Beitrag aus: MUP III. Quartal 1997 PETER BAIREUTHER : Das Beispiel-Prinzip oder: Was Schüler nebenher über Mathematik lernen Es gibt eine Vielzahl didaktischer Prinzipien, die Aussagen über die Aufbereitung von Lerninhalten machen. Ob Spiralprinzip, genetisches Prinzip, operatives Prinzip, E-I-SPrinzip oder ... - jedes der Prinzipien beschreibt einen wichtigen Aspekt des Lernens und keines faßt das Lernen in seiner Vielschichtigkeit ganz. Eines aber haben alle diese Prinzipien gemeinsam: sie beschreiben modellhaft, wie Schüler mit Lerninhalten in Verbindung gebracht werden können bzw. sollen und wie die Lerninhalte gestaltet werden müssen, damit die Begegnung mit den Schülern besonders erfolgversprechend verlaufen kann. Alle Prinzipien orientieren sich an Erkenntnissen über die Psychologie des (durchschnittlichen?) Schülers. Das Prinzip der „Schülerorientierung“ drückt das ganz offensichtlich aus: Lernplanung ohne Berücksichtigung des „Abnehmers“ ist eigentlich kaum denkbar. Das ist selbstverständlich richtig und ganz sicher sollten die Schüler die Hauptpersonen im Lehr-Lernprozeß sein. Aber ebenso selbstverständlich sollte sein, daß ein Lehr1 Lernprozeß nicht ohne Berücksichtigung des Lehrers gedacht werden kann. Schließlich stehen die Lehrer in aller Regel ja nicht unbeteiligt daneben, wenn der Lerninhalt den Schülern begegnet: Schüler lernen zunächst nicht den Inhalt, sondern sie sehen, wie der Lehrer mit ihm umgeht! Lehrer sind in viel größerem Maße, als sie das meist wahrhaben wollen, ein Vorbild oder - weniger anspruchsvoll formuliert - ein Beispiel für die Schüler, was die Beziehung zu einzelnen Lerninhalten und zu Schulfächern angeht. Im Mathematikunterricht sind sie leider nicht sehr oft ein gutes Beispiel! Denn welcher Mathematiklehrer betreibt schon gerne und aktiv Mathematik, löst aus eigenem Antrieb mathematische Aufgaben, experimentiert mit Zahlen und geometrischen Formen und freut sich über Gesetzmäßigkeiten, die er dabei entdeckt? Im Gegenteil erfahren die Schüler ihren Mathematiklehrer nur allzu oft als jemand, der Aufgaben stellt, die sich jemand anders (der Autor des Schulbuchs bzw. des didaktischen Materials) ausgedacht hat, der die Frage nach dem Sinn der Aufgaben peinlich vermeidet und das Ergebnis einer Aufgabe für das einzig Erwähnenswerte hält, nach Erledigung der Aufgabe aber nie mehr danach fragt. Schüler erleben - kurz gesagt - ihren Mathematiklehrer oft als jemand, der Mathematik ganz offensichtlich wohl gut kann, aber nicht so recht mag. Selbstverständlich ist das ein Zerrbild. Denn zumindest die Lehrer, die Mathematik als Studienfach gewählt haben, haben das sicher nicht aus mangelnder Affinität zum Fach getan. Aber die Zuneigung zur Mathematik kommt doch oft aus anderen Quellen als bei den meisten übrigen Fächern. Wieder sehr verkürzt und zugespitzt formuliert: Mathematik ist für kaum jemand Hobby, in den meisten Fällen Pflicht. Was soll man sich auch mit einem Gegenstand spielerisch und kreativ auseinandersetzen, bei dem ganz offensichtlich alles klar und eindeutig geregelt ist: vom linearen Aufbau des Stoffes über die zu findenden Regeln bis zu den Lösungen der Aufgaben! Also geht es nur noch um die Verpackung eines Fertigproduktes und da hilft der Griff in die zumindest in der Grundschule randvolle Kiste mit (kindgemäßen!) methodischen Anregungen und Übungs1 Ich gebrauche zur Vereinfachung die männliche Form, obwohl ich natürlich weiß, dass es auch und nicht gerade wenige Lehrerinnen gibt! Da aber die Spezies der Mathematiklehrer(innen) in diesem Artikel nicht immer nur gelobt wird, hoffe ich mit meiner Sprachregelung die Kolleginnen nicht allzu sehr zu verärgern. Beitrag aus: MUP III. Quartal 1997 materialien. Dass es sich nicht lohnt, die Aufgaben vorher selbst zu erproben, versteht sich von selbst: schließlich geht es darum, die Schüler und nicht den Lehrer zu motivieren und den Schülern die nötigen Einsichten zu vermitteln, die der Lehrer schön längst gewonnen hat. Irgendwie ist das Zerrbild des Mathematiklehrers doch keines: kaum ein Mathematiklehrer nimmt die Mathematik zumindest der Schule wirklich ernst und bemüht sich (für sich selbst!) um tiefere Einsicht, die sich weiterzugeben lohnt, um Zusammenhänge, die forschendes und entdeckendes Arbeiten anregen. Kaum ein Mathematiklehrer kann sich - im Bereich der Schulmathematik - an ein eigenes Heureka-Erlebnis erinnern oder an eine Situation, in der ihm klar wurde, dass mathematische Aktivität Sinn stiften und Befriedigung vermitteln kann. Kaum ein Mathematiklehrer weiß aus eigenem Erleben, was an der Schulmathematik interessant und wichtig sein kann: wie soll er es dann seinen Schülern vermitteln? Es ist ganz schön schwer, im Mathematikunterricht den Schülern ein gutes Beispiel zu geben! Wer nicht ein sehr guter Schauspieler ist, muss daran arbeiten, sein eigenes Verhältnis zur Schulmathematik aufzumöbeln. Er muss zumindest gelegentlich selbst mit Zahlen herumspielen, geometrische Muster entwerfen und Körper basteln, muss sich Materialien zu Sachsituationen besorgen und sie auswerten, muss Schulbuchaufgaben rechnen und aufgrund der gemachten Erfahrungen nach seinen Bedürfnissen verändern. Oder: die eigene aktive Erfahrung, der konstruktive und entdeckende Umgang mit Mathematik ist die notwendige Voraussetzung für Ideen, wie Schüler im Unterricht entsprechende Umgangsformen entwickeln können. Sie brauchen dafür den Lehrer als Anschauungsbeispiel! Das sagt mit anderen Worten das Beispiel-Prinzip: Nur was ich selbst werden die Schüler in meinem Unterricht • • • • • • gelernt verstanden konkret erfahren mit Sinn versehen in Zusammenhänge eingebettet mit Freude betrieben • • • • • • lernen verstehen konkret erfahren mit Sinn versehen in Zusammenhänge einbetten mit Freude betreiben habe, Das klingt sehr anspruchsvoll und ist es wohl auch, zumal die eigene Bemühung, das eigene gute Beispiel keineswegs garantiert, dass die Schüler es auch nachahmen! Aber was ich nicht selbst an positiven Erfahrungen mit Mathematik verbinde, wird sicher nicht bei den Schülern ankommen - es sei denn, sie verschaffen sich die Erfahrungen ohne mein Zutun. Und die Mühe lohnt sich durchaus: erfreulicherweise ist die Mathematik - auch die Schulmathematik - keineswegs so abgeschlossen und fertig, dass ein Lehrer nichts mehr lernen könnte! Viele Beiträge von Lehrern auch in dieser Zeitschrift zeigen, dass immer wieder neue Sichtweisen und Aufgabenstellungen Beitrag aus: MUP III. Quartal 1997 möglich sind. Am Beispiel des Formzahlaspektes 2 ist unmittelbar zu sehen, dass auch der ganz elementare Mathematikunterricht eine unüberschaubare Fülle von interessanten Einsichten ermöglicht. Und kaum eine Aufgabe ist so abgedroschen und unergiebig, dass sich nicht etwas aus ihr machen ließe! Und wenn es nur darum geht, bei einer simplen Übung einer speziellen Rechenoperation einen Überblick über sämtliche Möglichkeiten für Aufgabenstellungen dieses Typs zu gewinnen, um dann entscheiden zu können, ob die ausgewählten Aufgaben wirklich gut ausgewählt sind oder ob es Sinn macht, die Schüler selbst zur Produktion entsprechender Aufgaben anzuhalten. Es empfiehlt sich schon, das Beispiel-Prinzip zu beherzigen. Denn es hat eine sehr unangenehme Kehrseite! Die Techniken, sich Mathematik vom Leib zu halten, sind blitzschnell und sehr stabil gelernt, weil sie keine eigene Anstrengung erfordern, weil sie es möglich machen, keine Verantwortung zu übernehmen und - vor allem - weil sie der allgemeinen Erwartung an den Mathematikunterricht entsprechen. Wenn diese Erwartung dann noch durch das Beispiel des Lehrers bestätigt und verstärkt wird, wird ein Schüler kaum anders können, als nun seinerseits die Erwartungen des Lehrers zu bestätigen, dass Schüler ja gar nichts anderes wollen als einfache Rezepte und dass sie durch alle ungewohnten Anforderungen überfordert sind. Das ist - in negativer Formulierung - wiederum das Beispiel-Prinzip: Alles was ich selbst werden die Schüler in meinem Unterricht • • • • mechanisch betreibe ungewohnt finde lieber vermeide abhake und vergesse • • • • mechanisch betreiben ungewohnt finden lieber vermeiden abhaken und vergessen Eigentlich ist die Mathematik zu schade dafür, um in dieser Weise immer wieder weiter gegeben zu werden! Arbeiten wir also daran, den Schülern ein gutes Beispiel für den Umgang mit Mathematik zu geben und so das Fach besser in den Kanon der Schulfächer einzubinden, in denen es durchaus zum guten Ton gehört, dass der Lehrer das, was die Schüler im Unterricht machen, selbst vorher ausprobiert hat oder mit Spaß und Gewinn mitmacht! 2 P. Baireuther: Zahl und Form. In: Mathematische Unterrichtspraxis, Heft 1/1997
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