Globalisierung gerecht gestalten?

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Globalisierung gerecht gestalten?
von Peter Schönhöffer (Attac Münster)
1. Lässt sich Globalisierung, so wie sie jetzt läuft, überhaupt steuern?
Es ist durchaus zutreffend zu sagen, dass man unter den Vorzeichen der gegebenen Vertragswerke in der Welthandelsorganisation und der Machtverteilung im Internationalen Währungsfond
Globalisierung nicht gerecht gestalten kann. Vor allem wenn man noch den vorherrschenden
neoliberalen Basis-Konsens hinzunimmt, der sich in den Kreisen der Neuen Dienstleistungseliten, Broker, Investmentbanker und Sozial-Umbauer noch immer mehr oder weniger unwidersprochen als das Ende der Geschichte ausgibt, drängt sich dieser Eindruck massiv auf. Ich persönlich
habe mich zehn Jahre lang in UN-Konferenzen, auf NRO-Ebene und im Kreise sozialer Bewegungen mit den dahinterliegenden Entwicklungen, Politikfeldern und Analysen beschäftigt - und ich
glaube, ich weiss, wovon ich dabei spreche. Ist der Anspruch unseres Zusammenkommens „Globalisierung gestalten“ zu wollen - und zwar gerecht - damit hinfällig? Nein! Denn die Unmenschlichkeit der gegenwärtigen Welt-un-ordnung sollten wir keineswegs auch noch zum Maßstab für
das machen, was wir uns zu wollen erlauben bzw. womit wir uns nicht zufrieden geben können.
Das wäre Gedankenzensur und eine fatale Weise der Selbsteinengung. Die derzeitige Unmöglichkeit unter den gegebenen Bedingungen im Weltmaßstab ernsthaft weiter zu kommen, auf
einem Weg, der Mensch und Natur gerecht zu werden vermag, sagt nichts darüber aus, dass wir
alles Menschenmögliche und -unmögliche daran setzen müssen, die Vermachtungs- und Militarisierungstendenzen, die Gewaltökonomien und weltweiten und nationalen Verteilungsungleichgewichte weiter anzuprangern und für bessere, weil menschenwürdigere Lösungen weltweit zu
kämpfen: auch und gerade weil die Ausgangslage verdammt heikel ist!
Müssen wir die Suche nach Auswegen und tragfähigen Lösungen dabei auf andere Mittel und
Wege als auf die modifizierende Ausgestaltung bestehender Verhandlungsspielräume in der Reform von UN-System und der Welthandelsorganisation richten? Dazu meine ich ein entschiedenes „Ja“ sagen zu müssen - und will dies im folgenden begründen und für sie nachvollziehbar
machen.
2. Verarmung und Bereicherung haben System
Relative Verarmung nimmt in Deutschland und weltweit maßgeblich aus zwei Gründen zu: Solange keine Schritte im Hinblick auf emanzipatorische Varianten von Tätigkeitsgesellschaften,
Gemeinwesen-Unternehmern und/oder soliden leistungslosen Grundeinkommen durchgesetzt
sind, steigt die Zahl der Menschen in Nord und Süd, die nicht einmal mehr als auszubeutende
Arbeitskräfte gefragt sind, weil die Produktivkräfte so angewachsen sind, dass mit immer weniger
Menschen immer mehr produziert werden kann. Zunehmend mehr Menschen im Süden sind für
den Markt weder als ProduzentInnen noch als KonsumentInnen interessant. Sie sind in der Logik
herrschender Wirtschaft und Politik schlicht überflüssig. Sind sie es auch für uns?
Viele geben ihre Heimat auf und flüchten. Wir aber riegeln unsere Wohlstandsinseln ab. Die Benennung der Mitverantwortung des Nordens für ökonomische und ökologische Fluchtursachen im
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Süden stößt entweder auf taube Ohren oder wird mit der fatalen Logik von Standort-Argumenten
abgewiesen. Damit aber wird nichts anderes als der untaugliche Versuch einen Ausweg dahingehend zu erreichen, unternommen, mit nationalen Egoismen dem Strudel einer allgmeinen Abwärtsbewegung zu entkommen. Im Norden verschärft der Abbau und die Erosion sozialer Sicherungssysteme die Armutsgefahr. In den letzten Jahren ist in Deutschland die Aushöhlung und
Überlastung sozialer Sicherungssysteme immer weiter fortgeschritten. Zum Beispiel gab es massive Einschnitte bei der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe und
im Gesundheitswesen. Bei der Einführung der Pflegeversicherung wurden die ArbeitnehmerInnen einseitig belastet. Kindererziehende werden steigenden Belastungen und Ungerechtigkeiten
ausgesetzt - ohne adäquaten Lasten- und Leistungsausgleich. Im Süden hatte die Familie, die
Sippe oder die Nachbarschaft über lange Zeiten hinweg als soziales Abfgangnetz gedient. Wo
diese Netze durch die Einführung industriekapitalistischer Lebensweisen löchrig werden, reduziert sich der Alltag für viele auf den permanenten und oft erfolglosen Kampf gegen den Hunger.
Währenddessen nimmt die ihrer Sozialpflichtigkeit zunehmend entledigte Konzentration des Reichtums in den Händen weniger Überhand. Über 3 Milliarden Menschen - also fast die Hälfte der
Weltbevölkerung - leben heute von weniger als 2 US-Dollar am Tag. Das Vermögen der 200
reichsten Personen übersteigt derweil die Summe des Jahreseinkommens der ärmsten 2,5 Mrd.
Menschen. Soweit haben wir es also gebracht! Die Erleichterung von Bereicherung und Kapitalkonzentration hat vor allem zwei zentrale Hintergründe, die wir stoppen und umkehren müssen.
Zum einen wurde der Produktivitätszuwachs der letzten Jahre zu großen Teilen weder an die
Beschäftigten weitergegeben noch reinvestiert, sondern in private Gewinne transformiert. In früheren Entwicklungsphasen des Kapitalismus hat nachlassendes Wachstum zu sinkenden Profiten geführt. Heute vermag die eng verzahnte Herrschaft der Wenigen in den alten und neuen
Branchen mit Banken und Versicherungsunternehmen auch bei stockender Nachfrage durch Rationalisierung, Outsourcing, Lohnsenkung usw. die Gewinne zu steigern. Die daraus folgende
Umverteilung des Masseneinkommens führt zu einem Effekt des Übersparens, d.h. es gibt mehr
Mittel, die nicht in der produktiven Akkumulation, sondern auf den Finanzmärkten Verwertung
suchen. Langsames Real-Wachstum und schnelle Entwicklung der Finanzmärkte werden so zu
zwei Seiten einer Medaille und bilden ein neues Muster kapitalistischer Entwicklung, bei der die
globalen Finanzakteure zunehemend die entscheidende Rolle spielen. Privatisierung vor Ort,
wirtschaftspolitische Deregulierung, Konzernmacht und Finanzkapitalinteressen gehen darin ein
fatales Bündnis ein. Die demgegenüber noch übrig bleibenden Lebenswelten ziehen sich unter
diesem Ansturm immer enger zusammen, werden durchkapitalisiert und verlieren ihren Eigensinn. Menschen verkümmern, wir leben in einer messianisch dürftigen Zeit (Elsa Tamez) oder
wie Franz Hinkelammert sich ausdrückt „in den Hundejahren der Globalisierung“.
Ein weiteres eklatantes Beispiel für die Kurzfristigkeit von Kapitalrealisierung und die Blindheit
gegenüber Folgen für die Allgemeinheit, die daraus entstehen, stellt ein Phänomen dar, das
uns als Bauern und Verbraucher des Münsterlands unmittelbar angeht, nämlich das massive
Hochziehen von Cash-Crops in den ländlichen Gebieten der Zwei-Drittel-Welt, vor allem das
Soja, mit dem sich United Cargil und wenige Großgrundbesitzer kurzfristig bereichern und mit
dem wir hier unsere Massentierhaltung aufrechterhalten. Dabei ist man die die längerfristige
Ernährungssicherheit breiter Bevölkerungsschichten des Südens zu opfern bereit.
Ein zweiter entscheidender Faktor für Kapitalkonzentration auf der einen Seite und Armut der
öffentlichen Hände auf der anderen Seite (absolute Verarmung im Süden und relative Verarmung
im Norden), ist darin zu suchen, dass höhere Einkommensgruppen, Kapitaleigner, Großkonzerne
und Investoren zuletzt systematisch von Abgaben und Steuern entlastet worden sind: In Deutsch-
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land etwa sinkt der Anteil der Einkommenssteuer der höheren EinkommensbezieherInnen seit
1960 kontinuierlich. In den südlichen Ländern genießen Großinvestoren in den Freien Exportzonen, die mittlerweile bis nach Cuba vorgedrungen sind, enorme Steuervorteile - und beginnen andernorts immer ungeschminkter mit makabren Erpressungs-Spielen bei der Wahl neuer
Produktionsstandorte ganze Volkswirtschaften zu ihren Gunsten gegeneinander auszuspielen.
Öffentliche Armut und privater Reichtum werden so geradezu zu einem Sinnbild unserer Zeit.
Französische Soziologen sprechen von einem heraufziehenden neuen Feudalismus oder von einer Regression des Weltzustands auf antike Großreichsstrukturen, die sich gegen vermeintliche
Barbaren zur Wehr setzen.
Und noch ein Drittes ist als Hintergrund von entscheidender Bedeutung: Die ökologische Krise
droht sich nach wie vor zum Negativvorzeichen anderer Politikfelder zu entwickeln: Das Münchener Frauenhofer-Institut kommt in einer Studie im Auftrag der EU-Kommission zu dem Schluss,
dass ohne einschneidende Veränderungen bis zum Jahr 2000 mit 900 Mio. bis 1,8 Mrd. zusätzlicher Hungertoter aufgrund der Verschiebungen der Vegetationszonen zu rechnen sei. Diese absolute, zur verteilungsbedingten noch hinzukommende Hungersnot, interpretiert, das FrauenhoferInstitut als direkte Folge der Klimaveränderungen. Das Wegbrechen der natürlichen Lebensgrundlagen kann zu primären Gewaltursachen (innergesellschaftlich und zwischenstaatlich) werden. Die Notwendigkeit, ständig neue ökologische Katastrophen bewältigen zu müssen, kann
die durch die Finanzmarktkapitalisierung in ihren Entscheidungsspielräumen ohnehin stark geschwächten demokratische Strukturen zusätzlich gefährden.
3. Aufbruch aus einer Sozialkultur jenseits aller Sozialpflichtigkeit
Was wir aus dem bislang gesagten lernen können, scheint mir vor allem dies: Das, was früher als Nord-Süd-Konflikt gehandelt wurde, spiegelt sich heute als Selbstverähnlichungstendenz
dessen, was in Handel, Finanzen und Ökologie weltweit geschieht, in den Prozessen, die sich national strukurverwandt wiederholen. Wir kämpfen gegen annähernd die gleichen Mechanismen,
wenn wir Bereicherung und Verarmung im Weltmaßstab und bei uns vor der Haustür bekämpfen. Die Hauptscheidelinie verläuft längst nicht mehr nur zwischen Nord und Süd, sondern ist in
die von vielerlei Spaltungen bedrängten Gesellschaften des Nordens eingekehrt. Dies sollte uns
Motivation und Mut geben, festzustellen: Wir müssen heute diskutieren über neue Lösungen für
die Regulierung der Finanzmärkte, gestaffelte Sozialstandards im Welthandel und ein grundlegendes ökologisches Umdenken und über Umverteilungsvorstellungen wie etwa die Tobin Tax.
Dies alles muss im Weltmaßstab geschehen. Wir können uns nicht mehr von den Mechanismen, die dort wirken, fernhalten und uns in unsere kleine vertraute Umwelt zurückziehen: Die
Forderung, die die fatale Erbschaft des 20. Jahrhunderts an uns stellt, heisst eben doch: Globalisierung gerecht gestalten! Sonst werden wir gerade als GewerkschaftlerInnen immer neu mit
Sachzwängen abgespeist und mit der Abfederung von Auswirkungen und Symptomen ruhig gestellt werden. Nur dürfen wir uns eben nicht so kurzschlüssig auf das Gegebene einlassen, wie
es die von der Weltbank, der Welthandelsorganisation und dem „Global Compact“ der Vereinten Nationen an uns als Globalisierungskritiker ergehenden Gesprächsangebote so gerne sehen
würden. Wir dürfen uns und unsere Ansichten nicht ko-optieren lassen, ob dies nun in nationalen oder lokalen „Bündnissen für Arbeit“, den Chat-Räumen, die die WTO neuerdings anbietet,
hochoffiziellen Diskussionsrunden in den Palästen der Reichen oder den Versuchen, informeller
Meinungsauslotungen geschieht.
Es ist zu befürchten, dass der Kampf um die Zugehörigkeit zu den schrumpfenden Wohlstands-
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inseln auf internationaler und nationaler Ebene zunehmend aggressiver geführt weden wird und
dies von nationalistischen, rassistischen und wohlstandschauvinistischen Orientierungen begleitet sein wird, wie wir dies in Italien, Österreich, Dänemark, Ost- und zum Teil auch Westdeutschland und nun auch in Frankreich mit frappierender Deutlichkeit erleben. Gerade wenn es um die
Sicherung von Wohlstand und die Legitimation von Marginalisierung geht - denken sie an die
Diskussionen um die Vermögenssteuer und aktuell um die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe, die Zumutbarkeitsverschärfungen für die Annahme von Jobs und die angedachte radikale Kürzung der Bezugslaufzeiten für ältere Arbeitslose - lässt sich an die latent in der
Bevölkerung vorhandenen rassistischen Vorstellungen sehr gut anknüpfen. Zygmunt Baumann
etwa hat bereits vor Jahren deutlich vor Augen geführt, dass eine Entwicklung droht, in der „die
Fremden“, ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge in der Wahrnehmung einiger, die sich dies leisten
können, unzweideutig zu Vergnügungslieferanten degenerieren, für die Verlierer wiederum zum
Symbol der eigenen Machtlosigkeit, zu einer Quelle von Angst und Unsicherheit. Statt dass die
Strukturen des Unrechts und die dafür verantwortlichen Weichensteller und Lobbyistengruppen
in den Blick kommen und anstatt die unbequeme Fragen zu stellen und durchzufechten, erscheint
es viel bequemer, die Opfer zu Schuldigen zu stempeln, und Ängste und Aggressionen auf sie
zu richten.
Warum aber bleiben unsere Grenzen für Agrar- und andere Produkte aus Entwicklungsländen
entgegen der eigenen Freihandelsdoktrin weitgehend verschlossen, was viel, viel mehr kostet als
jede öffentliche Entwicklungshilfe, so zweischneidig diese schon in sich ist, wieder zurückbringt.
Und warum werden in WTO und IWF strukturelle und sektorale Privilegien so eisern verteidigt?
Warum steht der Irrationalismus kapitalistischer Wirtschafts- und Lebensformen nicht zunehmend eindeutiger am Pranger? Warum werden neue, gemeinwohlorientierte Lenkungssteuern
z.B. auf spekulative Devisentransaktionen nicht endlich umgesetzt? Warum muss die Lohnsteuerquote zunehmend alleine die Kosten des Sozialstaats schultern? Warum muss es steuerparadiesähnliche Regelungen für Unternehmen geben, die sich so ihrer sozialen Verantwortung fast
komplett entziehen können? Ist Gesundheit nicht wichtig genug, dass alle Erwerbstätigen zur
solidarischen Absicherung beitragen müssten?
Was aber braucht es um diesen schweren und von vielen, die der Gefahr ins Auge zu blicken
gewohnt sind, zunächst einmal als Bohren „ganz dicker Bretter“ gekennzeichneten Kampf der
nächsten Jahrzehnte aufzunehmen?
4. Notwendige Arbeit an postfordistischen Subjektivitäten
Ein Viertel der Deutschen ist zu Beginn der 90er Jahre in aggressiven oder apathischen Resignationsfiguren von Fatalismus gegenüber der wahrgenommenen gesellschaftlichen Dichotomie
von „oben - unten“ und der Reduzierung ihrer selbst auf eine von Ängsten und Unverständnis
in Anbetracht von Zukunftsfragen geprägte, gegenüber Zuwanderern und anderen Bedürftigen
wohlstandschauvinistisch eingestellte, Konsumentenrolle befangen1 . Ihre soziale Identität und
die vermeintlich ihr Ureigenstes darstellende Subjektivität sind beinahe vollständig durch die gegenwärtig herrschenden Diskurse der Kommunikations- und Marketingindustrie (vor)produziert2 .
Daran muss jede nur polit-ökonomisch denkende Revolution scheitern. Nimmt man noch die
17,7% „skeptisch-Distanzierten“ hinzu, welche sich teilweise polemisch-zynisch und teilweise re1 Vgl. M. Vester et al. Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung,
Köln 1993, 347-354.
2 Vgl. ebd. 202.
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signiert der Durchsetzung der Stärkeren in der Gesellschaft beugen und sich sozialen Bewegungen und sozialen Orientierungen wegen derem als elitär wahrgenommenen Habitus ebenso
verschließen3 , dann wird vollends offensichtlich: Die westliche Moderne, die auf die Konstruktion
von objektivem oder doch mindestens subjektivem Sinn angewiesen ist, kommt an ihre Grenze.
Spätestens im Reifestadium der auf eine zunehmend weltweite Wertschöpfungskette aufgeteilten
Arbeitsgesellschaften treten die unbeantwortbar erscheinenden Sinnfragen vermehrt hervor.
Was ist zu tun? Wir brauchen Spiritualitäten als Innenseite, sich nicht verbrauchender Motor
und immer neu aufzusuchende Quelle von sozialer Bewegung und Veränderungsbereitschaft.
Diese müssen nicht eine ganz bestimmte Form, verpflichtend oder gar doktrinär festgesetzte
Kennzeichen annehmen. Das würde einengen und ginge auch an den Bedürfnissen, derjenigen,
die sich einsetzen wollen, vorbei. Eine Spiritualität des Kampfes und der Übereinstimmung mit
den eigenen Idealen, die durchträgt, unterstützt, durchsäuert und auch nach Niederlagen wieder
aufstehen lässt, ihre Symbole und Rituale müssen aus den täglichen und konkreten Kämpfen
erwachsen. Es braucht Menschen, die eine Sprache finden für das, was uns antreibt, als Medium und als Ziel unsere Kämpfe durchdringt - und dabei die anonym aufgerichteten Tabus,
Sprech- und Denkverbote, die ein allüberall herrschender Ökonomismus aufgestellt hat, durchbricht. Wenn es der neoliberale Hauptstrom als lächerlich und gegenstandslos denunziert von
sozialer Gerechtigkeit und gleichen Lebens-Chancen zu sprechen, wenn die Asozialen des neuen Jahrhunderts, nämlich die Steuerverweigerer Daimler-Chrysler, Deutsche Bank und andere
„Leistungsträger“ genannt werden und deren Opfer auf den Arbeitsmarkt „freigesetzt“ sind und
nunmehr selbst als „Asoziale“ angesprochen werden, dann versteht sich diese Rede als Kontrapunkt zu solcher Art von Vorurteilen, Redeweisen und sie stützenden Ideologien. Es braucht
Menschen, die wieder deutlich machen, dass der Schwächste in der Abteilung unseres Betriebs
oder der gewerkschaftlichen Ortsgruppe dem Fortgang der Gruppe etwas zu sagen hat, wenn
man ihn zu seinem Wort kommen lässt. Es braucht Gewerkschaftler, die darauf aufmerksam
machen, dass es nicht ok ist, wenn die in Abwehrkämpfen als scheinbarer Sieg errungenen Vereinbarungen, die wir mit unseren Betriebsrat austüfteln, einseitig zu Lasten der neu Eingestellten
(Münsteraner Busfahrerstreik!) oder des Umstellens der Zulieferung auf Selbstausbeutung in Osteuropa oder den Freihandelszonen Mittelamerikas gehen. Wir müssen das zur Sprache bringen,
was als Gerechtigkeitssinn in uns lebt. Es geht ganz elementar und unverzichtbar darum, dem
eine Sprache zu verleihen, was uns antreibt, uns einzusetzen, nicht mundtot machen zu lassen,
fatalistisch oder aggressiv gegen sich selbst zu werden. Dann wird unser Anliegen „einer Welt,
in der viele Welten Platz haben“ und das sich gegen das Einheitsdenken des Neoliberalismus
wehrt, wirklich überzeugungsfähig und vielleicht sogar mächtig werden: Die Wirtschaft soll dem
Menschen dienen, wir brauchen mehr Startchancengerechtigkeit in der Bildung, faire Besteuerungsmodelle, Mitbestimmung und mehr Arbeitnehmerrechte gerade um die Zeiten abzulösen,
in denen die Lohnsteuerquoten mehr und mehr steigen und Unternehmenssteuern und Gewerbesteuern mehr und mehr sinken und in denen eine finanzmarktvermittelte Globalisierung, die
Chancen und Risiken höchst ungleich streut, vielen den Mut genommen hatte.
5. Widerstand wächst weltweit - wachsen wir mit?
Da ist es gut, dass in den letzten drei Jahren so eine Bewegung wie ATTAC zur demokratischen
Kontrolle der Finanzmärkte weltweit aus dem Boden geschossen ist, die mittlerweile 60.000 Mitglieder hat, über 5000 davon in Deutschland. Weltweit stehen wir nicht allein: Peoples global
action, Via Campesina, Tute Bianchi, die Bewegung, die von den Zapatistas ausging und von
3 ebd.
338f.
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den Treffen in Porto Alegre, aber auch Netzwerke wie Raison d’Agir und die dort aufgekommene
Idee eines ständigen Parlaments der sozialen Bewegungen stehen für weltweiten Widerstand.
Diese Gruppen kümmern sich um die Vernetzung weltweiter und lokaler Fragen oder auch um
die Einführung einer Tobin-Steuer, wir müssen vor Ort nach neuen Formen des Arbeitens und
des Lebens Ausschau halten, die nicht dem schrecklichen Konformitätsdruck eines grenzenlosen Marktes und einer grenzenlosen Vermarktung aller Werte, Formen und Gefühle unterliegen.
Hier ist von den Mitträgern von ATTAC in den Regionalgruppen wie von der Masse der arbeitenden Bevölkerung, der keineswegs zu unterschätzenden Macht der Multitude, wie es bei Negri
und Hardt jetzt heisst, und den leitenden Gewerkschaftsfunktionären Fantasie gefragt, Vergemeinschaftung und ein Wettbewerb um die besten und durchsetzungsfähigsten Ideen.
Denn noch einmal: Was mit dem Nebelwerfer-Begriff „Globalisierung“ mehr verdeckt denn getroffen wird, sind die absurden Risiken für alle Beteiligten und die systemische Gefährdungen
von Lohneinkommensbeziehern und der Ökosphäre, die von einer Vorfahrt der Interessen des
Investitions- und Finanzkapitals ausgehen. Um gegenüber deren höchst abstrakter und schwer
erreichbar erscheinender Herrschaft nicht klein bei geben zu müssen und innerlich vielleicht daran zu verzweifeln, ist es höchste Zeit sich utopisch und mehr und mehr auch konkret neu zu
überlegen, wie wir leben, lieben und arbeiten wollen - und nach und nach den Umständen entsprechend Engagement für sich selbst, für andere wieder aufzunehmen: Wir müssen „molekulare
Revolutionen“ auslösen, damit Menschen wieder Mut haben, „Nein“ zu sagen, zu dem, was Ihnen
nicht passt oder zu Lasten Dritter geht, das Kämpfen in ihrem Leben wieder erst zu nehmen und
eine Daseinsberechtigung zu erlauben. Lasst uns von hier und heute ein Signal aussenden zu einer großen „Entfatalisierungsbewegung“: Wir werden nicht länger hinnehmen, dass die Rahmenbedingungen es nicht anders erlauben, dass erst wenn Personal abgebaut wird, die Aktienkurse
wieder steigen und das Gehalt der Top-Manager an die kurzfristige Steigerung des Aktienkurses
gebunden wird. Diese Variante des Share-holder-Value-Konzeptes wollen wir nicht! Wir haben
den Mut zu sagen: Nein! Mit uns nicht. Das Stake-Holder Konzept ist möglich, eine andere Welt
aufzubauen ist möglich und sogar nötig. (Dazu kann eine Koalition zwischen Glaubenskampf
und Lebensverlangen nützen, denn daraus entsteht ein Aufstand gegen das Selektionsprinzip,
weil ein Mensch dann dem anderen gegenwärtig werden kann und beide erkennen: dass jeder
Mensch unvertretbar ist, unendlichen Wert hat und jedem absolut der gleiche Wert zukommt:
weil er ein Kind Gottes ist, schon bevor er sich durch Leistung auszeichnen und sein täglich Brot
verdienen muss.)
Die nötigen Veränderungen, damit Globalisierung wirklich „gerecht“ werden kann müssen in vielen kleinen Konfrontatoen, in viel Denkarbeit und in der Schaffung neuer Denkmöglichkeiten möglich gemacht werden. Es gibt kaum eine dringlichere, aber auch kaum eine erfüllendere Aufgabe:
Lasst uns den Schulterschluss von Globalisierungskritikern, gewerkschaftlich Engagierten und
den vielen KollegInnen, die in skeptisch-distanzierter Zurückhaltung verharrt haben, suchen und
praktizieren! Lebensgewinn gibt es nicht ohne die Annahme von Lebensverlust: Die Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit bei denjenigen, die zu dem Promotoren ihres eigenen Kampfes werden müssen, gelingt nicht ohne Rückschläge und Scherereien: Dabei geht es auch und
nicht zuletzt um den Aufbruch aus der Resignation. Es geht um innere Stabilisierung, kollektive Solidarisierung und die öffentliche Demonstration gestalteter Aggressivität zum Zweck der
Durchsetzung von Verteilungsgerechtigkeit und Rechten, nicht zuletzt um die von Max Horkheimer einst beschworene Solidarität der Denkenden mit den Arbeitenden! Dass hier und heute
ein Vertreter von ATTAC, also einer in Bewegung geratenen außerparlamentarischen Opposition zu Ihnen spricht, ist ein guter Anfang, dem weitere Taten folgen sollten. Gegenkonzepte zur
neoliberalen Deregulierungsstrategie können nicht allein von gesellschaftlichen Großgruppen,
wie den Gewerkschaften oder Kirchen, auch nicht alleine von einer Partei und auch nicht von
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einem Dachverband der Globalisierungskritiker entwickelt und dann den anderen aufgedrückt
werden. Sie werden gemeinsam und gleichberechtigt an vielen kleinen Orten und in vielen weiteren Verbindungen entworfen und durchgesetzt - oder es sind keine Vorstellungen, die den Namen
Gegenkonzepte zu Recht tragen dürfen! Vielen Dank!
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