Utopisches Inferno trifft bittere Realität – Chaim Nolls Roman „Feuer“ Von Secilia Pappert Eine Großstadt steht in Flammen – irgendwo in Deutschland. Häuser stürzen ein, Brücken bersten, dicke Wolken aus Asche und giftigem Qualm verwandeln Straßen und Plätze in ein Labyrinth. Blechlawinen aus Autos verstopfen die Fluchtwege - die Fahrer sitzen tot am Steuer. Mit dem imaginären Fiasko einer Großstadt zeichnet Chaim Noll in seinem Roman „Feuer“ ein grandioses Weltuntergangsszenario. Keiner weiß, was passierte. Flog die örtliche Chemiefabrik in die Luft? - oder gar das Atomkraftwerk? Der Autor beginnt in rasantem Tempo, ebenso wie die Ereignisse scheint sich auch die Sprache fast zu überschlagen. Später wird es ruhiger - jedoch nie gemütlich. Ein Grüppchen Überlebender entkommt dem Inferno – doch sind sie alles andere als in Sicherheit. Verstört und ohne jedes Zeitgefühl irren sie durch die Gegend, fortan nur noch „der Wald“ genannt. Es ist eine wahllos zusammen gewürfelte Truppe, Menschen verschiedensten Alters, Herkunft und Status. Darunter ein Abiturient, eine Zahnärztin, ein Polizist, ein Staatssekretär, eine Jüdin aus gutem Hause, ein Pastor, ein Professor samt Gattin und auch ein altersschwacher Bischof. Nicht nur, dass die unfreiwillig Vereinten aufgrund unterschiedlicher Charaktere nicht harmonieren – auch scheinen sämtliche Gesetze und gesellschaftlichen Normen des menschlichen Zusammenlebens im „Wald“ außer Kraft zu sein. Es wird gemordet, vergewaltigt und gehurt - der Mensch wird zum Tier. Die handelnden Figuren sind dabei zunächst Fremde. Erst im Laufe der Geschichte bekommen „der mit der schwarzen Lederjacke“, „die mit den roten Haaren“ oder auch „der Penner“ einen Namen und eine Lebensgeschichte. Es ist wie im richtigen Leben – im ersten Augenblick helfen Äußerlichkeiten, andere Menschen „einzusortieren“. Chaim Noll führt vor Augen, wie sehr ein erster Eindruck trügen kann … Zugleich zeigt er, dass sich das Verhalten von Menschen im normalen Alltag gar nicht so sehr von dem in Extremsituationen unterscheidet. Die Ärztin, die nie die eigenen Bedürfnisse wahrgenommen hat, opfert sich auch jetzt als Helferin für die Verwundeten auf. Der Pastor, der früher als Gegner der eigenen Kirche durch die Talk-Shows tingelte und die dortigen Missstände anprangerte, bleibt auch im „Wald“ ein aufrechter Mensch. Und da sind auch die, die immer „mit dem Hintern an die Wand kommen“, die selbst vor Mord nicht zurückschrecken und ihr Fähnlein stets nach dem Wind drehen – egal ob vor, während oder nach einer Katastrophe. Die Gruppe im „Wald“ kämpft ums nackte Überleben - ohne Kontakt zur Außenwelt. In verlassenen Motels und Gasthöfen finden die Gestrandeten Nahrungsmittel und Wasser niemand weiß, ob sie noch genießbar sind - Seuchen drohen. Irgendwann finden sie den Ausweg. Doch entsetzt müssen die Geretteten feststellen, dass sich niemand für ihre Geschichte interessiert: Ein Unfall? Eine Katastrophe? Tausende Tote? – Nie gehört! Politiker und Medien schweigen, als sei nichts gewesen … Nach der fiktionalen Katastrophe wird es im zweiten Teil des Romans beängstigend real. Wenn keine Zeitung etwas über die Geschehnisse in der Stadt schreibt, in Talk-Shows über völlig ferne Themen diskutiert wird und auch die Radionachrichten kein Wort verlieren. Wenn die Maschinerie aus Politik und Medien alles dafür tut, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Noll gelingt auf mitreißende Weise das Psychogramm einer Gesellschaft. Zunächst im Kleinen anhand der Gruppe und dann im Großen, bei seiner gnadenlosen Abrechnung mit den Medien und der Politik. Mit „Feuer“ beweist Chaim Noll wieder einmal mehr sein großes Erzähl-Talent und seine ausgeprägte Stilsicherheit in der deutschen Sprache. Ein spannendes Buch, das im utopischen Inferno beginnt und in der gnadenlosen Realität von heute endet. Secilia Pappert, Leipziger Volkszeitung
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