Nichterbringung scheitern können, und die für jeden schulischen Unterricht konstitutive Unterstellung, dass die behandelten Inhalte verstehend nachvollzogen werden müssen, wird von vielen als eine Zumutung wahrgenommen:
M:
Wir haben jetzt ne neue Mathelehrerin bekommen, die schreibt die
Sachen an die Tafel, erklärt uns die grad mal zwei Minuten und
dann verlangt die von uns, dass wir es verstehen müssen. […]
M: Und bevor wir die Aufgabe überhaupt richtig zu Ende gerechnet
haben, textet die die schon an die Tafel an. […]
M:
Und wenn man ne Frage hat, dann kommt die noch an und kackt
einen an, nur weil wir das nicht richtig verstanden haben.
Vor diesem Hintergrund betrachten sie ihr eigenes Scheitern als ein Ereignis, auf das sie keinerlei Einfluss haben: „Und, ähm, dann entstehen
dann da Wissenslücken“.
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Etwa ein Jahr später hat mit der Klasse ein erneutes Gespräch stattgefunden. Die Tatsache, dass etwa die Hälfte der Schüler/innen zwischenzeitlich die Klasse (wegen zu hoher Fehlzeiten, Nichtversetzung u.a.)
verlassen hat, führt nicht zu einer Verbesserung der Situation, vielmehr
spitzen sich die Probleme in beinahe allen Hinsichten weiter zu. Die
Problembeschreibung erhält geradezu verschwörungstheoretische Züge:
M:
[…] und dann, ähm, also, das sieht dann so aus,(.) dass die das,
das Ganze, so die ganzen Lehrer nicht wollen halt, dass wir das
hier schaffen so.
Die Bereitschaft, sich den Leistungsanforderungen zu stellen, geht noch
weiter zurück:
I1:
Was tun Sie denn, um es hinzukriegen, (.) bei all den schwierigen
Umständen?
M:
Gar nichts.
M:
Nichts!
M:
Wir machen eigentlich (.) nichts. (1) Ist doch so.
M.
Also, vom letzten Jahr (.) Halbjahr bis zu diesem Halbjahr eigentlich gar (.) gar nichts gemacht. (.) Ja, muss ich jetzt mal ehrlich sagen, also, ich hab’ nichts an meinem (.) Alltag verändert, dass ich
da mehr lerne oder weniger, (.) gar nichts.
M:
Hab’ ich noch nie gemacht.
Im Ergebnis kommt es zu einer verschwindend geringen Zahl von voraussichtlich erfolgreichen Schüler/innen:
M:
Ein, ein oder zwei Leute, sag ich mal definitiv, dass die das schaffen werden. Der Beste der Klasse steht halt so auffe Kippe, und
dann halt der (.) noch der Rest, der übrig bleibt, die sind dann eh
schon so, die wiederholen das Jahr oder verlassen die Schule.
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Laut Auskunft der Schulleiter/innen kann man davon ausgehen, dass etwa ¼ den Abschluss im ersten Anlauf erreicht; die Quote erhöht
sich unter Hinzuziehung des zweiten Versuchs auf 1/3.
Dieser Situation begegnen die Schüler/innen letztlich auf eine fatalistische Weise:
M:
[…] ist ja genauso wie beim Lottospielen, man spielt ja, um zu gewinnen […] Ganz genauso wie hier […] aber […] man wird’s sowieso nicht schaffen.
Die im Zusammenhang mit der Wahl des Bildungsganges so diffuse wie
starke Orientierung ‚weiter Schule’ ist angesichts der besonderen Erfahrungen kurz vor dessen Beendigung nachhaltig ernüchtert:
M:
Ja, ich würd’ auf jeden Fall auch nach der Schule hier ne Ausbildung anfangen, (.) weil, ähm, ja, … ich hab’ auch erst mal die
Schnauze voll von Schule.