Liebe(r) konkret: Was soll ich Ihnen das erklären. - Fortschrittsforum

Liebe(r) konkret: Was soll ich Ihnen das erklären.
von Sven Schlebesam 16. Oktober 2013
Die Magier der Moderne sind Programmierer und ihre genialen Fähigkeiten, durch Algorithmen die
Dynamiken der Welt zu erfassen und nutzbar zu machen - behaupten Bankanalysten mit großer
Bewunderung. Doch wer sitzt im virtuellen Mega-Jumbo-Jet unserer Gesellschaft eigentlich wirklich im
Cockpit?
Es war ein Lachen, das sich ins Gehirn einbrannte: Als Irland in die Bankenkrise stürzte, sangen David D., Chef der Anglo
Irish Bank, und sein Manager John B., am Telefon die erste Strophe des Deutschlandliedes und machten sich über die
Bereitschaft Deutschland lustig, für die enormen Risiken von Finanzspekulation im Eurobankenraum auf Gedeih und
Verderb einzustehen. Anzeichen für Reue oder Sensibilität von ethisch-moralischem Fehlverhalten? Fehlanzeige.
2010 stand in Washington ein Branchenkollege aus dem Hause Goldman Sachs vor einem Untersuchungsausschuss des
US-Senats Rede und Antwort in Sachen "Schrottpapierhandel". "The Faboulus Fab" Fabrice Tourre hatte wertlose
"Abacus"-Papiere an Anleger und Institutionen in aller Welt verkauft. Zum Wohl der Bank. Zum Nachteil für die Kunden.
Der 22jährige sah sich selbst als begnadeten Finanzmathematiker und Avantgarde der globalen Wirtschaftselite. Seine
Standardantwort im Untersuchungsausschuß machte selbst gestandene Senatoren sprachlos: "Was soll ich Ihnen das
erklären. Sie würden es sowieso nicht verstehen." Schuldeingeständnis? Von wegen. Entscheidend ist das Spiel. Und noch
entscheidender die Spielhelden, die Regeln zugleich programmieren und brechen.
Wir leben im Jahr 2013. Wir haben den Einsturz des World Trade Centers hinter uns und diverse Finanz-, Banken- und
Eurokrisen. Gepaart von der ökologischen Krise und einer sozialen. Flüchtlingsströme branden an unsichtbare und sichtbare
Festungsmauern. Es ist das Zeitalter der aufstrebenden Industriestaaten. Und: das Zeitalter des Menschen. Das sogenannte
Anthropozän. Selbst die Grünen (vgl. Ralf Füchs) haben sich mittlerweile aus ihrer emotionalen und intellektuellen Heimat
auf dem Planeten Erde verabschiedet und die Natur psychologisch in den Vorgarten des Menschen verbannt: Nicht wir sind
Teil einer ursprünglichen Natur, sondern sie hat fortan eine Existenzberechtigung in der vom Menschen determinierten
Lebenswelt. Damit hat die in letzter Zeit so häufig beschworene Aufklärung des Denkens radikal einseitig gesiegt: Der
Mensch ist herausgeführt aus der Vormundschaft Gottes, seiner Geister und der Natur und fortan selbst sein eigener King of
Kotlett (frei nach Stefan Raab). Der König ist tot. Es lebe die menschliche Gestaltungsmacht.
Doch der sich so mündig selbstvergewisserte Mensch ist schon lange nicht mehr Herr im eigenen Hause. Zentrale Bereiche
seiner Lebenswelt haben sich verselbständigt. Die Wirtschaftswelt zum Beispiel mit ihren Finanzströmen. Zu komplex sind
ihre Muster. Zu schnell ist ihr Pulsieren. Die Kontrolle übernehmen und die Taktfrequenz zugleich geben heute Algorithmen
an. Erfunden von den Geeks der Finanzbranche. Brilliant im Geist. Doch ohne ethisch-moralische Verankerung. Weder in
ihrer inneren noch in unserer gemeinsamen äußeren Welt. (Vgl, Sattelberger im Tagesspiegel ). Eine Welt, die nur durch uns
entsteht und für die wir zugleich bestehen. Damit sie am Laufen bleibt. Und wir ebenfalls. Immer auf der Suche nach
Neuem, mit dem sich vor allem erst mal Geld machen lässt. Seit Monaten werde ich in Berlin, Deutschlands angeblicher
Start Up- City, mittlerweile zu diversen Labformaten eingeladen. BWL-Studenten sammeln sich hier auf der Suche nach den
Handwerkern der Zukunft: Finanzjongleuren auf der einen Seite und Programmiergöttern auf der anderen Seite. Um sich
einzuklinken in das Team der Superheros und das 1-Millarde-EUR-Ding hochzuziehen (Vgl. Social Network. Die Marc
Zuckerberg-Story).
Ich bin auf der Suche nach dem Grund, warum wir auf dem beruflichen Sektor nichts mehr ohne eine technische
Applikation verkaufen. Noch nicht mal mehr einen simplen Workshop. Alles, aber wirklich alles, ist technisch unterstützt
und gefeatured. Wir Menschen lieben Technik. Sie ist Werk-, Spielzeug und grundlegende Infrastruktur unseres Alltags
geworden. Durch unsere Venen fließt rotes Blut. Zwischen uns und unserer Umwelt fließt mittlerweile vor allem der Euro.
Und eben Bits und Bytes.
Ich suche die Menschen, die diese neue Infrastruktur unserer gesamten gesellschaftlichen Subsysteme, inklusive der Finanzund Wirtschaftswelt insbesondere, bauen. Nicht anwenden, so wie blutige Laien wie ich. Oder unsichtbar umhergelenkt
werden wie zum Beispiel meine Mutter, die jedes Mobiltelefon und jeden Computer im Haus ablehnt, aber natürlich schon
durch das Annmachen der Kaffeemaschine am frühen morgen Nutzniesser der Computergesteuerten und optimierten Welt
ist: vom Strom über die Maschine über die Kaffebohnen, das Wasser. Seit Jahren arbeiten wir mit Technikern zusammen,
die Content Management Systeme zusammenbauen. Aus Geek-Sicht "Malen nach Zahlen". Aber sie können wenigstens
malen. Ich nicht. Was in der Vergangenheit zu einigen bizarren Situationen geführt hat. Während eines letzten Projektes hat
in der Nacht vor der Projektzwischenpräsentation ein Programmierer alles stehen und liegen lassen und ist auf Weltreise
gegangen. Ihn hat das Projekt genervt. Als ich ihn fragte, wie es nun weitergehen gehen solle, antwortete er nur simple via
Skype: "Wie soll ich dir das erklären ..." Und war weg.
Hier in den Labs finde ich einige dieser wirklichen Geeks. Codemagier, für die selbst Frameworks keine wirklichen Grenzen
darstellen. Ein Spaßprojekt war eine Gesundheits-App, die anhand des Bewegungs- und Social-Media-Nutzer-Profils seines
Smartphonebesitzers eine Depressionswarnung ausgibt (Übersicht der Selbstvermesser-Apps). Das Smartphone als ständiger
Begleiter und Freund. Anfangs konnte ich darüber nur lachen. Was für eine Spielerei. Doch als nach der Automobilmesse in
diesem Jahr klar war, dass die Versicherungsbranche zukünftig ihre Autoversicherungen gestaffelt in Risikoklassen anbieten
will und dazu mittels Smartphone und App das Fahrverhalten ihres Versicherungsnehmers erfassen lässt, war klar: Hier
beginnt der Hexentanz der Geeks zur Logik der Algorithmus-Effiziens. Machbar ist alles: Wir produzieren Unmengen an
Daten, die, die NSA lässt grüßen, nie wieder gelöscht werden und sowohl in staatlichen als auch privaten Händen nur auf
ihre Zusammenführung und Auswertung warten. Angeblich um das Leben von uns Menschen und unserer Systeme sicherer
und stabiler und effizienter und besser zu machen. Und natürlich um eine Menge Geld damit zu verdienen.
Als die irischen Banken zusammenbrachen, lachten die Banker. Und sie lachen heute wieder. Als Snowden aus dem
Nähkästchen plauderte, lachten die Geeks hinter ihren Monitoren, hackten Bankverbindungen, spionierten auch ihr Umfeld
aus - einfach, weil sie es konnten und niemand sie wirklich zur Rechenschaft zog. In Zukunft werden sie häufiger zusammen
lachen. Denn ihre Welten bestimmen den Takt unserer Welt. Und damit auch den des Planeten. Eine grandiose
Parameterverschiebung hat eingesetzt. In unserem Kopf. Wir befreien uns so gut es geht von der Unberechenbarkeit des
Ursprungs und machen uns die Berechenbarkeit unserer Welt zu Nutze, um eine andere Welt aufzubauen. Unsere Welt.
Unsere Spielregeln. Wissen die Zauberer der Moderne, welche große Verantwortung ihnen mit der großen Gestaltungsmacht
zugekommen ist? Sitzen an den Monitoren auch "große Menschen"?
In Zeiten, in denen allein der Gedanke an einen Veggieday allerorten das Gezeter vom Tugendfuror auslöst, hat es eine
Debatte um die inhaltliche Ausrichtung unseres Lebens und eines verantwortlichen Umgangs mit den Grundkonstanten
unserer Welt schwer. Sie kommt sofort auf die moralinsaure Bahn und wird im angeblich so ideologiefreiem Zeitalter des
Pragmatismus zum Abschuss freigegeben.
Ich hingegen glaube, dass mit ihr die Debatte um den Neuaufbau einer wie auch immer gearteten Welt erst beginnen kann.
Ansonsten werden wir von den stürmischen Auswirkungen unseres "Spiels" hinweggefegt. Weil niemand mehr einschätzen
kann, was er da tut. Aus welchem Grund. Zu welchem Zweck. Und mit welcher Intention. Das hatten wir schon mal bei der
Diskussion um die Rolle der Wissenschaftler beim Atombombenbau. Und nun ist sie wieder da. Auf dem Finanz- und
Techniksektor. Nichts gelernt, würde ich da sagen.
Wenn wir schon die angeblichen HerscherInnen dieser neuen Welt sein wollen, lasst uns wenigstens gute Herrscher sein.
Und gute Zauberer. Auch wenn wir eigentlich diese Gutmenschen hassen.
Ein gutes Leben: das wollen wir doch schließlich alle.
Oder nicht?
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PDF erstellt am 10.12.2014 um 22:48 Uhr