Was ist lebendig? - Friedrich Verlag

Was ist lebendig?
UNTERRICHTSMODELL FÜR DIE PRIMARSTUFE (3./4. SCHÜLERJAHRGANG) VON GESINE HELLBERG-RODE
Didaktische Überlegungen
Lebendigkeit ist ein grundlegendes Merkmal, in dem sich Objekte unterscheiden.
Diese Unterscheidung ist nicht nur für die
Biologie oder Philosophie von zentraler
Bedeutung, sondern auch für das Kind in
seinem Bemühen, seine Umwelt zu verstehen. Jugendliche und Erwachsene verbinden «Leben» mit einer Reihe von biologisch-funktionalen Attributen wie z. B.
Bewegung, Atmung, Entwicklung, Fortpflanzung oder Stoffwechsel (vgl. Schaefer/Wille 1995). Das, was Kinder als «lebendig» bezeichnen, unterliegt aber im
Laufe ihrer geistigen Entwicklung einem
starken Wandel. Bis zur Pubertät ist ihr
«Lebens»-Konzept stark animistisch geprägt: «Wenn das Kind (noch) nicht zwischen der psychischen und physischen
Welt unterscheidet, wenn es am Anfang
seiner Entwicklung keine exakten Grenzen
zwischen seinem Ich und der Außenwelt
sieht, so muß man darauf gefaßt sein, daß
es zahlreiche Körper, die für uns Erwachsene leblos sind, als lebendig und mit Bewußtsein ausgestattet betrachtet» (Piaget
1988, S. 157).
In der Entwicklung des Lebens-Konzeptes
beim Kind unterscheidet Piaget vier Stadien (vgl. Kasten). Trotz Animismus-Kontroverse bestätigen zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte Piagets
Grundaussagen, daß sich der Lebensbegriff im Laufe der Kindheit unter dem Einfluß animistischer Tendenzen stark verändert und Leben primär mit dem Kriterium
Bewegung korreliert wird (vgl. u. a. Huang/
Lee 1945, Klingensmith 1953, Klingberg
1957, Laurendeau/Pinard 1962, Dolgin/
Behrend 1984, Richards/Siegler 1984,
1986, Carey 1985). Auch Erwachsene
wählen zur Charakterisierung von Leben
häufig primär das Kriterium Bewegung.
Die Assoziation von Leben mit Bewegung
scheint also im Laufe der geistigen Entwicklung nicht zu verschwinden, sondern
Merkmale lebendiger Objekte
wird lediglich überlagert und ergänzt (vgl.
Richards/ Siegler 1986).
Interessant im Verlauf der Entwicklung des
Lebens-Konzeptes bei Kindern ist die variierende Bewertung von Pflanzen als lebendig oder leblos. Werden sie von jüngeren Kindern noch als lebendig eingestuft,
so sprechen ihnen 6- bis 9-jährige wegen
der fehlenden Bewegung jegliche Lebendigkeit ab (vgl. Piaget 1988, S. 179 ff). Erst
mit fortschreitender Differenzierung des
Bewegungsbegriffs werden Pflanzen
dann (wieder) als lebendig bezeichnet.
Dabei wird das Wachstum der Pflanzen
als besondere Form der Eigenbewegung
und nicht als Entwicklungsprozeß interpretiert (vgl. Piaget 1988, S. 206). Bis in
die Grundschulzeit hinein werden Pflanzen primär als dinghafte Wesen ohne
eigene Identität aufgefaßt und nicht zusammen mit Tieren als Lebewesen kategorisiert (Carey 1985, Gebhard 1994).
Erst mit etwa 10 Jahren stufen Kinder
Pflanzen durchgängig als Lebewesen ein.
Ein Viertklässler äußerte sich wie folgt zum
Begriff «Leben»: «Lebewesen, die bewegen sich. Wenn man jetzt z. B. durch den
Wald geht, und da liegt ein Blatt, das bewegt sich nicht. Dann merkt man eben,
daß es kein Lebewesen ist» (Hofmeister u.
a. 1982, S. 16). Als weiteres Merkmal von
Leben nannten die Kinder das Bedürfnis
nach Nahrung. Auch «Wachstum» repräsentiert ein Kriterium für Lebendigkeit, insbesondere in bezug auf Pflanzen. Darüber
hinaus wird der Besitz bestimmter Körpermerkmale wie z. B Fell, Federn oder Haut
mit lebendig verbunden. Vereinzelt wurden auch Lautäußerungen der Tiere bzw.
die Sprache des Menschen als typisches
Merkmal von Lebewesen genannt: «...daß
wir reden und uns bewegen» (Klasse 3;
Hofmeister u. a. 1982, S. 16). Leblosigkeit
dagegen wird von den Kindern primär mit
dem Merkmal «Herstellbarkeit» assoziiert.
Auch in der Studie von Hofmeister u.a.
(1982) wurde Bewegung als zentrales Kri-
lebendig
• Sie können sich (selbst) bewegen . Mücken
• Sie entstehen aus Lebewesen.
Ameisen
Fliegen
• Sie brauchen Wasser zum Leben.
Schnecken
• Sie wachsen und werden größer.
Marienkäfer
• Sie brauchen Luft und atmen.
Wasserflöhe
• Sie machen etwas
Wasserlinsen
(Reizbeantwortung).
Clematis
• Sie brauchen Nahrung.
Ahorn
14
PRIMARSTUFE
terium für Leben identifiziert, ebenso – in
höheren Klassen – das Wachstum der
Pflanzen als besondere Form der Eigenbewegung.
Ob Kinder Pflanzen als lebendig anerkennen und sie zusammen mit Tieren als Lebewesen identifizieren, ist nicht nur eine
Frage des Lebensalters, sondern auch der
jeweiligen kognitiven Entwicklung, die
durch Erziehungsprozesse beeinflußt wird.
Mit zunehmender Selbst- und Welterkenntnis und einem stärker rational-objektivierendem Denken bilden sich animistischanthropomorphe Denkweisen zurück, sind
aber auch bei Erwachsenen zumindest
noch rudimentär existent (vgl. Richards/
Siegler 1986).
Gebhard (1994 sowie 1990 in UB 153)
weist auf die emotionale Dimension anthropomorph-animistischer Denkweisen
hin und wertet eine Bekämpfung dieser
Sichtweise als «affektive Verarmung»
(Gebhard 1994, S. 52), weil sich in der animistisch-anthropomorphen Weltdeutung
eine starke affektive Beziehung zur außermenschlichen Natur offenbart. Für Mähler
(1995, S. 209 f.) stellt der kindliche Animismus sogar eine besondere «kognitive
Kompetenz» und «kreative Leistung» dar.
Der auch von Grundschuldidaktikern für
den Sachunterricht geforderte Abbau der
affektiven Identifikation der Kinder mit den
Dingen zugunsten einer sachbezogenen
Weltdeutung ist insofern problematisch,
als Affektivität und Kognition sich wechselseitig bedingen und sich anthropomorphe Weltdeutung und objektivierte Erkenntnis nicht ausschließen müssen,
sondern auch ergänzen können. Das gilt
insbesondere für einen ganzheitlichen
Sachunterricht in der Grundschule, der
unter dem Primat «mit Kopf, Herz und
Hand» die Kinder befähigen soll, sich mit
den natürlichen, technischen und sozialen
Phänomenen ihrer konkreten Lebenswirklichkeit erfahrungs- und handlungsorientiert auseinanderzusetzen.
«unsicher» nicht lebendig Merkmale nicht-lebendiger Objekte
Wolken
Regen
Wind
Federn
Haare
Blätter
Steine
Holzstücke
Sand
Reißzwecken
Nägel
Papier
Knochen
• Sie können sich nicht (selbst) bewegen.
• Sie sind hergestellt oder von anderen Lebewesen
erzeugt.
• Sie brauchen nicht unbedingt Wasser.
• Sie wachsen nicht.
• Sie atmen nicht.
• Sie machen nichts (keine Reaktion).
• Sie brauchen keine Nahrung.
Tafelbild
UB 211/20. Jahrg./Januar 1996
Bemerkungen
zum Unterricht
Das Unterrichtsmodell wurde im Rahmen
eines fächerübergreifenden Schulpraktikums mit Studierenden in einer 4. Grundschulklasse in Münster erprobt. Ein wesentliches Motiv für seine Entwicklung war
meine Beobachtung, daß auch noch viele
Dritt- und Viertklässler bei der Beschäftigung mit Tieren und Pflanzen stark anthropomorph-animistische Haltungen zeigen
und sich nicht immer sicher sind, ob ein
Körper nun lebendig ist oder nicht. Daß
fast alle Grundschulkinder noch keine
festen Vorstellungen von den spezifischen
Qualitäten eines Lebewesens haben,
scheint mir ein gewichtiges Argument
gegen einen isolierten Tier- oder Pflanzenkundeunterricht zu sein, der in der Grundschule leider noch häufig praktiziert wird
und sich oft auf die Vermittlung von Artenkenntnis reduziert. Das Phänomen «Leben» als solches wird kaum thematisiert.
Etwa 4 Monate vor dem Unterricht wurden
die Kinder der «Erprobungsklasse» (n=22;
Durchschnittsalter 10,6 Jahre) mittels freiem Assoziationstest (30 sec.; zur Methode
vgl. u. a. Schaefer 1992) befragt, was
ihnen spontan zum Begriff «Leben» einfällt. Überwiegend wurden dabei Begriffe
aus der Kategorie «Lebewesen» genannt,
am häufigsten «Tier(e)» (n=14) und «Mensch(en)» (n=12), seltener «Pflanze(n)/
Blume(n)» (n=5) bzw. «Bäume» (n=4). Sogenannte «Kennzeichen des Lebendigen»
spielten in den Schülerantworten bis auf
«Sterben/Tod» (n=3) und «Geburt» (n=2)
keine Rolle. Die meisten SchülerInnen
scheinen Pflanzen (noch) nicht spontan mit
Leben zu assoziieren, da die genannten
Begriffe mit Pflanzen nichts zu tun hatten,
während Tiere und/oder Menschen von
allen Kindern angeführt wurden (vgl. dazu
Schaefer/Wille 1995).
Die Frage: «Was ist lebendig?» zielt nicht
darauf ab, animistische Denkhaltungen
und anthropomorphe Deutungen abzubauen, sondern soll in erster Linie Kinder
für das Phänomen Leben in der Einheitlichkeit der Lebensprinzipien, Vielfalt der
Formen und Mannigfaltigkeit der Lebensäußerungen sensibilisieren. Primäres Ziel
ist es, herauszufinden, was alle Lebewesen miteinander verbindet und wie unterschiedlich verschiedene Lebewesen
diese generellen Prinzipien realisieren.
Lebendig, tot, unbelebt ...
oder was?
1. Unterrichtsabschnitt
Jeweils 2 bis 4 SchülerInnen bilden eine
Arbeitsgruppe. Jede Kleingruppe erhält
einen Schuhkarton mit 7 kleinen Gefäßen
(z. B. Filmdosen, Joghurtbecher, Schraubgläschen), Papier und Bleistift sowie den
Auftrag, auf dem Schulgelände drei verschiedene Objekte zu suchen, von denen
sie meinen, daß sie lebendig sind, drei
UB 211/20. Jahrg./Januar 1996
verschiedene nicht-lebendige Objekte
und ein Objekt, bei dem sie unsicher sind.
Objekte, die wegen Beschädigungs- und
Verletzungsgefahr oder aus anderen
Gründen nicht transportiert werden können, sollen beschrieben und gezeichnet
werden. Entsprechend haben einige
Gruppen Pflanzen als Beispiele für lebendige Objekte nur gezeichnet oder beschrieben, um sie nicht ab- oder ausreißen zu müssen.
Im Klassenraum werden die Fundstücke
der einzelnen Gruppen an der Tafel gesammelt und den Kategorien «lebendig»
– «nicht lebendig» – «unsicher» zugeordnet. Durch direkte Beobachtung, Vergleich der realen Objekte untereinander
und Rückgriff auf bereits vorhandene Erfahrungen sollen die Kinder im Klassengespräch Eigenschaften erarbeiten, in
denen sich lebendige Objekte von nicht
lebendigen Dingen unterscheiden. Wesentliche Kriterien werden an der Tafel gesammelt (vgl. Tafelbild).
Bei der Erprobung entbrennt hier eine heftige
Diskussion: «Das Papierstück bewegt sich
auch!» – «Aber nur, wenn Du es anpustet oder
irgendetwas damit machst oder so, das kann
sich nicht von alleine bewegen.» – «Papier lebt
nicht, das wird aus Holz gemacht. Ameisen und
andere Tiere, auch Pflanzen, die können sich
eigentlich selbst machen, also die haben Eltern, die sie machen.» ... «Außerdem können
Lebewesen wachsen, der kleine Marienkäfer
hier z. B., der wächst noch, der ist jetzt noch
ziemlich klein.» – «Aber der Knochen da, der
kann doch auch wachsen!» – «Ja, aber der hier
nicht mehr, weil, der braucht doch einen Körper
oder so, der ihn versorgt.» ... «Die Tiere und
Pflanzen, die brauchen auch alle Wasser, sonst
verdursten sie und gehen tot.» – «Die Wasserschnecke kann ohne Wasser überhaupt nicht
leben, die muß sogar immer im Wasser leben.
Aber die nicht lebendigen Sachen, die brauchen kein Wasser.» – «Doch! Das Papier
schon.» – «Ja, aber nur, wenn es hergestellt
wird. Wenn es erst ‘mal Papier ist, dann braucht
es kein Wasser mehr.» ... Aus Sicht der Kinder
unterscheiden sich Lebewesen von anderen
Objekten in erster Linie dadurch, daß sie sich
bewegen können, daß sie wachsen und sich
vermehren können und daß sie zum Leben
Wasser brauchen.
Anschließend wenden sich die Kinder den «unsicheren» Objekten zu: «Wenn Knochen nicht
lebendig sind, dann sind aber auch die Federn,
die Haare und auch die Blätter nicht lebendig!»
– «Aber wieso, Tiere sind lebendig und haben
doch Haare oder Federn.» – «Ja, aber Haare
und Federn wachsen nur, wenn sie am Körper
sind. Wenn sie abfallen, dann nicht mehr.» –
«Ein Skelett ist auch nicht mehr lebendig. Es ist
von einem Lebewesen, das tot ist.» ... Die anderen (anorganischen) «unsicheren» Objekte
wie Wolken, Wind und Regen bereiten einigen
Kindern weiterhin Probleme, obwohl sie von der
Mehrzahl der Kinder nach der Diskussion jetzt
eindeutig als «nicht lebendig» eingestuft werden. – «Wolken und Wind bewegen sich aber!»
... «Und Regen wird nicht hergestellt und ist
kein Lebewesen, was ist er dann?» – Einige MitschülerInnen bemühen sich um zum Teil physikalisch recht gewagte Erklärungen, können
aber letzte Unsicherheiten nicht restlos ausräumen.
Entwicklung des Begriffes
«Leben» bei Kindern
Jean Piaget (1988, S. 178 ff) beschrieb für
die assoziative Entwicklung des Begriffes
«Leben» bei Kindern vier Stadien:
1. Stadium: Leben ist mit Aktivität im
allgemeinen verbunden.
In diesem Stadium, das nach Piagets Beobachtungen im Alter von 5 bis 7 Jahren
auftritt, wird Leben durch eine Aktivität definiert, die für den Menschen nützlich ist.
«Ist die Sonne lebendig? – Ja. – Warum? –
Sie gibt hell – (...) – ist ein Fahrrad lebendig? – Nein. Wenn es nicht fährt, ist es nicht
lebendig. Wenn es fährt, ist es lebendig. –
Ist ein Berg lebendig? – Nein. – Warum
nicht? – Weil er nichts tut (!) – Ist ein Baum
lebendig? – Nein, wenn er Früchte hat, lebt
er. Wenn er keine hat, lebt er nicht. – Ist die
Uhr lebendig? – Ja. – Warum? – Weil sie
geht» (Piaget 1988, S. 179).
2. Stadium: Leben wird mit Bewegung
verbunden.
Bei dieser Phase handelt es sich um ein
Übergangsstadium, das etwa im Alter von
6 bis 8 Jahren auftritt. Am Ende dieses Stadiums wird zwischen passiver Bewegung
und Eigenbewegung differenziert.
«Weißt du, was ein Lebewesen ist? – Das
ist, wenn man sich bewegen kann (...) – Ist
eine Katze lebendig? – Ja. – Eine
Schnecke? – Ja. – Ein Tisch? – Nein. –
Warum nicht? – Er bewegt sich nicht. – Ist
ein Fahrrad lebendig? – Ja. – Warum? – Es
rollt (...).» –«Ist das Wasser lebendig? – Ja.
– Warum? – Es bewegt sich (...).» (Piaget
1988, S. 183/183).
3. Stadium: Leben wird mit Eigenbewegung verbunden.
Für dieses Stadium gibt Piaget ein Alter von
8 1/2 bis 11 1/2 Jahren an. Die «Assimilation des Lebens an die Eigenbewegung»
wertet er als «wichtigste und an Anwendungen reichste Periode des Kindlichen
Animismus» (Piaget 1988, S. 184).
«Ist eine Fliege lebendig? – Ja – Warum? –
Wenn sie nicht lebendig wäre, könnte sie
nicht fliegen – (…) – Ist der Wind lebendig?
– Ja – Warum? – Er ist lebendig, denn es ist
der Wind, der die Wolken vorwärtstreibt. –
Ist ein Regenwurm lebendig? – Ja, er kann
gehen. – Ist eine Wolke lebendig? – Nein,
der Wind stößt sie. – Ist ein Fahrrad lebendig? – Ja, es bewegt sich selbst.» (Piaget
1988, S. 184).
4. Stadium: Leben wird Tieren und
Pflanzen vorbehalten.
Dieses Stadium wird nach Piaget (1988, S.
185) erst im Alter von 11–12 Jahren von
etwa Dreivierteln der befragen Kinder erreicht. Bis dahin werden Gestirne und wind
z.B. noch als lebendig und mit Bewußtsein
ausgestattet interpretiert.
Im Laufe der kindlichen Entwicklung wird
der Lebensbegriff, „der aus der Vorstellung
hervorgegangen ist, daß die Dinge einen
Zweck haben und daß dieser Zweck, damit
er erreicht werden kann, eine freie Aktivität
voraussetzt, ...Schritt für Schritt zu einer
Kraft oder zur Ursache der Eigenbewegung reduziert“ (Piaget 1988, S. 187).
PRIMARSTUFE
15