WAS WIRTSCHAFT TREIBT _INTERVIEW JOSEPH - Brand Eins

WAS WIRTSCHAFT TREIBT _INTERVIEW JOSEPH STIGLITZ
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BRANDEINS 02/03
WAS WIRTSCHAFT TREIBT
Idioten haben’s leicht
Text: Finn Canonica und Peer Teuwsen Foto: Daniel Sutter
Er ist Nobelpreisträger für Wirtschaft. Er war Berater von Bill Clinton und Chefökonom der Weltbank.
Er muss es wissen: Ist die Globalisierung Fluch oder Segen? Ein Gespräch mit Joseph Stiglitz.
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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _INTERVIEW JOSEPH STIGLITZ
- - - - - Joseph Stiglitz wird kaum in den Verdacht
geraten, ein Globalisierungskritiker ohne ökonomischen Sachverstand zu sein: Er ist Träger des
Wirtschaftsnobelpreises 2001 und war Chefökonom der Weltbank. Außerdem hat er US-Präsident
Bill Clinton in wirtschaftlichen Fragen beraten.
Dennoch hat Stiglitz sein wichtigstes Buch „Die
Schatten der Globalisierung“ den Problemen der
Globalisierung gewidmet. Der 59-jährige Professor der Columbia-Universität in New York kritisiert vor allem die globalen Organisationen des
Kapitals wie die Welthandelsorganisation (WTO)
und den Internationalen Währungsfonds (IWF),
die oft wenig Interesse an den realen Bedürfnissen der Länder zeigten. Die Asienkrise ebenso wie
die desolate Lage in den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion, behauptet Stiglitz, seien nicht zuletzt
eine Folge der „finanzkolonialistischen“ Politik
des IWF. Er plädiert dagegen für eine „sanfte
Transformation“, wie sie in Polen oder China
stattfindet. Dennoch hat Joseph Stiglitz seinen
Glauben an die positive Kraft des Marktes und die
„wohlstandssteigernde Wirkung seiner globalen
Verbreitung“ nicht verloren.
Das Aspen-Institut in Italien hat den prominenten Gast zum Jahreskongress in die grandiose
Villa D’Este am Comer See geladen. Nach einer
wegen Sturmwinden schlaflosen Nacht sitzt ein
zerknitterter Joseph Stiglitz am Frühstückstisch
und schiebt eine Tranche Lachs nach der anderen
in den Mund. Er strahlt eine lockere Liebenswürdigkeit aus. Nur wenn es um die ideologische
Arroganz des IWF geht, wird er schneidend im
Ton, kaut dabei aber gelassen weiter. Er weiß, was
seine Rolle ist. „Übrigens“, sagt Stiglitz nach der
ersten Tasse Kaffee: „My name is Joe.“
Guten Morgen, Joe, wird die Welt besser oder
schlechter?
Eine große Frage. Ich denke, die Welt wird
in vieler Hinsicht besser. Wir sind uns heute
bewusster, was die Probleme sind – mehr als noch
vor fünf Jahren.
Trotzdem sind viele Leute vom Gegenteil überzeugt.
Wer glaubt, die Welt werde immer schlechter, der
muss sich fragen, ob er das nur denkt, weil das
die Salon-Apokalyptiker der Zeitungen immer
behaupten.
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Wie weit sind wir noch vom Paradies entfernt?
Ein paar Millionen Schritte. Doch muss man
sehen, dass zum Beispiel die Ungleichheiten
zwischen dem Süden und dem Norden schon
immer bestanden haben und sicher nicht ein
neueres Phänomen sind. Die Uruguay-Runde der
Welthandelsorganisation von 1986 brachte genau
diese Probleme zum Vorschein – und doch behaupteten die Europäer und die USA, die damals
getroffene Vereinbarung sei großartig. Erst als sich
gezeigt hatte, dass das Abkommen den Entwicklungsländern nicht den in Aussicht gestellten Zugang zu den Märkten der Industriestaaten verschafft hatte, wurde neu verhandelt. Das ist doch
immerhin ein Fortschritt.
Fällt Ihnen kein einziger Rückschritt ein?
Natürlich. Zum Beispiel das Aidsproblem im südlichen Afrika. In den vergangenen zehn Jahren
hat sich die Situation in dieser Region sehr verschlechtert. Oder nehmen wir den Terrorismus.
Damit muss man zwar schon lange leben, aber die
Angst vieler Menschen hat seit dem 11. September 2001 zugenommen.
Sie sind offenbar überzeugt davon, dass die Welt
besser wird. Verdanken wir das der Globalisierung?
Ja. Und dafür gibt es viele Beweise. Wo hat sich
beispielsweise die Welt in den vergangenen 40
Jahren am positivsten verändert? In Südostasien.
Der Aufschwung all dieser Länder war nur möglich dank der Globalisierung. Das heißt: Zugang
zum globalen Kapitalmarkt, Zugang zum globalen Warenverkehr, Zugang zur Technologie. Auch
ist eine neue, globale Zivilgesellschaft entstanden
mit einem Verantwortungsgefühl, das weit über
die eigene Lebenswelt hinausgeht. Das ist doch
ein Fortschritt.
Können Sie uns als Wirtschaftsnobelpreisträger
eine alltagstaugliche Definition des Begriffs Globalisierung liefern?
Unter Globalisierung versteht man das wirtschaftliche Zusammenrücken aller Länder als Folge der
gesunkenen Transport- wie Kommunikationskosten und des Abbaus künstlicher Handelsschranken.
Was würden Sie bei einem gemütlichen Abendessen antworten, wenn jemand Sie fragt, ob die
Globalisierung nun gut oder schlecht sei?
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Ich würde sagen: Globalisierung hat ein unglaubliches Potenzial, gut zu sein. Sie schafft für den
Einzelnen große Möglichkeiten.
Also ist sie gut.
Sicher. Doch die Art und Weise, wie sie in der
Praxis gehandhabt wird, ist meist nicht gut.
Kann man überhaupt in moralischen Kategorien
wie „gut“ oder „schlecht“ über ein so komplexes
Phänomen reden?
Ja. Jedenfalls solange wir wirtschaftlich gesehen
anderen Ländern die ganze Zeit Dinge antun, die
wir uns nie gefallen ließen. Den kategorischen
Imperativ gibt es leider noch nicht im internationalen Wirtschaftsleben. Wir verletzen die ganze
Zeit unsere eigenen moralischen Gebote.
Gibt es Alternativen zur Globalisierung?
Da könnten Sie genauso gut fragen: Wollen wir
zurück zum Zeitalter der Windmühlen? Die Globalisierung an sich ist so mächtig, so positiv, dass
wir alles daransetzen müssen, das Beste aus ihr
herauszuholen – zum Vorteil aller.
Viele Globalisierungsgegner kämpfen nicht nur
gegen die Globalisierung, sondern gegen das
kapitalistische Wirtschaftssystem an sich. Sie
schlagen den Sack und meinen den Esel.
In der Tat dient die Globalisierung für einige
Romantiker als Bühne für Kapitalismuskritik.
Aber die meisten wollen die Uhr sicher nicht
zurückdrehen, niemand will, dass der Staat wieder alles in die Hand nimmt. Dennoch kann man
nicht ernsthaft bestreiten, dass uns die Globalisierung vor viele Probleme stellt. Zum Beispiel
treffen Handelsminister ganz allein Entscheidungen, die die Umwelt oder die öffentliche
Infrastruktur beeinträchtigen. Das ist zutiefst
undemokratisch. Es gibt Präsidenten von Zentralbanken, die ganz offensichtlich eine Politik
betreiben, die nur den Finanzmärkten nützt. Das
Problem der Arbeitslosigkeit ist denen egal. Was
die vor allem interessiert, ist die Vermeidung einer
Inflation.
Globalisierungsgegner behaupten, die großen
Konzerne hätten die Welt in ihrem Würgegriff,
das Individuum sei längst machtlos geworden.
Ist es nicht gefährlich, den Leuten den Glauben
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an die eigene Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu nehmen?
Das ist allerdings gefährlich. Denn die Konzerne
sind natürlich immer noch von uns abhängig und
nicht wir von ihnen. Obwohl Großunternehmen
gewiss nicht wie demokratische Regierungen
funktionieren. Immerhin können wir mit unserer
Stimme dafür sorgen, ob jemand wiedergewählt
wird oder nicht. Es gibt also einen Mechanismus,
der sicherstellt, dass der Einzelne gehört wird.
International aber werden viele Entscheidungen
auf einer Ebene getroffen, die sich einer demokratischen Kontrolle entzieht.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Verschiedene Länder haben Verträge mit der
Welthandelsorganisation unterzeichnet, die nie in
den nationalen Parlamenten debattiert wurden.
Der Handelsminister der USA zum Beispiel vertritt eher die Interessen der Privatwirtschaft als
diejenigen der meisten Menschen. Zum Beispiel
beim Patentschutz: Viele Entwicklungsländer
können sich die dringend benötigten Medikamente unserer Pharma-Konzerne nicht leisten. Es
ist ihnen aber auch verboten, billigere Kopien, so
genannte Generika, herzustellen. Hätte man die
Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten
gefragt, ob sie das richtig finden, so hätten sie
sicher Nein gesagt. Das wurde aber nicht debattiert. Ich war damals, 1994, ökonomischer Chefberater von Präsident Bill Clinton. Ich wollte >
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Sie meinen, Kapitalisten sind moralische Schweine?
Das ist zumindest eine berechtigte Sorge. Im
Ernst, es gab eine Zeit, da wollten alle meine
Studenten an die Wallstreet, um dort das große
Geld zu machen. Ich fand das schrecklich, weil
mein Wertesystem nicht ganz dasselbe ist. Zum
Glück ist jetzt das Kartenhaus zusammengefallen,
viele meiner Studenten haben sehr viel Geld
verloren.
Haben Sie sie getröstet?
Nein, ich bin einfach froh, dass ich wenigstens
wieder normal mit ihnen reden kann.
Lesetipp:
Joseph Stiglitz: Die Schatten
der Globalisierung.
Siedler, 2002; 303 Seiten;
19,90 Euro
das mit dem Präsidenten diskutieren, meine Meinung zählte aber offenbar nicht.
Clinton hörte nicht auf Sie?
Nein. Jetzt stellen Sie sich mal vor, wenn schon
nicht auf mich gehört wird, was ist dann erst mit
dem Mann auf der Straße?
Sie fühlten sich machtlos?
Ja, obwohl ich hart gekämpft habe.
Adam Smith, der berühmte englische Ökonom
und Oberpriester aller Marktliberalen, behauptete,
die Hauptantriebskräfte jedes Menschen seien
Egoismus und Gier. Sie haben für die Regierung
Clinton und die Weltbank gearbeitet und kennen
viele Wirtschaftsführer persönlich. Hatte Smith
Recht?
So negativ hat das Smith nicht gesagt. Er meinte
sinngemäß, man solle auf das Eigeninteresse des
Menschen bauen, um Gutes für die Allgemeinheit
zu erreichen. Ganz im Gegensatz zu ihm sehe ich
aber heute überall eine Bewegung hin zum
Altruismus. Viele Leute engagieren sich zum Beispiel sehr ernsthaft für den Naturschutz, auch
wenn das natürlich – und da hat Smith sicher
Recht – am Ende ihnen selbst wieder zugute
kommt. Interessant scheint mir jedoch die
Debatte darüber, ob der überbordende Materialismus die Natur des Menschen verändert, seinen
Charakter möglicherweise zerstört hat.
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Sie hätten vielleicht schon früher auf Ihre Studenten einreden sollen, um sie zu schützen vor der
Korrumpierung durch das viele Geld.
Das habe ich ja versucht, aber wer hört schon auf
einen alten Mann? Doch zurück zum Thema:
Wenn so viele Großbanken, dutzende der größten Unternehmen der Welt und viele Buchprüfungsfirmen krumme Geschäfte machen, kann
man leicht auf den Gedanken kommen, dass
etwas an diesem System faul ist.
Oder vielleicht verlangt das kapitalistische System
zu perfekte Menschen. Kann man mittels ökonomischer Theorien überhaupt etwas über die Natur
des Menschen lernen?
Wir Ökonomen behaupten: Wenn man den
Menschen Anreize gibt, dann reagieren sie auch
darauf. Sagt man also jemandem: Wenn du unehrlich bist, zahlt sich das aus, dann ist die Chance
groß, dass dieser Jemand zum Schurken wird.
Und was ist in den vergangenen Jahren geschehen? Genau das. Man gab vielen CEOs starke
finanzielle Anreize, kurzfristig den Gewinn zu
maximieren, mit dem Ergebnis, dass viele den
Kopf verloren, Firmen ruinierten und Arbeitsplätze vernichteten.
Ein ziemlich deprimierendes Menschenbild.
Ich würde eher sagen, ein zynisches. Nehmen wir
mal eine der Prämissen der Ökonomie: Alles hat
seinen Preis. Der Satz kann an Zynismus fast nicht
übertroffen werden. Es heißt ja nichts anderes,
als dass man sich auf Werte wie Loyalität und
Solidarität nicht verlassen kann. Sobald die materiellen Anreize groß genug sind, dreht der Mensch
durch.
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Das klingt ja furchtbar.
Ich weiß. Doch warten Sie, vielleicht ist alles nur
halb so schlimm. Die beiden Kollegen, die vergangenes Jahr den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten haben, Daniel Kahneman und Vernon L.
Smith, haben zum Glück herausgefunden, dass
viele ökonomische Theorien realitätsfremd sind.
ten, der sich mit der Frage beschäftigt, wie viel
Information man braucht, um zu einer Entscheidung zu kommen.
Warum?
Weil die Menschen offenbar systematisch unsystematisch handeln. Die beiden haben bewiesen,
dass die meisten Menschen weit weniger egoistisch sind, als die Ökonomen annahmen.
Sie verlieren nie den Kopf?
Einige meiner Kollegen schon. Ich nicht.
Dann sind alle Wirtschaftsmodelle falsch?
Man muss leider annehmen, dass sie die Wahrheit
verfehlen.
Die Menschen handeln also nicht so eigennützig,
wie Adam Smith behauptet?
Sie handeln nicht so, wie man Adam Smith allgemein zitiert. Und das ist noch nicht alles, die
zweite Erkenntnis ist die: Wir Ökonomen handeln
egoistischer als jede andere Gruppe von Menschen, wir haben also in unseren Theorien vor
allem uns selbst beschrieben.
Sind Sie denn ein Egoist?
Nun ja – es gibt zurzeit eine erbitterte Debatte
unter uns Ökonomen, ob die Wirtschaftswissenschaften egoistische Leute anziehen oder ob das
Studium der Ökonomie die Leute zu Egoisten
macht.
Sind Sie nun ein Egoist oder nicht?
Sicher auch. Die Wirtschaftswissenschaften bringen einem bei, sehr viel genauer über seine Entscheidungen und Interessen nachzudenken. Das
läuft zwangsläufig auf die Frage hinaus, was einem
am meisten nützt. Das ist bei mir genauso.
Hat Ihnen Ihr ökonomisches Wissen das Leben
erleichtert?
Die Ökonomie hat mein Leben zugleich leichter
und schwerer gemacht. Weil man über alles bis ins
letzte Detail nachdenkt, werden die Entscheidungen immer komplizierter. Man wird neurotisch.
Man entdeckt plötzlich Ungewissheiten, man
beschafft sich also mehr Informationen. Es gibt
einen ganzen Zweig der WirtschaftswissenschafBRAND EINS 02/03
Der Idiot führt also ein glückliches, unbeschwertes Leben.
Sicher.
Wollen Sie mit Ihrer Arbeit die Welt verbessern?
Ich will in erster Linie ein paar Dinge besser
verstehen. Wenn man etwas verbessern will,
muss man die Sache zuerst verstehen. Wenn ein
Veterinär wissen will, wie ein Tier funktioniert,
dann macht er das ja auch nicht in erster Linie,
weil er das Tier verändern will. Für mich als
Sozialwissenschaftler ist es vor allem interessant,
soziale Systeme zu verstehen. Ich will wissen, warum sie meistens funktionieren und warum nicht.
Es gibt keine Veränderung ohne vorhergehendes
Verständnis.
Ist das vielleicht der Unterschied zwischen einem
vermummten Straßenkämpfer in Genua oder
Seattle und einem freundlichen Professor wie
Ihnen?
Genau. Aber da unterscheide ich mich auch von
einem Vertreter des IWF. Die haben bestimmte
Regeln, denen sie gehorchen müssen und die sie
über Generationen weitergegeben haben. Als ich
zur Weltbank kam, stellte ich meinen Mitarbeitern
immer die gleiche Frage: Warum tut ihr das so?
Von welchen Beweisen geht ihr aus? Und die
Antwort war auch immer die gleiche: weil wir es
schon immer so getan haben.
Das haben die tatsächlich gesagt?
So wahr ich hier sitze.
Zurück zu Ihrer Motivation. Warum wurden Sie
Wirtschaftswissenschaftler?
Ich hatte einen kritischen Punkt in meiner
College-Zeit, als ich mich mit der Frage auseinander setzte, ob ich Physik oder Ökonomie
studieren soll. Und ich entschied mich für die
Ökonomie, weil ich etwas verändern wollte. Ich
wollte etwas tun gegen Ungleichheit, Armut,
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Arbeitslosigkeit und Diskriminierung.
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WAS WIRTSCHAFT TREIBT _INTERVIEW JOSEPH STIGLITZ
Das will doch jeder, wenn er jung ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob das heute noch so ist.
Wissen Sie, ich bin nicht in Beverly Hills aufgewachsen, sondern in der Arbeiterstadt Gary, im
Bundesstaat Indiana. Die Stadt war völlig von der
Stahlindustrie abhängig. Man musste damals noch
nicht Nobelpreisträger sein, um zu erkennen, dass
die Marktwirtschaft nicht unbedingt allen zugute
kommt. Gleichzeitig war klar, dass Ideologien wie
der Kommunismus und der Sozialismus zwar
versprachen, etwas gegen diese Ungleichheiten zu
tun, aber hoffnungslos versagten.
Joe, mal ganz ehrlich: Sind wir Westler wirklich
an jeder Misere in der Dritten Welt schuld? Kann
es nicht auch sein, dass manche Kulturen einfach
unfähig oder schlicht zu borniert sind, um sich
weiterzuentwickeln?
Das glaube ich nicht. Tatsache ist, dass die wirtschaftlichen Spielregeln nicht für alle Länder die
gleichen sind. Nehmen wir ein sehr armes afrikanisches Land. Ein Resultat der Uruguay-Runde
zum Beispiel war, dass dieses Land seinen Markt
öffnen musste gegenüber den Industriestaaten,
Letztere aber nicht gegenüber diesem Land. Was
bedeutet das konkret? Der Baumwollmarkt wird
in den USA zum Beispiel zu 50 Prozent subventioniert. Diese Subvention drückt international
den Preis von Baumwolle, was dazu führt, dass
das Einkommen eines afrikanischen Landes um
ein bis zwei Prozent gesenkt wird. Die Höhe der
Subventionen für die Landwirtschaft in Europa,
den USA und Japan übertreffen heute noch das
totale Einkommen von Schwarzafrika. Das ist
doch absurd. Sie sehen, so haben Entwicklungsländer keine Chance.
Müssen wir Bewohner der reichen Länder ein
schlechtes Gewissen haben, weil jedes Jahr immer
noch Millionen von Menschen verhungern?
Das ist eine Frage, auf die es keine einfache
Antwort gibt. Ich würde sagen: Ein Mensch in
Zürich, der jeden Abend auf dem Sofa sitzt, Bier
trinkt und fernsieht, ist als Einzelner sicher nicht
an der Armut in Sierra Leone schuld. Er muss
kein schlechtes Gewissen haben. Aber trotzdem
gibt es eine moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, etwas gegen soziale Ungerechtigkeiten zu
tun. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den sechziger
Jahren wurden im Süden der USA die Schwarzen
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diskriminiert. Fühlte sich jemand in New York
zum Beispiel schuldig deswegen? Ich glaube ja.
Aber ist er auch objektiv schuldig, weil er nichts
gegen diese Situation tut? Hätte er auf die Straße
gehen oder wenigstens seinen Kongressabgeordneten anrufen sollen, um ihn zu bitten, etwas
dagegen zu tun?
Na ja, so ein Telefonat kostet ja nicht viel.
Ja, man muss etwas tun. Man hat eine Verpflichtung gegenüber jedem Einzelnen in seiner
Gemeinschaft. Seit der Globalisierung ist die Welt
unsere Gemeinschaft. Also ist es moralisch falsch,
wenn man nichts gegen Armut, Unterernährung
und politische Unterdrückung tut.
Sollen wir also unsere Arbeit aufgeben, um
Kindern in Afrika das Lesen und Schreiben beizubringen? Sollen wir deshalb unsere Lieben
verlassen?
Das müssen Sie selbst wissen. Ich meine, die
Verpflichtungen gegenüber seiner näheren Umgebung haben eine gewisse Priorität.
Bloß die Menschen, die etwas tun, aber das
Falsche, die verurteilen Sie. So werfen Sie in
Ihrem Buch „Die Schatten der Globalisierung“
dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vor,
die Krise in Argentinien mit verschuldet zu
haben. Wollen Sie die IWF-Vertreter im Gefängnis sehen?
Nein, aber man sollte sie feuern. Wegen der
Politik des IWF sind Menschen gestorben.
Sind Sie nicht etwas zu hart? Die Ökonomen des
Währungsfonds waren immerhin überzeugt, sie
täten das Richtige.
Der IWF hat das Interesse der internationalen
Banken höher gewichtet als dasjenige der Menschen im jeweiligen Land. Wie konnte man in
Indonesien die Banken mit 20 Milliarden Dollar
stützen, und für die Ärmsten der Armen hatte
man nur 100 Millionen übrig? Wie kann man da
noch ruhig schlafen? Aber der IWF weigert sich,
in diesen Kategorien zu denken.
Haben Sie denn keine Fehler gemacht, als Sie für
Clinton oder die Weltbank gearbeitet haben?
Natürlich. Eine Frage, die ich mir immer wieder
stelle, ist die: Wie hart habe ich für eine Sache
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gekämpft? Hätte ich mehr tun können?
Wäre ich nicht vielleicht eher ans Ziel
gekommen, wenn ich einen anderen
Weg genommen hätte? Zum Beispiel
wenn ich gegen diese falschen Anreize für
Manager gekämpft hätte, die sie mittels
Optionen dazu verleiteten, die Gewinne
kurzfristig hoch zu schrauben. William
Webster, der ehemalige Ausschuss-Leiter
der US-Börsenaufsicht, sagte kürzlich, sein
größter Fehler sei es gewesen, genau bei
diesem Thema nachgegeben zu haben.
Ich weiß nicht, ob ich das hätte verhindern können. Ich versuchte zwar, Druck
auf die damalige Clinton-Administration
zu machen, und kämpfte monatelang mit
dem Finanzminister im Kongress. Aber
ich verlor und ging danach nicht zu den
Zeitungen.
Haben Sie mit Clinton persönlich darüber
gesprochen?
Nein, er wollte sich auf dieses Thema nicht
einlassen, weil es ihm zu technisch war.
Der damalige Finanzminister Robert Rubin
war gegen meine Einwände, Wallstreet
auch; und ich war überzeugt, dass diese
Gewinnanreize zur Katastrophe führen
würden. Die Geschichte gab mir leider
Recht. Ähnlich versuchte ich mich gegen
die Weltbank- und IWF-Programme in
Südostasien zu wehren – aber auch hier
unterlag ich. Vielleicht hätte ich mehr tun
sollen.
Sie klingen ja nicht gerade enthusiastisch.
Waren denn die Jahre als Regierungsberater und bei der Weltbank für Sie so
enttäuschend?
Nein. Wir haben viele Kämpfe gewonnen.
In dieser Art von Jobs tut man zwei
Dinge: Erstens, man bekämpft schlechte
Ideen und hintertreibt falsche Initiativen.
Das ist zwar destruktiv, aber nötig. Zweitens, man versucht die noch verbleibende
Energie in diejenigen Projekte fließen zu
lassen, die man für wirklich sinnvoll hält.
Eine ganz andere Frage: Geht Europa auf
eine Deflation zu?
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Ich glaube nicht, dass es schon so schlecht
steht. Aber klar ist die Weltwirtschaft
zurzeit schwach. Und auch in Bezug auf
die USA bin ich pessimistisch. Die Wirtschaft wurde in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr unglücklich gemanagt.
f:kom
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Die Firmenvorträge
im Convention Center.
Dialog pur: Die Firmenvorträge der CeBIT
sind das weltweit größte Forum der
Informations- und TelekommunikationsBranche. Hier erfahren Sie das Neueste
und Wichtigste ohne langes Suchen und
ohne endlose Messegänge.
Droht nun in Europa eine Deflation oder
nicht?
Wenn wir eine Deflation als Preiszerfall mit
starkem Rückgang des Sozialproduktes
verstehen, dann sind wir noch nicht so
weit. Wenn wir darunter aber ein Wachstum verstehen, das klar unter den Möglichkeiten liegt, dann ist dies zweifellos
der Fall. Deutschland ist bereits in einer
Rezession.
Ein Auszug aus dem Programm…
Sollten wir sparen oder Geld ausgeben?
Generell bin ich Keynesianer. Ich glaube
deshalb, dass man jetzt, in einer Phase des
Abschwungs, die Staatsausgaben erhöhen
muss – vor allem, wenn die Geldpolitik
Gefahr läuft, wirkungslos zu werden. Das
sehen wir jetzt in den USA.
Marketing Automation
im Kampf um den
Kunden
Was sollen wir tun?
In kleinen, offenen Märkten muss man
sich sehr genau überlegen, welche Geldpolitik man machen will. Es gibt enorme
Schwachstellen, und den Nutzen von tiefen
Zinsen haben dann häufig andere Länder.
Dieses Instrument ist sehr heikel, wenn
man es nicht richtig macht. Aber die EU
hat ein viel größeres Problem mit ihrem
Stabilitätspakt – da hat Kommissionspräsident Romano Prodi mit seiner Kritik Recht.
Meine Herren, ich muss jetzt gehen.
Freitag, 14. März
CRM-Medienintegration im
Call Center
Freitag, 14. März
Donnerstag, 13. März
Die Zukunft von
mBusiness
Freitag, 14. März
Trends der
IT-Infrastruktur
Schade. Letzte Frage: Soll man Adam
Smith oder Karl Marx lesen?
Adam Smith – und am besten gleich
alles von ihm. Smith sagt nämlich auch,
warum die Marktwirtschaft nicht immer
funktioniert. Und es ist wichtig, das zu
verstehen. - - - - - |
© Das Magazin, Ausgabe 01 vom
4. Januar 2003, S. 20 ff
Fi rm e nvo r t r ä g e
Corporate Lectures
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www . corporatelecture . de