Ich weiß schon, was du sagen willst - Max Planck Institute for

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.03.2014
Seite:
Ressort:
N4
Natur und Wissenschaft
Seitentitel:
Nummer:
Forschung und Lehre
54
Ich weiß schon, was du sagen willst
Lesen und Schreiben nützt beim Hören: Eine Studie zum Analphabetismus
Eines hat Boxen mit dem sprachlichen
Austausch gemeinsam: Erfolgreich ist,
wer immer schon vorausahnt, was er
von seinem Gegenüber in der nächsten
Sekunde zu erwarten hat, und entsprechend schlagfertig reagieren kann.
Unmittelbar bevorstehende Ereignisse
zu antizipieren ist eine grundlegende
Fähigkeit der Kognition. Sie ermöglicht
es, aus gerade begonnenen Sätzen innerhalb von Sekundenbruchteilen zu
erschließen, was der Gesprächspartner
gleich sagen wird: Wortbedeutungen
und grammatische Strukturen liefern
den unbewusst im Kopf ablaufenden
Wahrscheinlichkeitsrechnungen die
Anhaltspunkte für solche Prognosen.
Psycholinguistische Forschungen zeigen allerdings, dass die elementare
Schulbildung die Herausbildung dieser
Fertigkeit stark beeinflusst. Analphabeten können nämlich deutlich schlechter
antizipieren, was ihr Gesprächspartner
sagen wird, als Menschen, die lesen und
schreiben können. Zu diesem Ergebnis
kommt Falk Huettig vom Max-PlanckInstitut für Psycholinguistik in Nijmegen. Gemeinsam mit Kollegen von der
indischen Universität Allahabad hat er
untersucht, wie dort lebende Studenten
und Analphabeten sprachliche Informationen aus gesprochenen Sätzen nutzen,
um vorherzusagen, welchen Gegenstand ein Sprecher als Nächstes erwähnen wird. Indien ist für solche Untersuchungen auf bedrückende Weise geeignet: Etwa ein Drittel der Bevölkerung
kann nicht oder kaum lesen und schreiben. Gründe sind in der Regel Armut
oder soziale Barrieren.
Bei ihren Tests mussten die Sprachwissenschaftler sicherstellen, dass sie tatsächlich nur Wirkungen der Illiteralität
erfassten. Aus diesem Grund ließen sie
die Probanden einen einfachen Reaktionstest absolvieren: Sie bekamen einen
alltäglichen Satz - "Gleich werden Sie
eine hohe Tür sehen!" - zu hören, während sie auf einem Computerbildschirm
vier Objekte sahen: einen Knopf, eine
Blume, eine Trommel und eine Tür.
Diese war, da sie im gesprochenen Satz
erwähnt wurde, das Zielobjekt. Die Aufgabe bestand nur darin, zuzuhören und
den Blick währenddessen nicht vom
Bildschirm abzuwenden. Weitere
Instruktionen gab es nicht. Gesprochen
wurden die Sätze auf Hindi, der Muttersprache der Probanden, in der Wörter,
vergleichbar dem Deutschen, flektiert
werden, so dass sie in ihren grammatischen Endungen zueinanderpassen. Die
Testteilnehmer hatten daher die Möglichkeit, schon beim Hören der ersten
Worte die Zielobjekte einzugrenzen: Zu
"eine hohe" passt beispielsweise "Tür",
aber nicht "Fenster".
Außerdem waren die Adjektive so
gewählt, dass sie mit dem nachfolgenden Substantiv inhaltlich verbunden
waren und im Sprachgebrauch oft in
dieser Kombination vorkamen. Hingegen waren die anderen drei Objekte auf
dem Bildschirm mit dem Adjektiv
weder semantisch noch grammatisch
assoziiert. Die Linguisten prüften nun,
ob und wann die Probanden - Studenten
wie Analphabeten - diese Informationen aus den gehörten Sätzen nutzten,
um auf das Zielobjekt zu schließen. Es
zeigte sich, dass die Studenten bereits
auf das Zielobjekt schauten, nachdem
sie die ersten Laute des Adjektivs gehört
hatten und eine Sekunde bevor das Substantiv gesprochen wurde. Sie ahnten
also frühzeitig, was kommen würde. Die
Analphabeten hingegen schauten erst
auf die Zielobjekte, als diese genannt
wurden, machten also von den sprachlichen Indizien vorher kaum Gebrauch.
Der Einwand, dass die Analphabeten
vielleicht die grammatischen Strukturen
der Sprache nicht hinreichend verinnerlicht hatten, verfängt nicht, denn in ihren
eigenen Äußerungen machten sie keine
Flexionsfehler. Auch Unverständnis
oder Abneigung gegenüber der Aufgabe schließen die Wissenschaftler aus.
Die Analphabeten bewegten die Augen
nämlich nicht ziellos oder zufällig, sondern sie richteten ihre Blicke auf das
Zielobjekt, sobald sie dessen Namen
gehört hatten. Sie benutzten also die
sprachlichen Informationen, aber eben
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nicht für eine Prognose.
Da Literalität eine menschheitsgeschichtlich junge Fähigkeit ist, müssen
die zuständigen Hirnareale von der Evolution ursprünglich für andere Zwecke
hervorgebracht worden sein. Viel deutet
darauf hin, dass Schaltkreise, die eigentlich der Gesichtserkennung dienen, auch
für das Lesen eine wichtige Rolle spielen. Huettig und seine Kollegen vermuten, dass die neuronalen Netzwerke, auf
denen die Mechanismen der sprachlichen Antizipation beruhen, durch die
Lesefähigkeit verstärkt und präzise aufeinander abgestimmt werden. Ein geübter Leser verarbeitet pro Minute etwa
250 Wörter, während die Kapazität beim
Sprechen 100 Wörter darunterliegt.
Das hohe Lesetempo kommt vermutlich
auch dadurch zustande, dass Leser durch
die Lektüre viel Kontextwissen erwerben und Wörter routinemäßig vorhersagen konnen. Möglicherweise übertragen sie diese Fertigkeit auf die Verarbeitung gesprochener Sprache. Welche der
vielen Prozesse, die beim Lesen ablaufen, es nun genau sind, die das Verstehen gesprochener Sprache beeinflussen,
ist allerdings noch offen, und ebenso,
welches Gewicht syntaktische, wortgrammatische und semantische Informationen für die Vorausberechnung jeweils
haben.
Schließlich stellt sich die Frage, welche
praktische Bedeutung solche Labormessungen haben. Immerhin gibt es viele
illiterate Sprachgemeinschaften auf der
Welt, die offenbar auch ohne LeseTurbo gut zurechtkommen. In Gesellschaften wie unserer, die von Wettbewerb bestimmt sind und in denen der
kommunikative Erfolg auch von schnellen Reaktionen abhängt, könnten solche
Unterschiede schon eine Rolle spielen,
meint Falk Huettig. Er plädiert dafür,
Leseschwächen bei Kindern frühzeitiger zu identifizieren, um sie nicht in
einen Teufelskreis des Misserfolgs geraten zu lassen, der dazu führt, dass sie
das Lesen am Ende ganz vermeiden. Die
kognitiven Nebenwirkungen zeigen sich
nämlich nicht nur bei Analphabeten im
strengen Sinn, sondern auch bei Men- ten und mit Mühe tun.
schen, die lesen können, aber es nur sel- WOLFGANG KRISCHKE
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