1. A P R I L 2 0 1 5 Vom Wert des Lebens D I E Z E I T No 1 4 WISSEN 31 Auf der Kippe Nicht zu fassen »Leben muss scheitern können, sonst ist es kein Leben«, sagt der Biologe und Philosoph Andreas Weber Wenn einem mal wieder alles versteinert und grau vorkommt, sucht man nach Lebendigkeit. Aber sobald man sie festzuhalten versucht, zerrinnt sie sofort VON ELISABETH VON THADDEN DIE ZEIT: Viele Biologen meiden den kein Interesse an seinem Überleben, wäre ihm Begriff der Lebendigkeit, Sie halten ihn das egal. für zentral. Was ist das für Sie: lebendig? ZEIT: Interesse, Bedeutung, Identität – sind das Andreas Weber: So schwer sich die Wissenschaft nicht einfach nur andere, poetischere Begriffe für mit der Definition tun mag, so sehr haben altbekannte biologische Prozesse? wir doch alle ein intuitives Grundgefühl, was Weber: Nein, denn erst diese Betrachtung schafft es heißt, lebendig zu sein. Das können wir in eine Verbindung zwischen dem Forscher und der Regel nämlich ziemlich schnell erkennen: seinem Gegenstand. Wir verstehen die Verletz Wir gehen hin und fassen es an. Und wenn es lichkeit eines anderen Lebewesens, weil wir selbst dann wegspringt oder uns angreift, dann ist es in einem verletzlichen Körper stecken und diese lebendig. Sorge um die eigene Identität kennen. Für mich ZEIT: Wie ist das bei Pflanzen? Oder bei Mikro ist das ein wichtiges Instrument der Erkenntnis – das aber heute überhaupt nicht genutzt wird. organismen? Die rennen ja nicht weg. Weber: Doch, auch sie reagieren, wenn auch in Die Biologie steht damit am selben Punkt, an anderen Zeiträumen. Wenn ich an einer Pflanze dem die Physik Anfang des 20. Jahrhunderts ein Blatt abreiße, wächst vielleicht ein neues stand: Es geht darum, festzustellen, dass es zwi nach. Selbst bei Bakterien sehen wir, dass sie vor schen dem Beobachter und dem, was er beobach unangenehmen Reizen fliehen. Allgemein ge tet, eine Verbindung gibt, die das Beobachtete sprochen: Das Lebendige ist das, was ein Interes zugleich verändert. se an sich selbst hat, das um sich besorgt ist und ZEIT: Ist das lediglich ein Wechsel der philoso dementsprechend reagiert. Und das berührt uns: phischen Perspektive, oder hat das auch prak Weil wir nämlich selber lebendig sind und diese tische Auswirkungen? Sorge um die eigene Verletzlichkeit teilen. Weber: Im Rahmen des derzeitigen biowissen ZEIT: Aber ein moderner Biologe fühlt sich von schaftlichen Paradigmas erklären wir das Leben, indem wir es auf kausal-mechanische Prinzipien seinen Experimenten wohl kaum noch berührt. Weber: Das ist ja das Problem. Für mich leidet zurückführen. Man könnte sagen: Um das Leben die Biologie darunter, dass sie das zentrale Faszi dige zu verstehen, übersetzen wir es in tote Mecha nosum des Lebens ausgeklammert hat. Sie nennt nismen. Und auf der anderen Seite stellen wir fest: sich zwar »Lebenswissenschaft«, aber ausgerech Unsere Zivilisation produziert Tod. Tierarten sterben aus, die natürliche Vielfalt net mit dem Begriff des Lebendig stirbt, die Natur wird weggefressen ... seins kann sie nichts anfangen. Je Weil wir das Leben nicht richtig ver denfalls nicht im Labor. Vom Leben stehen, verstehen wir auch nicht, was berühren lässt man sich hauptsäch uns mit anderen Lebewesen verbin lich privat und zu Hause – von den det. Und wir verstehen uns letztlich Kindern, dem Partner, dem Haus selbst nicht richtig. tier, gerne auch im Urlaub. Aber in der Wissenschaft hat das angeblich ZEIT: Das klingt jetzt aber sehr nach nichts zu suchen. Öko-Romantik. ZEIT: Damit ist die Biologie aber Von Andreas Weber Weber: Überhaupt nicht. Ein tiefe erscheint im Mai sehr erfolgreich. res Verständnis des Lebens garan tiert keine heile Welt. Es konfron Weber: Sicher, in den vergangenen das neue Buch hundert Jahren hat die Biologie gro »Enlivenment. Eine tiert uns eher mit etwas, wovor wir als Individuen immer weglaufen: ße Fortschritte gemacht. Und mit Kultur des Lebens« nämlich mit dem Sterben. ihrer kausal-mechanischen Erklärung des Lebens hat die moderne Biologie ZEIT: Dem Sterben? ja durchaus recht, die ist ja nicht falsch. Aber es Weber: Ja. Unser System hat sich doch auf die ist eben nur die halbe Wahrheit. Dabei wird et Fahnen geschrieben, den Tod zu beseitigen. Wir was Wesentliches ausgeblendet, das wir brauchen, versuchen, ihn durch medizinischen Fortschritt um zu verstehen, was Leben ist und was es heißt, zu bannen, durch Ablenkung, Arbeit, Konsum lebendig zu sein. oder Zudröhnen zu verdrängen. Und gerade ZEIT: Üblicherweise wird Leben über seine Ei diese krampfhafte Negierung des Todes beraubt genschaften – Stoffwechsel, Reproduktion, uns unserer Lebendigkeit. Denn zum Leben ge hört nun mal der Tod. Leben ist untrennbar Wachstum – definiert. Reicht das nicht? Weber: Das Entscheidende fehlt. Der Biologe damit verbunden, dass es scheitern kann, ja, und Philosoph Francisco Varela hat den Begriff dass es irgendwann scheitern muss! Sonst ist es der Autopoiesis eingeführt. Er sagte: Leben ist kein Leben. ein Prozess der Herstellung einer Identität. ZEIT: Gerade das Scheitern versuchen wir mit großem Aufwand zu vermeiden ... ZEIT: Inwiefern hat eine Zelle eine Identität? Weber: Damit ist nicht gemeint, die Zelle hätte Weber: ... und müssen die Erfahrung machen, ein Bewusstsein oder so etwas. Aber sie hat eine dass das nicht geht. Leben ist immer auf der Kip Tendenz, in der Form, in der sie existiert, wei pe, ist immer vom Zerfall bedroht, ist nie voll ter zu existieren oder diese Form noch zu ver kommen. Und gerade dieses ständige Scheiterngrößern. Können ist ein Motor von Imagination, von ZEIT: Viele Biologen würden sagen: Das ist das Kreativität, von möglicher Schöpfung. Prinzip der Selbstorganisation. ZEIT: Leben als Drahtseilakt, der immer schief Weber: Nein, das ist eben mehr. Es ist eine Form gehen kann? der Selbstorganisation, bei der etwas auftaucht, Weber: Ja, und das ist schon auf der grundlegen was bei chemischen Reaktionen nicht da ist: den biologischen Ebene so. Denn auch unser Nämlich das Interesse eines eigenen Zusammen Körper ist ja keinesfalls stabil. Wir haben zwar haltes. Eine Zelle muss sich immer wieder selbst das Gefühl einer dauerhaften Identität, dabei aufbauen, weil sie sich sonst auflöst. verwandeln wir uns auf materieller Ebene per manent. Ich nehme Kohlenstoff aus der Nah ZEIT: Warum sollte sie sich auflösen? Weber: Aus der Physik wissen wir, dass Materie rung auf und baue ihn in meine Körperzellen aufgrund des Dranges zur Entropie immer dem ein. Ich atme Kohlenstoff aus, der zuvor Teil niedrigsten Energiezustand zustrebt. Dagegen meines Körpers war. Ich setze mich immer wie muss die Zelle ständig anarbeiten. Ein lebender der neu zusammen. Was stabil bleibt, ist meine Organismus ist gewissermaßen ständig auf der Identität und das Interesse, weiter zu existieren. Kippe und darum besorgt, sich selbst aufrecht Auf materieller Ebene dagegen bin ich ständig zuerhalten. Damit entsteht ein Interesse an der im Durchfluss, ich sterbe dauernd und eigenen Identität. Und es kommt die Kategorie werde zugleich neu geboren. Das ist der Bedeutung ins Spiel: Der um sich selbst be doch irre! sorgte Organismus bewertet alles, was von außen kommt, entweder als gut oder schlecht. Hätte er Das Gespräch führte ULRICH SCHNABEL W as ist das Leben? Weder die Medizin weiß es noch die Chemie, und auch für die Biologie ist es ein Rätsel. Für Phi losophie, Kunst, Reli gion und Literatur aber ist das Leben eine immer wieder offene Frage, sie drängen danach, seinen Wert, sein Gelingen, seine Schönheit und seinen Schrecken zu ergründen. Aus der Frage entstehen existenzielle Bilder: Adam, der in der Kuppel der Sixtinischen Kapelle durch eine Berührung seines Schöpfers erwacht. Oder die Vorstellung, dass das Leben ein Kuss des Himmels sei und der Atem des Schöpfers das Ge schöpf lebendig mache. Aber was heißt lebendig? In einer Gesellschaft, die den Tod nicht akzeptieren will, wird allent halben nach dem lebendigen Leben gefahndet. Leben heißt beschwörend der jüngste preisgekrön te Roman von David Wagner, der ohne Pathos von einem Schwerkranken erzählt und von dessen Gefühl der Lebendigkeit. Liebes Leben heißt der letzte Erzählungsband der Nobelpreisträgerin Alice Munro, in dem sie die »ersten, letzten und per sönlichsten Dinge« aufspürt. Und in ihrer Kampf schrift Du sollst nicht funktionieren macht Ariane von Schirach gegen Leute mobil, die so leblos und oberflächenflach sind wie ihre Bildschirme. Lebendigkeit? Ist das etwas Spürbares, eine Art Kraft, Trieb oder Drang? Fühlt es sich gut an? Ge hören Ekel und Verfall dazu? Trauer, Verzweiflung, Angst und Wut? Hassen auch? Heißt es vielleicht: nicht wissen, was morgen passiert? Oder kann man Lebendigkeit sehen? Atmen, rosige Haut, Herzschläge, Nervenströme. Ethik kommissionen sammeln solche Merkmale, um Argumente für oder gegen die Entnahme von Or ganen nach dem Hirntod zu finden. Doch Ein deutigkeit ist nicht zu haben, es bleibt eine Abwä gung in ausgeklügelten Verfahren. Vielleicht bedeutet Lebendigkeit berührt wer den. Aber wie? Viele unmittelbare Begegnungen mit körperlicher Lebendigkeit sind bei uns nicht mehr unmittelbar, sondern unter Kontrolle: Berüh rung gibt es als risikolose Massage für Geld, körper liche Pflege als Versicherungsleistung, in der Ro mantrilogie Shades of Grey ist das sexuelle Leben bürokratisch geregelt, in Hüpfkursen können sich Kinder nachmittags von 15 bis 17 Uhr planmäßig austoben, gegen Grippe lässt man sich impfen. Das Leben funktioniert leidlich als abgespulter Tag, gefaketes Event, eingehegte Angst, umzäunter Schmerz, gezähmter Exzess. Lebendigkeit, ahnt man, wird etwas anderes sein. Ein Schritt zurück: »Das lebendige Leben muss etwas unglaublich Einfaches sein, das Alltäglichste und Unverborgenste, etwas Tagtägliches und All stündliches«, schreibt Fjodor Dostojewski 1876 in seiner Erzählung Der Jüngling, »etwas dermaßen Gewöhnliches, dass wir einfach nicht glauben können, dieses Einfache könnte es sein, und deshalb gehen wir schon so viele Jahrtausende an ihm vo rüber, ohne es zu bemerken und zu erkennen.« Lebendigkeit also ist einfach. Etwa zur selben Zeit aber verzweifelt in der Er zählung Der Tod des Iwan Iljitsch von Leo Tolstoi der im Sterben liegende Titelheld. Iljitsch, ein knapp 50-jähriger Justizjurist, fragt sich, ob er denn überhaupt je gewagt habe zu leben? Richtig zu le ben? »Was willst du denn jetzt? Leben? Wie leben?« Am Ende stirbt Iljitsch mit der Einsicht, nie gelebt zu haben. Sein Leben war – falls es je begonnen hat – lange vor dem Tod zu Ende. Ihm fehlte es, um sich lebendig zu fühlen, am Mut zur Entscheidung! Manch einer weiß nicht, ob er lebt oder tot ist. Diese existenzielle Ungewissheit wird schon in den biblischen Schriften verhandelt. Da kann die Unter welt mitten ins Leben dringen und einer tot sein, der noch atmet. Und umgekehrt, einer der tot ist, bleibt doch lebendig, das ist Ostern. In der aufgeklärten Moderne dann beschäftigt die Frage »Bin ich eigentlich noch am Leben?« die Menschen immer mehr. »Das Leben ist die Arbeit nicht wert, die man sich macht, es zu erhalten«, klagt müde der Revolutionär Danton in Büchners Drama Dantons Tod von 1835. Da klingt an, dass Lebendigkeit sich nicht erarbeiten lässt, und Dan ton wirkt vom ersten Akt an wie ein Toter angesichts der sinnlosen Monotonie der Geschichte. »Wann endet ein Leben, wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es noch schlägt?«, fragt im allerersten Satz Bodo Kirchhoffs aktueller Roman Verlangen und Melancholie. Wenn man Menschen heute fragt, wann sie sich besonders lebendig fühlen, sagen viele: Lebendig fühle ich mich bei der Arbeit. Wo man sich ausdrü cken und verwirklichen kann, wo sich die Schlag zahl erhöht, das Tempo verdichtet, der Puls schnel ler geht. Bis er jagt. Bis man sich plötzlich durch Routinen, durch Erschöpfung leer fühlt und er starrt. Bis man ein stimmungsaufhellendes Pillchen nimmt, für die Arbeit, zum Durchhalten, um sich zu spüren, lebendig zu sein. Das tun immer mehr, geschätzte drei Millionen allein in Deutschland. »Was willst du denn jetzt? Leben? Wie leben?«, fragt sich Iwan Iljitsch erst auf dem Sterbebett. Doch so lange muss man nicht warten. Lebendig ist, wer Hoffnung hat. Lebendig ist, wer in Beziehung zu anderen steht. So lauten in der Gegenwart philosophische Antworten. Aber kann es sein, dass die moderne Gesellschaft immer wieder vergisst, was Lebendigkeit ist, und deshalb immer neu fragen muss? Die Unsicherheit verstärkt sich in Krisenepo chen. Der Kulturphilosoph Georg Simmel schrieb vor hundert Jahren: »Während alles Unlebendige schlechthin nur den Augenblick der Gegenwart besitzt, streckt sich das Lebendige in einer unver gleichlichen Art über Vergangenheit und Zukunft.« Damit ist als Zeitdiagnose gemeint: Lebendigkeit will sich in Neuem ausdrücken, will unbedingt Zu kunft werden. Doch paradoxerweise stellt die Le bendigkeit moderner Individuen genau dabei tote Objekte her: Weil sie sich immerfort anders aus drücken will, schafft sie neue Gegenstände, Orte, Institutionen, und eines Tages gucken all diese Dinge fremd und leblos zurück, als »entseelte Ob jektivität«. Gerade noch war das rote Wollkleid der Ausdruck des lebendigen Ichs, schon muss es in den Altkleidersack, weil es sich abgelebt anfühlt. Eben war der Schreibtisch, Pinie lasiert, noch angesagt, jetzt soll er raus, er wirkt irgendwie tot. Und die Schallplatten, die einst so kostbar waren, bedeuten jetzt nichts mehr. M an könnte sagen: Die schöpfe rische Lebendigkeit moderner Gesellschaften baut sich selbst mit Requisiten zu, bis sie sich aus dem ganzen Krimskrams, den Sachzwängen, Dingen, Routinen ihrer Kul tur halb erstickt wieder ausgraben muss. Die Fenster öffnen, den Kragen lockern und alles in frage stellen. Was einmal lebendig war, ob ein Gebäude, ein Design, eine Ehe, eine Idee, eine Zeitung, ein Beruf, zeigt sich plötzlich als Zwangs vollzug von Erstarrtem. Dann stellt sich die Frage wieder: Was heißt hier lebendig? So führt die Suche nach der Lebendigkeit, wie Georg Simmel es in Zur Philosophie der Kultur na helegt, tief hinein in ihre Geschichte. In eine Zeit, als es das Wort noch nicht gab, nur die nahe Ver wandte, das Leben. »Leben, ist dreyerley«, wusste Zedlers Universallexikon im Jahr 1737: »Das erste ist das natürliche Leben (...), das andere ist das geist liche Leben, wenn wir im Glauben in Christo, in Gott und dem heiligen Geist leben (…). Das dritte ist das ewige Leben, die Empfindung der göttlichen ewigen Freude (…).« Ein »Organismus« sei wenig oder gar nicht von dem »Mechanismo« unterschieden: Damit ist eine gute und stetige Ord nung verschiedener Teile gemeint, die sich zu ei nem Ganzen zusammenfügen. Lebendigsein be deutete damals also, sich demütig in Gottes Ord nung zu bewegen. Doch dann bebt kulturell die Erde: Jetzt sind die modernen Entdeckungen des Lebens nicht mehr aufzuhalten, die Gottes Ordnung durcheinander werfen: 1740 weist der Zoologe Abraham Trembley am Polypen die Selbstreproduktionsfähigkeit eines zerteilten Organismus nach, aus dessen Bestand teilen wieder komplette Exemplare wachsen. Der Naturforscher Albrecht von Haller entdeckt 1753, dass Muskelfasern reizbar sind, sie können sich bei Berührung zusammenziehen und Nerven fasern gar Impulse ans Gehirn weiterleiten und in Empfindung verwandeln. Und der Mediziner Jo hann Friedrich Blumenbach denkt über einen Bildungstrieb als Motor alles Lebendigen nach: Der sei eine Art Zeugungskraft, die ganz neue Lebe wesen entstehen lasse. S Fotos (Ausschnitte): Holde Schneider/Visum; Robert Kluba/Visum; Andrea Obzerova/Fotolia; Toufic Beyhum/Anzenberger (v. l. o.); Valentina Bosio (u.) Lebendig ist, wer in Beziehung zu anderen Menschen steht und sich berühren lässt o steht dann 1798, passend zur revolu tionären Epoche, im Adelungschen Lexikon, das Leben sei etwas völlig anderes als die unbelebten Dinge, nämlich: »zu Empfindungen und Ver änderungen fähig«. Sensibilität! Veränderung! Alles, was fühlt, kann neu werden! Nun passen die Biologie und die empfindsame Seele zusam men und bilden um 1800 ein fruchtbares Paar. Leben und Lebendigkeit sind eng verwandt: in der schöpferischen Empfindung. Doch sobald man festhalten und benennen will, was Leben ist, zerrinnt es im selben Augen blick. Diese Gewissheit wird seit der frühen Auf klärung zum Topos. »Das Leben ist eine Sache, die man nicht beschreiben, in keine Methode und Systema bringen oder Kennzeichen dafür geben kann«, schreibt 1755 der Pietist Graf Zin zendorf, der Gottes Geist überall am Werk sieht. Das pure Leben mag organisch einzigartig sein, Lebendigkeit aber ist jene Kraft, die irgendwo zwischen Geist, Seele, den Eigenschaften alles Organischen, der Fantasie und der sexuellen Lust oszilliert, und sie ist vor allem eins: nicht zu fas sen. Unverfügbar. Hier klingt der religiöse Ton an, wie er zuerst im Prolog des Johannes-Evangeliums zu hören ist. Leben, Atem, Licht, Geist, Vernunft und Seele, so lauteten in der abendländischen Tradition die Grundbegriffe dessen, was ohne Gott – und sei er noch so verweltlicht – nicht sein kann: Lebendig keit. Auch dieser Ton wird von 1750 an durch die Biologie grundlegend modernisiert: Lebendigkeit wird zu einer atemberaubenden Mischung – atmen der Geist, schöpferische Empfindung, erregbarer Körper, Zeugung, Zittern der Nerven, Zellteilung, alles in eins. Etwas unsagbar Kostbares. Doch zu diesem Gedanken gesellt sich das mo derne Missverständnis des »Lebens um jeden Preis«: In Zeiten politischer Erstarrung und Ohnmacht fühlt sich nur vital, wer grausam ist zu sich und anderen! Rücksichtslos, durch Schmerzen, mit Ge walt. Der fatale Kriegskitzel, gegen die moderne Entfremdung, lässt vermeintlich erst in Todesnähe das Leben spürbar sein. Aus diesem Material woben die Nationalsozialisten ihre Ideologie, und bis heute weben sie mörderische Systeme wie der »Isla mische Staat«. Ostern allerdings fasst die Todesnähe des Lebens ganz und gar anders auf. Ostern feiert die Über windung des Todes durch das Leben. Die abend ländische Bildtradition hat den Löwen – den Herr scher über Leben und Tod – als Symbol erkoren: Seit dem zweiten Jahrhundert kennt die frühchrist liche Naturlehre das Bild des Löwen als Oster- Allegorie. Im Freiburger Münster etwa ist das Motiv zu sehen: Ein erwachsener Löwe atmet seine Neugeborenen an, bis sie belebt sind. Drei Tage dauert es, so glaubte man, bis der eingehauchte Geist die Körper beseelt. Im Wiener Physiologus aus dem 12. Jahrhundert klingt das so: »Am dritten Tag aber kommt der Löwenvater und brüllt oder bläst sie an, und davon erwachen sie zum Leben. So er weckt der allmächtige Gott seinen Sohn am dritten Tag wieder aus dem Tod.« Drei Tage, von der Nacht des Karfreitags bis zum Osterlicht.
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