Was ist ein „reflektierender Praktiker Nach meiner Vorstellung ist ein reflektierender Praktiker ein Lehrer, der die Auswirkungen seines Handelns auf die Schüler evaluiert und aktiv nach Möglichkeiten zur Verbesserung und Professionalisierung seines Handelns sucht. Er ist bereit, seine durch Routinen verdichteten Wissensstrukturen aufzubrechen, neu zu reflektieren und zu bewerten, um sich neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dies wird ihm durch eine systemische Sichtweise und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel erleichtert. Nach Hilbert Meyer ist ein reflektierender Praktiker ein Mensch, der nicht alles für bare Münze hält, sondern nachschaut, ob er einer Selbsttäuschung verfallen sein könnte. Ein typisches, für erfolgreichen Unterricht besonders wicht iges Beispiel sind Täuschungen über die Ursachen fehlender Schüleraufmerksamkeit. Wir Lehrer suchen die Ursachen zumeist in der Person des Schülers. Ein reflektierender Praktiker bezieht jedoch auch seine eigenen Handlungen und die diese leitenden Vorstellungen, seine so genannten „praktischen Theorien“, in die Ursachenforschung mit ein. Im schulischen Alltag und besonders bei Disziplinkonflikten wird das Lehrerverhalten leider häufig durch unprofessionell getroffene Entscheidungen gesteuert: als spontane, intuitive, häufig emotionale Reaktion, die sich an denselben (häufig unbewussten) Leitlinien orientiert wie im Alltag. z. B. in der familiären Erziehungspraxis. Wer etwa jede Kritik als Angriff auf seine Persönlichkeit empfindet oder sich in seiner Rolle als Autoritätsperson gefährdet sieht, wird spontan mit heftiger Abwehr und Zurückweisung reagieren. Solche einer professionellen pädagogischen Praxis nicht angemessenen Interpretations- und Reaktionsmuster sind gekoppelt an tiefer liegende Grundüberzeugunge n und Werte, die sich — unausgesprochen und ungeprüft — in vielen Situationen als Hindernis für professionelles Handeln erweisen. Ein reflektierender Praktiker untersucht und prüft seine eigenen Überzeugungen im Hinblick auf seine Handlungsmöglichkeiten. Er versucht, seine Überzeugungen und Vorstellungen so zu verändern, dass sein Handlungsspielraum erweitert wird. Berufseinsteiger mit geringer Erfahrung bzw. Routinebildung und entsprechend hoher Uns icherheit neigen dazu, möglichst viele allgemeine Rezepte, Tipps und Tricks aus „Überlebenshandbüchern“ oder von erfahrenen Kollegen einzuholen, um für jede noch so unvorhersehbare Situation im Klassenraum gewappnet zu sein. Rezepte müssen einfach und übertragbar sein, deshalb basieren sie häufig auf einem techno logisch verkürzten Verständnis der pädagogischen Praxis, z. ‘1‘. mit fragwürdigem ethischen Hintergrund. Ein berühmt-berüchtigtes Beispiel hierfür ist das „Don‘t smile until Christmas“, eine in amerikanischen Kollegien weit verbreitete Empfehlung an Berufseinsteiger zu Beginn eines Schuljahres. Ein reflektieren der Praktiker untersucht Rezepte auf ihre ethischen Prinzipien und prüft, ob diese mit seinen Werten und seinem ethischen Code vereinbar sind. Der Erwerb spezieller Managementkenntnisse und -fertigkeiten (z. B. in Trainingsprogrammen oder Lehrerfortbildungen) erhöht sicherlich die Handlungskompetenz und hilft Berufseinsteigern beim Abbau von Ängsten, Unsicherheit und Ratlosigkeit. Der Aufbau von Routinen erhöht jedoch nicht zwangsläufig die Flexibilität. Gerade der Anfänger wird immer wieder vor neue Situationen und Probleme gestellt, auf die auch das beste Trainingsprogramm nicht vorbereiten kann. Ein reflektierender Praktiker prüft, ob die vermittelten Techniken zu seinen Überzeugungen und Werten sowie zu der jeweiligen Lerngruppe und zu der spezifischen Situation passen. Zudem versucht er, seine Selbstreflexionskompetenz zu verbessern, um flexibler in unerwarteten Problemsituationen handeln zu können. Das pädagogische Leitbild des reflektierenden Praktikers geht zurück auf Erkenntnisse von DONALD Sc der das professionelle Handeln von Praktikern untersuchte und dabei drei verschiedene Reflexions- bzw. Handlungstypen unterschied. Als Handlungsforscher (vgl. Feindt u. a. 1998) bezieht der reflektierende Praktiker wechselweise Aktion und Reflexion aufeina nder und erweitert so seine Handlungsmöglichkeiten. Der reflektierende Praktiker versucht also durch kontinuierliche Reflexion und Evaluation seiner Handlungen seine pädagogische Praxis weiter zu entwickeln und zu professionalisieren. Das Berufswissen soll dabei bewusst und systematisch an den eigenen praktischen Erfa hrungen aufgebaut und verbessert werden. Eine Reflexion der eigenen Werte, Überzeugungen, Vorstellungen und Erwartungen (»biografische Kompetenz“, vgl. MEYER 2001, S. 229) erfordert, dass die häufig unbewussten (impliziten) subjektiven Theorien erst einmal expliziert, d. h. bewusst gemacht werden müssen. Diese subjektiven Theorien können dann mit anderen subjektiven oder objektiven. d.h. wissenschaftlichen Theorien konfrontiert, geprüft und verändert werden (vgl. Schlee/Wahl 1987). Gegenüber einem bloßen Erwerb von kontextunabhängigen Managementfähigkeiten und fertigkeiten ist bereflektierenden Praktiker eher eine Kongruenz seiner Handlungen mit seinen persönlichen Werten und Überzeugungen gegeben, und, wichtiger noch, er ist flexibler hinsichtlich verschiedener Lerngruppen, Schülerpersönlichkeiten und unvorhersehbarer Ereignisse. Er passt als selbst „Problemlöser“ seine Managementstrategien den jeweiligen Situationen und den Bedürfnissen seiner Klientel an durch die Fähigkeit, neue und besser angepasste Verhaltensweisen zu generieren. Etwas überspitzt formuliert, ist er Feldforscherin sozialen System Lerngruppe und zugleich Experimentator im Labor Klassenraum. Seine Haltung gegenüber den Schülern und tendenziell auch sich selbst bzw. seinen Interaktionen gegenüber trägt demnach gleichermaßen Züge eines Ethnologen und eines Ethologen. Die „Ausbildung“ zum reflektierenden Praktiker umfasst drei wesentliche Aufgaben: ? Grundlegend ist der Erwerb von Techniken für die systematische Selbstreflexion. Damit können u. a. die den eigenen Handlungen zu Grunde liegenden unausgesprochenen Grundannahmen und Werte über Lehrer, Schüler, Schule und Unterricht aufgedeckt werden. ? Durch die Identifizierung und gezielte Veränderung limitierender subjektiver Theorien und Erwartungen sollen die Handlungsmöglichkeiten er weitert werden. ? Aus dem dabei entstehenden „pädagogischen Selbstkonzept“ (vgl. MEYER 2001, S. 236ff.) soll, quasi als ethische Richtschnur, eine eigene, konsistente Philosophie des Managements im Klassenraum entwickelt werden. aus: Lohmann, Gert: Mit Schülern klarkommen. Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten. Berlin: Cornelsen Scriptor 2003, S. 44-47
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