SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Forum Buch Vom 05.06.2016 (17:05 – 18:00 Uhr) Redaktion und Moderation: Katharina Borchardt Mit neuen jüdisch-israelischen Büchern von: Eshkol Nevo, Liad Shoham, Etgar Keret, Mosche Ya' akov Ben-Gavriêl, Chaim Noll Eshkol Nevo: "Die einsamen Liebenden" Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer Verlag dtv 16,90 Euro (Rezension von Carsten Hueck) Liad Shoham: "Das Blut an euren Händen" Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch Verlag Dumont 9,99 Euro (Gespräch mit Thomas Wörtche) Etgar Keret: "Die sieben guten Jahre" Aus dem Englischen von Daniel Kehlmann Verlag S. Fischer 19,99 Euro (Rezension von Susanne von Schenck) Mosche Ya' akov Ben-Gavriêl: "Jerusalem wird verkauft" Arco-Verlag 22 Euro (Gespräch mit Christoph Schmälzle) Chaim Noll: "Schlaflos in Tel Aviv" Verbrecher-Verlag 21 Euro (Rezension von Claudia Kramatschek) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/literatur.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Eshkol Nevo: "Die einsamen Liebenden" Von Carsten Hueck Israel ist ein Einwanderungsland. Der Aufbau des Staates wurde vor mehr als hundert Jahren von russischen Juden in Gang gesetzt, die vor Pogromen im Zarenreich geflohen waren. Mit Beginn der Perestroika gegen Ende des 20. Jahrhunderts wanderten noch einmal Hunderttausende nach Israel aus. Das kleine Land nahm in dieser Zeit - mit einer Gesamtbevölkerung von nicht einmal 6 Millionen - mitunter täglich 1000 Neueinwanderer auf. Und hat das gut verkraftet.Heute machen Russen 20% der jüdischen Bevölkerung Israels aus. In der Gegenwartsliteratur des Landes kommt die Lebenswelt jener russischen Einwanderer der letzten Jahrzehnte jedoch kaum vor. Nur Alona Kimhi und Boris Saidmann – beide als Kinder mit ihren Eltern eingewandert - schreiben bislang darüber. Und nun überraschend: auch Eshkol Nevo. Autor 1 Zu Hunderttausenden verließen sie in den 1990er Jahren die zerfallende Sowjetunion und wanderten nach Israel aus: die russischen Juden, von denen der renommierte Autor Eshkol Nevo in seinem neuen Roman erzählt. Er selbst gehört nicht zu ihnen. Als gebürtiger Jerusalemer und Enkel eines ehemaligen Ministerpräsidenten ist er Teil des israelischen Establishments. Trotzdem kennt er das Gefühl der Heimatlosigkeit, sagt er: O-Ton1 Israel is a country of immigration, no Israeli is rooted. The longest, you know, the longest is you can get is two generations usually. That is the longest you can get. There is no one here like my colleague from the publishing house, who is 12 generations in the same small area between Germany and Austria. It doesn’t happen in Israel; really, really rare to find someone, who is rooted. So, it is about this. But it is also about something which is psychological like how you can feel lonely within like the name of the book in German, like ‘Einsame Lovers’. You can feel lonely while you were in a couple. And you can feel lonely while you are in your country, not an immigrator. Overvoice1 Israel ist ein Einwanderungsland. Kein Bewohner ist tief verwurzelt. Höchstens über zwei Generationen. Es geht uns anders als einem Mitarbeiter meines deutschen Verlages, dessen Familie seit 12 Generationen in der Grenzregion zwischen Bayern und Österreich lebt. So etwas kommt in Israel einfach nicht vor. Davon handelt meine Geschichte. Aber auch davon, was der Titel „Die einsamen Liebenden“ andeutet– es geht um innere Einsamkeit. Einsamkeit in einer Paarbeziehung. Einsamkeit in einem Land, obwohl man dort geboren ist. Autor 2 In Nevos neuem Roman treten zahlreiche Figuren auf. Viele davon sind russischer Abstammung, fast alle aber von außerhalb in den jüdischen Staat gekommen. Anton etwa folgt seiner Katja nach Israel, obwohl er selbst gar nicht jüdisch ist. Mosche Ben Zuk hat syrische Wurzeln. Er ist verheiratet, liebt seine Kinder und träumt von Ayelet, mit der er im Kibbuz einst die Liebe kennen lernte. Naim, ein israelischer Araber, dessen Mutter nach Mekka pilgerte, nennt sich Noam, und sucht Frieden beim Bird-watching in Costa Rica. Jeremiah Mandelsturm sitzt frisch verwitwet in New Jersey. Er stiftet im Angedenken an seine Frau einer kleinen Stadt im Norden Israels eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad - das dort allerdings niemand braucht. Es wird auf heiligem Boden errichtet - und unfreiwillig zum Beweis für den Humor Gottes, denn agnostische Rentner wie auch religiöse Eheleute entdecken dort ihre Sinnesfreuden wieder. Lustvoll beschreibt Nevo absurde Momente – ohne deren existentielleTragweite für seine Figuren zu leugnen. „Die einsamen Liebenden“ ist ein komischer und zugleich märchenhafter Roman. Inspiriert durch eine Entdeckung beim Spazierengehen. O-Ton2 Well, I ran into them. My father had an apartment in Russian neighbourhood, Russian neighbourhood, near Safed. In one of my walks, I saw that… they’re building this new building in the neighbourhood. So, I thought: What would the Major build for the Russian immigrants? Chess-club? A music centre? Maybe a library? But in the end, after nine months, I came to the place. I forgot about the whole thing, went to walk again. And then, I saw the building is there. And there is a little signs saying: It is a Mikwe. And this was hilarious…I was looking at this, laughing and I thought: This is so Kishon-like: building a Mikwe for Russian immigrants, who don’t care about Mikwes and also the women are old. So the whole idea of the Mikwe is not relevant, because it is purification after the period. So, it was so funny. I thought: I should write some kind of satire explanation to these phenomena. Overvoice2 Ich bin da so reingestolpert. Ich besuchte meinen Vater in der Nähe von Safed. Die ganze Nachbarschaft war russisch. Beim Spazierengehen bemerkte ich, dass ein neues Gebäude in der Gegend gebaut wurde. Ich fragte mich, was der Bürgermeister wohl für die russischen Einwanderer dort hinsetzen ließ. Einen Schach-Club? Ein Musikzentrum? Vielleicht eine Bibliothek. Nach einem Dreivierteljahr kam ich wieder an die Stelle, und sah, dass dort eine Mikwe stand. Das war urkomisch! Absolut Kishon-like. Man baut ein rituelles Tauchbad für russische Einwanderer, die sich um so etwas nicht scheren und deren Frauen alt sind. So dass eine Mikwe völlig sinnlos ist, denn dort reinigt sich eine Frau nach ihrer Menstruation. Ich fand das herrlich absurd und dachte, ich sollte über diesen Bau eine kleine Satire schreiben. Autor 3 Während sich die religiöse Bevölkerung in Nevos Romanwundert, dass die als areligiös verschrienen Russen ein rituelles Tauchbad in ihr Viertel bekommen, freuen sich diese, dass man sich endlich um sie kümmert. Ohne jedoch zu ahnen, was man ihnen vor die Nase setzt. Sie vermuten: ein Klubhaus, in dem sie Schach spielen, Tratsch und eingelegtes Gemüse austauschen können. Damit ist der Grundstein für jede Menge Aufregung gelegt. Zitat 1 „Es hieß, am Jom Kippur habe man aus den Häusern Musik gehört, und zwei Bewohner des Viertels hätten sogar draußen gegrillt. An Chanukka habe man keinen einzigen Chanukkaleuchter in den Fenstern gesehen, dagegen hinter einem Haus einen Weihnachtsbaum mit bunten Kerzen. Man behauptete, die Bewohner wären ehemalige Agenten des KGB, ins Land geholt, um die russischen Wissenschaftler abzuhören, die den Syrern bei der Entwicklung ihres Atomprogramms helfen. Dass kein einziger dort einen jüdischen Nachnamen habe. Und dass die Männer nicht beschnitten seien. Und dann plötzlich diese Anweisung, ihnen eine Mikwe zu bauen. Ausgerechnet ihnen.“ Autor 4 Nevo schreibt geradezu eine Shtetl Geschichte – bevölkert von Anti-Helden, Männern und Frauen, die die ganz normale israelische Gesellschaft abbilden. Sein Blick auf diese Menschen und ihre Marotten ist liebevoll. Tragik und Komik liegen in der Geschichte eng beieinander. Nevo, der in Israel auch erfolgreich „Creative Writing“ unterrichtet, gestaltet Szenen, die der jiddischen Literatur, oder den Filmen Woody Allens und Federico Fellinis entsprungen sein könnten. Erzählt wird multiperspektivisch. Und doch ähneln sich die Seelenlagen von Nevos Protagonisten: es geht um Einsamkeit und Sehnsucht, um unglückliche Liebe und das Bedürfnis verstanden zu werden, es geht – ganz traditionell – um die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Heimat und die Suche nach Gott. Nevo, der nicht-religiöse Autor, beschreibt mit großem Respekt, was Menschen dazu führt, sich für ein religiöses Leben zu entscheiden. Anders geht das nicht, musste er feststellen: O-Ton 3 So, when I started writing the process, I was so cynical and critical about it. It came out lousy. It was a lousy text with no empathy, just judgemental kind of writing. And so I stopped. I thought: I have to understand this. Let’s talk with people, who did it. Let’s try to see the beauty in it. So, this was the second stage. And I saw the beauty. I met with people; and I got convinced that for some people it is the best thing that could happen. And I wrote the text. But then, while writing, again, it made me define what is it, to be secular. Okay, this is religious; this is, what it gives to you. But I not. So, what are my morals, my standards? What are my ten commandments…, what is a sin to me, a secular Jew? In what point in this novel, I want, I would lead to a decision, in which someone will have to choose between the laws of the religion and the laws of the heart. Overvoice3 Am Anfang hatte ich ihnen gegenüber eine zynische Haltung. Das Ergebnis war ein lausiger Text. Ohne Einfühlungsvermögen und selbstgerecht. Ich fing noch mal an. Ich dachte, ich muss das verstehen. Muss mit den Leuten sprechen, die so einen Weg gegangen sind. Muss versuchen, das Schöne darin zu entdecken. Und das gelang mir. Ich sah den Reiz, ich sprach mit Religiösen und überzeugte mich, dass für einige von ihnen die Religion das Beste war, das ihnen passieren konnte. Und dann schrieb ich wieder. Aber währenddessen stellten sich auch wieder Fragen: was heißt eigentlich säkular? Was sind meine zehn Gebote? Was bedeutet für mich, den säkularen Juden, Sünde? Woher leite ich meine Moral ab? An welcher Stelle würde ich entscheiden, wie sich jemand zwischen den Vorschriften der Religion und den Gesetzen des Herzens zu entscheiden hat? Autor 5 „The Lost Solos“ heißt der Titel der englischen Übersetzung des Romans. Lost Solos – das sind Vögel, die ihren Schwarm verloren haben und die nicht wissen, in welche Richtung sie weiterfliegen sollen. Von ihnen lässt Nevo einen seiner Protagonisten, den arabischen Hobby-Ornithologen Naim, erzählen. Diese Vögel sind eine Erfindung des Autors – und stehen sinnbildlich für die Figuren des Romans, die an einem bestimmten Punkt ihres Lebens um sich schauen, ohne genau zu wissen, wie es weiter gehen soll. O-Ton 4 They begin lonely. They begin like lost solos, the birds without the flock. And then they are in search of belonging, of meaning, of meeting. I think they don’t end up at the same point they start. It doesn’t mean that there will be happy end for every love story, or for every search. But I think something happens. …There was some Tikkun as we are saying in Hebrew. Overvoice4 Sie beginnen alle einsam. Wie lost solos, Vögel ohne Schwarm. Und dann suchen sie nach Zugehörigkeit, nach Sinn, nach Gemeinsamkeit. Sie enden nicht am selben Punkt, von dem sie losgeflogen sind. Das heißt nicht, dass jede Liebesgeschichte oder jede Suche glücklich endet. Aber es passiert etwas. Auf Hebräisch sagen wir dazu „Tikkun“. Autor 6 „Tikkun“ ist ein Begriff aus der Kabbala. Er bezeichnet eine Art Heilung, eine Reparatur der Welt. Genau das ist dieser Roman: Ein Buch der Lebensfreude - trotz allem, was einem das Herz so schwer macht. Etgar Keret: "Die sieben guten Jahre" Mit dem Schreiben begann er aus Langeweile. Etgar Keret, 1967 im israelischen Ramat Gan geboren, verfasste seine ersten Seiten als 19jähriger während des Militärdienstes. „Großartig“, sagte sein älterer Bruder nach der Lektüre und beseitigte mit den beschriebenen Blättern einen Hundehaufen. Etgar Keret, mit seinen Kurzgeschichten und Drehbüchern inzwischen einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Israels, schildert diese Episode in seinem neuen Buch: „Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn.“ Susanne von Schenck hat sich mit Etgar Keret unterhalten. Autorin Etgar Keret ist ein kleiner Mann mit angegrautem, leicht lockigem Haar. Freundlich lächelnd sitzt er in einem Berliner Hotel und trinkt Tee. Er ist auf Lesereise. Vor ihm liegt sein neues Buch mit leuchtend gelbem Einband, auf dem ein Friedenstäubchen in einer Schleuder abgebildet ist. „Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn“ sei sein persönlichstes Buch, sagt der 49jährige, der in seiner Heimat Israel als Kurzgeschichtenerzähler und Drehbuchautor zu den bekanntesten Schriftstellern zählt. OT Familiäres voice over Die sieben Jahre im Titel sind die Jahre zwischen der Geburt meines Sohnes und dem Tod meines Vaters. Mit diesem Buch möchte ich davon erzählen, welche Bedeutung meine Familie in meinem Leben hat, sowohl als Schriftsteller als auch als Mensch. Autorin Es sei auch sein erstes nicht-fiktionales Buch, betont Keret. Und in der Tat, die sieben Kapitel des Bandes hat er je einem der sieben Jahre zugeordnet; es sind aperçuartige Geschichten, die eindeutig autobiographisch geprägt sind. Ausgangspunkt ist die Geburt seines Sohnes Lev, der während eines Terroranschlags in einem Krankenhaus zur Welt kommt. Das medizinische Personal dort kümmert sich vor allem um die Verletzten, die Geburt scheint nebensächlich. Mit einem Bombenalarm - sieben Jahre später - endet auch das Buch – und umreißt damit die düstere Realität des Staates Israel. „Im Mittleren Osten“, heißt es in einer Geschichte, sind sich „die Menschen ihrer Sterblichkeit stärker bewußt als an anderen Orten des Planeten“. Vom kleinen Lev und auch von Kerets Vater, der wie seine Mutter den Holocaust überlebte, ist viel die Rede. Sohn und Vater rahmen die 36 locker aufeinanderfolgenden Geschichten ein. Der Sohn kommt zur Welt, der Vater, an Zungenkrebs erkrankt, verlässt sie. Er stirbt, und mit seinem Tod enden die sieben guten Jahre. OT sieben Jahre voice over Die biblische Anspielung liegt auf der Hand. Als Josef (im Alten Testament) den Traum des Pharao mit den sieben fetten und sieben mageren Kühen hört, interpretiert er ihn dahingehend, dass auf die sieben Jahre voller Wohlstand sieben schwierige Jahre folgen werden. Für mich bedeutet es, dass ich nach diesen sieben Jahren nun ohne meinen Vater weiterleben muss Es ist ein Geschenk, das irgendwann weggenommen wird. Jeder kennt das, die Eltern werden älter, irgendwann verlieren wir sie. Autorin Schauplatz der meisten Geschichten ist Israel. Keret erzählt von unfreundlichen Taxifahrern, penetranten Telefonverkäuferinnen oder seiner ultraorthodoxen Schwester, die ein Kind nach dem anderen zur Welt bringt, jedoch keines der Bücher ihres Bruders lesen möchte. Auch von Lust und Leid seiner Lesereisen schreibt Etgar Keret, Momentaufnahmen, die sich unterhaltsam „weglesen“. Einige sind zum Brüllen komisch, weil Keret Situationen lakonisch auf den Punkt zu bringen versteht und als Erzähler selbst das Understatement pflegt. Manche Geschichten vergisst man schnell wieder, andere hingegen klingen lange nach. Zum Beispiel die Erzählung „Marmelade“. Die Geschichte spielt in Warschau. Dort besucht der Autor das Keret-Haus. Ein polnischer Architekt hatte die Idee, in eine winzige Baulücke ein Häuschen hineinzusetzen, das im übertragenen Sinn den Proportionen von Kerets Kurz- und Kürzestgeschichten entsprechen sollte. Verrückt fand der Schriftsteller das und maß dem Plan anfangs keine Bedeutung bei. Aber 2012 wurde dieses Miniaturgebäude tatsächlich mit ziemlichem Medienrummel eröffnet. Etgar Keret, der dort inzwischen schon mehrfach ein paar Tage gewohnt hat, erzählt in seinem Buch, wie ihn der Aufenthalt jedes Mal aufs Neue berührt. Denn das Haus steht genau an der Stelle, an der sich früher der Eingang zum Warschauer Ghetto befand. Kerets Mutter schmuggelte dort als Mädchen Brot hinein. OT Keret Haus voice over Meine Familie stammt aus Polen und wurde dort fast vollkommen ausgelöscht. Und nun existiert sie dort, in der Stadt, mit der sie eine lange Geschichte verbindet. Plötzlich gibt einen Raum, ein Schild mit unserem Namen. Das stellt Nähe her. Autorin Weil es so persönlich sei und er seine durchaus bekannte Familie vor möglichen Nachstellungen schützen wolle, sei das Buch nicht in Israel erschienen, sagt Etgar Keret. Er schrieb es zwar auf Hebräisch, ließ aber auch eine englische Übersetzung anfertigen. Diese war Grundlage für den Autor Daniel Kehlmann, der das Buch sehr gut lesbar, aber mit einigen kleinen Fehlern - zum Beispiel läßt er ein Flugzeug vermissen statt verpassen - ins Deutsche übertrug. Auch „Die sieben guten Jahre“ erzählt Etgar Keret mit Witz und schwarzem Humor, seinem stilistischen Markenzeichen. Situationen driften bei ihm leicht ins Absurde ab, die Grenzen zwischen Realität und Traum verfließen. Wie in der Geschichte „Gott behüte, dass es besser wird“. Darin fürchten Keret und seine Frau einen iranischen Atomschlag, was dazu führt, dass sie das Geschirr nicht mehr abwaschen, den Wasserschaden Wasserschaden sein lassen und einen riskanten Kredit aufnehmen. Zitator (101) „’Sollen sie doch kommen und uns zum Rückzahlen auffordern, wenn das ganz Land zu einem Loch im Boden geworden ist’, lachten wir, als wir wieder in unserem dreckigen Wohnzimmer saßen und auf unseren enormen neuen Plasmafernsehen blickten. Wäre es nicht herrlich, wenn es uns wenigstens einmal in unserem kurzen Leben gelingen würde, die Bank zu übervorteilen?“ Autorin Immer wieder bürstet Etgar Keret die „guten Jahre“ gegen den Strich: mit Bombenalarm, Selbstmordattentätern, Aggressionen und drastischen Gesprächen über atomare Katastrophen und Kriege. Aber auch viel Zärtlichkeit und Liebe zu seinem Sohn, zu seiner Familie sowie das Wissen um die Endlichkeit des Daseins spiegeln sich in diesen Aperçus wieder. Und immer wieder klingt durch, wie sehr er seine Stadt Tel Aviv mag – und welche Sorgen er sich angesichts der Zukunft Israels macht, wo die Orthodoxen sich immer mehr radikalisieren. OT frustriert voice over Ich wuchs in einem Land auf, das von Kriegen beherrscht ist: Da ist der von 1967, als ich geboren wurde, der von 1973, als ich in die Schule kam, und 1982, während des Libanon-Krieges, ging ich zur Highschool. Das war für mich aber nie eine Gefahr, sondern Teil meines Lebens und meiner Landschaft. Aber dass jetzt in meinem Land nicht mehr auf Argumente mit Argumenten eingegangen wird, sondern mit Drohungen, das habe ich nicht erwartet. Autorin Etgar Keret wünscht sich, dass die demokratisch-liberale Richtung in seinem Land wieder mehr Gewicht bekomme. Diese Gedanken durchziehen, bei allem Persönlichen, unterschwellig auch sein Buch „Die sieben guten Jahre“. Chaim Noll: "Schlaflos in Tel Aviv" Den einen gilt er als brillanter Beobachter, den anderen als scharfzüngiger Abtrünniger: Die Rede ist von Chaim Noll, der 1954 in Ostberlin als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll zur Welt kommt, 1983 nach West-Berlin ausreist – und 1991 nach Israel übersiedelt. Dort lebt er in den Weiten der Negev-Wüste und unterrichtet nicht zuletzt deutsche Literatur an der Universität Be’er Sheva. Im kleinen in Berlin ansässigen Verbrecherverlag ist nun ein neuer Erzählband von Chaim Noll erschienen: „Schlaflos in Tel Aviv“. Claudia Kramatschek hat den Autor in Berlin getroffen und stellt das Buch vor. Chaim Noll zu begegnen, ist wie ein Blick in ein offenes Geschichtsbuch: 1954 in Ost-Berlin geboren, lebt er heute in Israel. Auf seinem Kopf sitzt die Kippa; 1998 erhielt er die israelische Staatsbürgerschaft. Aus seinem Mund aber erklingt noch immer der Berliner Dialekt eines Mannes, dessen Leben in bewegender Weise aufgespannt ist zwischen West und Ost, Deutschland und Israel. In dieses Leben geben nun auch die Erzählungen Einblick, die Chaim Noll in seinem neuen Band „Schlaflos in Tel Aviv“ zusammengestellt hat. Sie umfassen die Jahre 1987 bis 2015 und somit eine Spanne von beinahe 30 Jahren. Nolls Stil – sein klarer, prägnanter, von allem Überflüssigen entschlackter Duktus – hat sich über all diese Jahre nicht verändert. Verändert aber haben sich seine Sujets und die damit einhergehenden Stimmungen, die seine Geschichten erzeugen. Die frühen Erzählungen verstrahlen noch etwas Düster-Bedrückendes, arbeiten aber auch mit MärchenhaftPhantastischem: „Idylle“ etwa handelt von einer Nervenklinik in Israel, in der die Insassen – man weiß nicht, sind es Holocaust-Überlebende – sich allabendlich um den einzigen Telefonautomaten der Anstalt scharen, mit dem sie Kontakt aufnehmen zu dem Leben, das sie am anderen Ende der Welt hinter sich gelassen haben. In „Schwarze Hunde“ dagegen hadert ein deutsch-jüdischer Schriftsteller mit seinem deutschen Verleger, da die Bücher, die er schreibt, eigentlich keine Leser mehr finden: Zitat 1/Sprecher: Ich schreibe Bücher, für die es keine Leser gibt. Die, die sie lesen könnten, wurden nicht geboren. Ihre Eltern wurden vorher umgebracht. Doch dann erscheint ihm eine Muse – die einen sofort an die zu ihren Lebzeiten gerne in orientalischen Gewändern auftretende, deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler denken lässt – und verhilft ihm zu neuem Erfolg. Zitat 2/Sprecher: Auf ihren Rat kaufe ich mir Brokat und Satin und lasse mir lange Mäntel nähen. Aus meinem Haushalt verschwindet das wenige, was mich noch gestört hat, Elektroartikel, Kühlschrank, Radio. Abkehr vom Außen, Einkehr nach Innen: Immer wieder scheint in diesen frühen Erzählungen auch die Frage auf: Wer bin ich, wie will ich leben, als Jude? Für Chaim Noll – erst ein Deutscher mit jüdischen Wurzeln, nun ein Israeli mit deutschen Wurzeln – ist diese Frage inzwischen beantwortet: O-Ton 1/Chaim Noll: In Israel bin ich einfach auf eine ganz normale Weise jüdisch, indem ich dort Staatsbürger bin. Aber dann beschäftigt einen die Frage: Was soll dieses Land, was wird mit diesem Land, wie entwickelt es sich? Von der Entwicklung Israels und den damit einhergehenden politischen wie völkerrechtlichen Herausforderungen handeln mehrere Erzählungen jüngeren Datums. „Nachbarn“ schildert die zufällige Begegnung eines jüdischen Israeli und eines christlich-maronitischen Libanesen während einer Zugfahrt. Fassungslos lauscht der Israeli dem Libanesen, aus dem ungebrochener Hass auf die Hisbollah spricht: Zitat 3/Sprecher: Ihr müsst sie zerschlagen«, sagte er wieder und sah mich an, aus den dunklen Tiefen seiner dattelfarbenen Iris, mit einem Starren, einer Härte, einer Unbeirrbarkeit, dass ich nickte wie unter einem Bann. »Ihr müsst sie richtig kaputtmachen. Alles, ihre Bunker, ihre Raketendepots, ihre Trainingslager. Sie sind das Böse … « In der Erzählung „Völkerrecht“ aus dem Jahr 2015 rechtfertigt eine aus Deutschland stammende konvertierte Jüdin die israelische Siedlungspolitik aus ihrer Sicht. In „Barfuß in Crocs“ denkt der Ich-Erzähler – in dem man den überzeugten Zionisten Chaim Noll vermuten könnte – auf dem Flug von Tel Aviv nach Berlin über die Geschichte des Zionismus nach. O-Ton 2/Chaim Noll: Darunter versteht man ja die Sehnsucht nach Zion, also nach Jerusalem und Israel, die Idee, in diesem Land zu leben. Das ist eigentlich seit der babylonischen Diaspora unverändert, auch in allen jüdischen Schriften. Aber es hatte natürlich Wellen verschiedener Teilnahme und größeren oder geringeren Engagements gegeben. Und besonders dann im 19ten Jahrhundert einen säkularen Zionismus, den es vorher nicht gab – da gab es immer nur religiösen Zionismus. ... Und damit sind wir eigentlich immer noch beschäftigt – und auch in allen Spielarten durch die Geschichte bis heute uneins. Nicht nur „Barfuß in Crocs“, auch weitere Erzählungen spielen zwischen Berlin und Tel Aviv. Zu Tel Aviv hat Chaim Noll – der in der menschenleeren Wüste Negev lebt – ein eher gespaltenes Verhältnis; der titelgebenden Erzählung merkt man das an. Was Berlin anbelangt, so registriert nicht nur der Ich-Erzähler in mehreren Erzählungen verwundert, dass es junge Israelis plötzlich wieder vermehrt in jene Stadt zieht, die einst die Kapitale der Nazis war. O-Ton 3/Chaim Noll: Bis 1989 war Berlin eher eine heimgesuchte Stadt. Andererseits ist es eben für junge Israelis sehr interessant, besonders für solche, die deutsche Vorfahren hatten. Und da spielt dann auch die Sprache eine Rolle und die Vorgeschichte, die in Israel dummerweise von den frühen Kibbuzniks unterdrückt worden ist. Die haben nicht mehr deutsch gesprochen, die haben so getan, als wären sie in der Stunde Null, und haben versucht, die Jahrhunderte deutsch-jüdischer Vorgeschichte zu verdrängen und zu verleugnen. Und die Kinder kommen nun doch dahinter, dass da irgendwas Interessantes ja vorher schon war. Und diese Generation: sagen wir mal die Enkel und Urenkel derer, die in den Holocaust verwickelt waren – die lösen das Problem auf die natürlichste und angenehmste Weise, die es gibt, indem sie sich einfach wie Menschen begegnen und dann eben auch miteinander leben, ganz normal wieder. Einige Erzählungen – so etwa „Tod eines Ikonenhändlers“ – liefern ein lebhaftes Bild der Stadt aus jener Zeit, als Berlin nach Kriegsende erst ein Ort gestrandeter und zwielichtiger Charaktere war, dann eine geteilte Stadt mit Stasispitzeln und Verrätern. Und natürlich geistern durch alle Geschichten die Namen jener, die sowohl Berlin als auch Deutschland einst zu geistiger und kultureller Größe verholfen haben: Juden allesamt, allesamt vertrieben seinerzeit, wenn nicht gar ermordet. Chaim Noll ist daher nicht allein ein Chronist dieser deutsch-jüdischen Tradition. Sein Werk versteht er vielmehr als deren dringend nötige Fortsetzung. O-Ton 4/Chaim Noll: Das ist auch der Grund, warum ich wieder deutsch schreibe. Es hat eine Zeit gegeben, wo ich nicht mal mehr deutsch gelesen habe. Ich habe versucht, mich von der Sprache abzuwenden, und dann gemerkt, dass es nicht geht und auch nicht sinnvoll ist. Denn es gibt eine grandiose deutsch-jüdische Kultur, bis eben die Nazis kamen. Und wir müssen etwas dafür tun, dass es wieder deutsch-jüdische Literatur gibt. Ich halte das einfach für eine Verpflichtung gegenüber der großartigen Vorgeschichte. Chaim Nolls Band „Schlaflos in Tel Aviv“ liefert insofern ein breit gestecktes Geschichtskaleidoskop, das Aspekte deutsch-jüdisches Lebens ebenso erhellt wie Aspekte der israelischen Gegenwart. Vor allem aber erweist sich Chaim Noll erneut als begnadeter Stilist: Man legt den Band nur ungern aus der Hand.
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