www.stuttgarter-zeitung.de SAMSTAG 20. Juli 2013 KULTUR 31 Cinemascope 32 Fernsehprogramm 34 Was Wann Wo 35 Was für ein Spektakel, das alles! Der Wilhelmshöher Park in Kassel trägt als 38. Kulturstätte in Deutschland neuerdings das Adelsprädikat der Unesco. Die Auszeichnung gilt einem einmaligen Gesamtkunstwerk aus Landschaftsgarten und Architektur. Von Amber Sayah Welterbe assel? Ist das nicht die Stadt, die alle fünf Jahre von der Documenta aus dem Dornröschenschlaf geküsst wird? Bis vor Kurzem hätte man auf diese Frage noch genickt. Doch seit dem 23. Juni 2013 haben sich die Verhältnisse gewandelt. An diesem Tag ist, um im Bild zu bleiben, ein anderer Prinz des Weges gekommen, und die belebende Wirkung seines Kusses hält nicht nur hundert Tage an wie jeweils bei der großen Kunstschau. „Wir sind Welterbe!“, verkünden rote Aufkleber auf Plakaten entlang der Wilhelmshöher Allee, die schnurgerade auf den frisch geadelten Park mit Schloss und Herkulesstatue zuführt. Der freundliche Sendbote, den die „Museumslandschaft Hessen Kassel“ zum Abholen an den Bahnhof Wilhelmshöhe geschickt hat, freut sich. Rüdiger Biedebach ist Gärtner im Wilhelmshöher Park. Wie „ein kleiner Ritterschlag“, sagt er, sei dieser Titel – auch für ihn und seine dreißig Kollegen, die die Anlagen in Schuss halten. Herr Biedebach ist vor allem für die Wiesen zuständig. Viele Flächen in dem annähernd drei Quadratkilometer großen Gelände befinden sich in steiler Hanglage und können nur von Hand gemäht werden. Keine leichte Arbeit. „Wir sind unheimlich stolz“, sagt auch Eva Kühne-Hörmann. Die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst stammt selbst aus Kassel und lässt es sich nicht nehmen, die Expertenführung für Journalisten den ganzen Tag zu begleiten, hat sie persönlich doch kräftig am Projektstrang Foto: MHK mitgezogen. Vier Jahre Teamarbeit, 280 Die barocken Kaskaden im Bergpark Wilhelmshöhe ergießen sich zu Füßen der Herkulesstatue. Seiten, 200 Bilder: das Ergebnis muss überzeugend gewesen sein. Mehr als ein paar eine Randlage abgedrängt. Dem kollekti- szenierung der gebändigten Natur ein Na- apotheose der Wasserkünste den französiBeratungsminuten hat es bei der jüngsten ven Selbstbewusstsein in Kassel werde die turtheater zu machen. Wenn also zu be- schen Louis Quatorze in seinem Versailles Jahrestagung des Unesco-Komitees in Auszeichnung darum sicher enormen Auf- stimmten Zeiten die Reservoire geöffnet auszustechen, scheiterte an technischen Phnom Penh nicht gedauert, und der An- trieb geben, vermutet der ins Hessische werden, beginnt es erst leise, leise zu rie- Hürden. Geschafft hat das dann der Urtrag, dem Wilhelmshöher Park, seinem ausgewanderte Exilschwabe Gaulke. seln, steigert sich das Strömen dann zu enkel Wilhelm IX. Allerdings hatte sich der Schloss und seinen Wasserkünsten WeltAn Egoschwäche litt der Mann, dem der einem Rauschen und Sprühen, wird das Geschmack zu dessen Regierungszeit erbestatus zu attestieren, war durch. heutige Welterbe-Glanz letztlich zu ver- Wasser geteilt, im Kreis und über Stufen (1785–1821) bereits grundlegend gewanKassel ist damit die 38. Welterbestätte danken ist, dagegen gewiss nicht. Landgraf geführt, an den Kanten durch Metallschie- delt. Man fand nun Gefallen an zwar inszein Deutschland – was es für andere deut- Carl (1654–1730) war ein Regent, der zwar nen zu majestätischen „Barockspiegeln“ – nierten, aber möglichst natürlich wirkensche Antragsteller nicht gerade leichter nur über einen deutschen Kleinstaat gleichmäßigen, dünnen Wasservorhängen den Gartenlandschaften im englischen Stil. macht, das begehrte Siegel zu herrschte, aber umso Größe- – ausgebreitet, in Bassins gesammelt und Mit der Fontäne gab es daher zunächst ein erlangen. Denn nach dem Nur Katharina res im Sinn hatte. Um mit an- vom besiegt im Becken liegenden Riesen Legitimationsproblem: zu unnatürlich! Bis Gießkannenprinzip wird es von Württemberg deren Fürstenhäusern zu kon- Encelados in hohem Bogen ausgespuckt, dem Landgrafen und seinen Architekten ganz und gar nicht verteilt, zu- war nicht von allen kurrieren und sie möglichst während ein geheim erzeugter Luftstrom die Geysire einfielen. Ideal sind also Tage, mal Deutschland nach Anzu übertrumpfen, verlegte aus den Tröten der Brunnenfiguren links an denen eine leichte Brise die nur kraft des sicht der Organisation der Gags amüsiert. Carl sich nicht (nur) aufs und rechts einen Höllenlärm hervorbläst. Gefälles aufschießende Wassereruption Vereinten Nationen für WisSchlösserbauen – das machBesonders neckisch war der Einfall, in zerstäubt und sich das perfekte Bild eines senschaft, Bildung und Kultur auf der Welt- ten alle –, sondern wendete sich der Gestal- der sogenannten Vexierwassergrotte Besu- isländischen Sprudlers bietet. erbeliste ohnehin schon überrepräsentiert tung weitläufiger Gartenanlagen nach ita- chern aus im Boden versteckten Düsen Achsen waren zu Wilhelms Zeiten ebenist. Stuttgart beispielsweise hat mit seinem lienischem Vorbild zu. Wasser unter die Röcke zu spritzen. Jé- falls aus der Mode gekommen. Unterhalb Versuch, die Corbusier-Häuser auf dem An einem bewaldeten Berghang im Wes- rôme Bonaparte, Napoleons jüngster Bru- der Barockkaskaden führen darum verWeißenhof als Teil des weltweiten Cobu- ten der Stadt ließ er von seinem Architek- der, der als König von Westphalen ein paar schlungene Pfade durch den Wald zu versier-Vermächtnisses in Welterberang erhe- ten Giovanni Francesco Guerniero einen Jahre lang in Kassel residierte, fand das ur- steckten, hochromantischen Wasserspieben zu lassen, bisher kein Glück gehabt, Park mit Wasserspielen anlegen, der sich komisch, seine Gattin, Katharina von len wie dem Steinhöfer Wasserfall mit seitrotz zweimaligem Anlauf. über den gesamten Abhang erstreckt. Der Württemberg, soll nicht amüsiert gewesen nen unaufhaltsam den Hang überströ„Wir waren immer der arme Norden“, Park, urteilte später Georg Dehio, Urvater sein. Aber was für ein Spektakel das alles! menden Wassermassen, der „Teufelsbrüsagt die Ministerin, aber Eva Kühne-Hör- der modernen Denkmalpflege, sei „vielUnd über dem Ganzen wacht im Brenn- cke“ über einem schäumenden Gebirgsmann zweifelt nicht, dass diese Bescheini- leicht das Grandioseste, was irgendwo der punkt der kilometerlangen zentralen Ach- bach oder – größter Wow-Effekt – der gung von höchster Stelle, eine einmalige Barock in Verbindung von Architektur und se wohlgefällig Herkules, die von dem künstlichen Ruine eines Aquädukts mit und international herausragende Kultur- Landschaft gewagt hat“. Den Vogel schoss Augsburger Goldschmied Johann Jakob dem donnernden Wasserfall, der über die stätte zu sein, die Identifikation ihrer der Landgraf aber mit der Entscheidung ab, Anthoni aus Kupfer gefertigte, acht Meter Abbruchkante stürzt. Landsleute mit dem Ort und der Region das Wasser am höchsten Punkt, dem Okto- hohe Kolossalfigur des antiken Helden. Ganz am Ende dann Schloss Wilhelmsstärken wird. Karsten Gaulke, der Leiter gon zu Füßen des Herkules, entspringen Nach farnesischem Vorbild auf seine Keule höhe. Drinnen hängen Gemälde von Dürer, des Astronomisch-Physikalischen Kabi- und dann in Kaskaden bergab fließen zu gelehnt, die Rechte mit den Äpfeln der Hes- Rembrandt, Rubens, van Dyck und Tizian. netts, das die landgräfliche Sammlung wis- lassen. Bis zum Schloss hinunter beträgt periden in die Hüfte gestützt, ist er das Denn ehrgeizige Sammler waren die kunstsenschaftlicher Instrumente beherbergt, der Höhenunterschied immerhin fast drei- Sinnbild von Stärke – ganz klar ein Herr- sinnigen Landgrafen von Hessen auch. sieht es ähnlich. Jahrzehntelang befand hundert Meter. Das war und ist bis heute, schersymbol, wie der Park mit seinen Was- Aber das ist eine andere Geschichte. sich die Stadt im Zonenrandgebiet, war – neudeutsch gesprochen, ein Alleinstel- serspielen als Gesamtkunstwerk eine einobwohl dem geografischen Mittelpunkt lungsmerkmal allererster Klasse. Wasserkünste Vom 1. Mai bis 3. Oktober zige absolutistische Machtdemonstration. Deutschlands am drittnächsten gelegen Es galt, das formlose Element Wasser in Nur Carls tollkühner Plan, mit einer mittwochs, sonntags und an Feiertagen jeweils (nach Erfurt und Göttingen) – de facto in künstlichste Form zu bringen, aus der In- fünfzig Meter hohen Fontäne als Schluss- 14.30 Uhr. Start am Herkules. Fünf Minuten Deutsch K Eine überfällige Ausgrabung Bei den Festspielen ist die Oper „Der Kaufmann von Venedig“ uraufgeführt worden. Von Tim Schleider Bregenz ie viele Geschichten sind zu dieser Bregenzer Festspielpremiere zu erzählen? Die erste ist wohl diese: Am 1. November 1935 wird Robert Andrzej Krauthammer in Warschau geboren. Er entwickelt sich zum kleinen Genie, kann mit drei Jahren lesen, beginnt mit vier Jahren das Klavierspiel. Mit fünf lebt er im Warschauer Ghetto. Mit sechs schmuggelt ihn die Großmutter heraus in ein Versteck. Zur Sicherheit bekommt er einen neuen Namen, nach dem Lieblingskomponisten der Familie: André Tchaikowsky. Nach dem Krieg wird Tchaikowsky ein international bekannter Pianist, voll exzentrischer Züge. Als in Spanien das Publikum einmal nicht so jubelt, wie er sich das vorstellt, spielt er zur Strafe als Zugabe Bachs Goldbergvariationen – komplett. Er W stirbt 1982. Seinen Schädel vermacht er der Royal Shakespeare Company. Die zweite Geschichte ist diese: Tchaikowsky hat auch komponiert; Klavierkonzerte, Kammermusik. Und über viele Jahre hinweg eine große Oper: „Der Kaufmann von Venedig“ eben nach Shakespeare. Drei Themen sind es, die ihn darin bewegen: Das erste ist die Bereitschaft Antonios, das eigene Fleisch zu verpfänden, damit sein Freund Bassanio um die reiche Portia werben kann – ein Freundschaftsopfer, das wohl auch aus Liebe geschieht. Das zweite Thema ist das Wesen und die Kraft der Musik, die der Dichter auch hier beschwört: „Der Mann, der nicht Musik hat, taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken.“ Und das dritte Thema ist die Figur des Geldverleihers Shylock, dem Shakespeare zwar einen großen Monolog schenkt darüber, dass ein Jude blute, leide und sterbe wie jeder andere Mensch auch, den er aber nur wenige Verszeilen später einer der größten JudenDemütigungen der Theatergeschichte aussetzt. Das ist der Mix, an dem sich der Jude Tchaikowsky sein Leben lang abarbeitet. Seine Oper wurde nie gespielt. Bis zum Beginn der dritten Geschichte, die zu erzählen ist: der Uraufführung des „Kaufmanns von Venedig“ bei den Bregenzer Festspielen über dreißig Jahre nach dem Tod des Komponisten. Es ist ein großes, dreistündiges Werk, der Moderne verpflichtet, in der schroffe, scharfe Klänge neben filigranen Liedstrukturen und musikalischen Zitaten stehen; hier die süße, tänzerische Leichtigkeit des Lebens kulturbeflissener Großbürger, dort die Düsternis des von allen verabscheuten Juden. Dieser „Kaufmann von Venedig“ ist als Oper in Bregenz dichter und spannender dargebracht als auf den meisten Schauspielbühnen. Keith Warner hat das Werk very british inszeniert, also konsequent gut erzählend und von höchster ästhetischer Kraft im Bühnenbild von Ashley MartinDavis, in der zwei lange Reihen von Bankschließfächern die wundersamsten Verwandlungen erlauben. Erik Nielsen leitet die Wiener Symphoniker phänomenal durch den Kosmos dieser Partitur. Erstklassig auch die Sängerbesetzung mit dem Countertenor Christopher Ainslie als Antonio und Magdalena Anna Hofmann als Portia. Vor allem aber der Bariton Adrian Eröd als Shylock macht mit seiner Stimmund Darstellungskraft diesen Abend zum großen allgemeinen Menschheitsdrama. Es gäbe noch viele Geschichten über dieses Opernprojekt zu erzählen. Wer kurz und wild entschlossen ist, kann an diesem Wochenende ein ganzes TchaikowskySymposium im Bregenzer Festspielhaus besuchen. Lohnen wird es sich. Großartiges, bewegendes Musiktheater. Vorstellungen 21. und 28. Juli, jeweils 11 Uhr Man selbst, ganz neu Erfindungen Was Daniel Düsentrieb in Entenhausen, das sind in Deutschland die Deutschen: lauter tolle Erfinder. Von Ruprecht Skasa-Weiß eht’s nach der Zahl der Patente, liegt China vorn. Egal, beim Erfinden behaupten die Deutschen noch immer die Weltführerschaft, und wen das verwundert, der wisse: es ist ein Trickspiel. Die Deutschen denken sich nicht wirklich Neues aus. Sie erfinden nur das Alte neu. Etwas bereits Erfundenes so vorzustellen, als sei es ganz neu – mit dieser Formel ließe sich auch die Arbeit des Plagiators beschreiben. Abkupfern nennen’s die einen, neuasiatisch neuschöpfen die andern. Doch wohnt nicht allem Nach- und Neuerfundenen ein fauler Zauber inne? Seit je schwankt Erfindergeist zwischen witzlos und allzu witzig: Bekanntes, Bewährtes nochmals zu erfinden (beispielsweise das Rad), ist gewiss idiotisch, doch Daniel Düsentriebs Brotschmierapparat schmiert noch ganz anders ab in seiner lachhafthochkomplexen Ausgefallenheit – so wie die Unterhose mit Luftfilter oder das Endlos-Taschentuch, das ein Japaner für besonders Verschnupfte erfand. Nein, Deutsche wollen die Welt nicht erfinden. Sie wollen sie nur verbessern, also irgendwie neu erfinden. Entsprechend die Anpreisungen, die man jetzt überall hören kann: Comics neu erfinden! Studieren neu erfinden! „Findige Mittelständler erfinden Alltagsprodukte neu.“ „Wir erfinden das Büro neu“, verspricht Triumph-Adler. Nokias neues Smartphone „soll die Fotografie neu erfinden“, mutmaßt der „Focus“. Dazwischen ein Aufruf der „Welt“: „Den Euro neu erfinden!“ Und ein Dementi, überbracht vom „Tagesspiegel“: „Sat 1 will nicht der Sender sein, der das U-Fernsehen neu erfindet.“ Nicht jede Neuerfindung entzückt, Wolfgang Gerhardt, dem Ex-Parteichef der FDP, behagte es laut n-tv zum Beispiel absolut nicht, „dass Guido Westerwelle die FDP als Spaßpartei neu erfand“. Eine besonders hübsche Erfindung verdankt die Welt dem Amerikaner Joe W. Armstrong, dessen „handbetriebener Apparat, um sich selbst in den Hintern zu treten“, eine beliebte Attraktion in USFreizeitparks werden sollte. Sich selber in den Hintern treten – oder sich selber neu erfinden, kommt das nicht fast aufs selbe? Jedenfalls erfindet der moderne Zeitgenosse nichts lieber als sich, sich ganz persönlich. „Längere Haare, schärferer Ton, forscherer Machtanspruch: Michael Spindelegger erfindet sich im Wahlkampf neu.“ Taz: „De facto müssen sich alle Familien heute neu erfinden.“ T-Online: „Tengelmann erfindet sich neu.“ „Landes-Zeitung“: „Der VfL erfindet sich neu.“ „Bild“: „Der VfB erfindet sich neu.“ SZ: „Hat sich Matthias Sammer neu erfunden?“ Wir alle könnten Erfinder sein, längere Haare, kürzere Fingernägel genügen – oder Mentholzigaretten. Prompt macht sich der „Stern“ über Helmut Schmidts Glimmstengel Gedanken: Ob der Ex-Kanzler nun etwa sein Markenzeichen, die „ewig glühende Reyno-Kippe“, hinsausen lasse und „sich auf seine alten Tage nochmal neu erfinden“ wolle, fragt das Blatt. Jeder Deutsche ein Erfinder: das haben wir nicht erfunden. G Nibelungenfestspiele Wird Nico Hofmann Intendant in Worms? Gerüchte, wonach der Produzent Nico Hofmann Intendant der Nibelungenfestspiele in Worms werden soll, erhalten vom Amtsinhaber Dieter Wedel neue Nahrung. „Gerüchten zufolge ist einer im Rennen, den ich gut kenne und schätze – ein sehr kluger, einfallsreicher Mann. Wir sprachen vor ein paar Jahren darüber, ob er Regisseur bleiben oder Produzent werden soll“, sagte Wedel der Zeitung „Die Rheinpfalz“. Wedels Intendanten-Vertrag läuft 2014 aus. dpa Kontakt Kulturredaktion Telefon: 07 11/72 05-12 41 E-Mail: [email protected]
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