Glaubenssachen -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Sonntag, 26. Februar 2017, 08.40 Uhr Selbstmäßigung – eine große und seltene Kunst Was wir gewinnen, wenn wir auch mal verzichten können Von Wilhelm Schmid Redaktion: Florian Breitmeier Norddeutscher Rundfunk Religion und Gesellschaft Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22 30169 Hannover Tel.: 0511/988-2395 www.ndr.de/ndrkultur - Unkorrigiertes Manuskript Zur Verfügung gestellt vom NDR Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. 2 Fasching feiern, noch einmal sich austoben, dann folgt die Zeit der Mäßigung, des Verzichts. Hat das etwas mit uns zu tun? Maßlos erscheint vielen die Zeit, in der wir leben, maßlos sind die Anderen, vor allem die, die viel Geld haben, die sollen sich mäßigen. Alles richtig, aber könnte es dennoch auch um eine Selbstmäßigung gehen? Gehen wir einfach mal einkaufen, eine Standardsituation des modernen Menschen. Wären wir mit Sokrates unterwegs, könnten wir wie er einst 400 v. Chr. beim Gang über den Markt von Athen sagen: „Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche!“ Einige brauchen wir dann aber doch. Welche genau? „Was soll ich tun?” Das ist die alte ethische Frage. Die neue heißt heute: „Was soll ich einkaufen?“ Die moderne Kultur des 21. Jahrhunderts suggeriert uns die Antwort darauf: Alles, was nur irgendwie verfügbar ist. Es ist nicht einfach, dem zu widerstehen, es kostet vielmehr die Kraft eigener Überlegung. Die bewusste Lebensführung, die Lebenskunst, zeichnet sich dadurch aus. Was daraus wird, kommt jetzt beim Einkaufen zum Vorschein. Jetzt liegt es allein in meiner Macht, wofür ich Geld ausgebe. Natürlich wissen das auch die Produzenten und Verkäufer auf der anderen Seite, die mein Geld haben wollen und mir dafür Produkte vor Augen stellen, im Supermarkt nach dem Eingang immer rechts beginnend, entgegen dem Uhrzeigersinn, denn Forschungen haben gezeigt, dass die Menschen lieber so herum gehen. Das große Spiel fängt an: Ich stehe vor dem Kühlregal und will Joghurt einkaufen. Aber welchen? Es gibt mindestens 10 verschiedene. Ich muss mich entscheiden. Es gehört zu den Besonderheiten der Lebensführung in moderner Zeit, dass Fragen der Ernährung von jedem einzelnen Menschen stets neu zu entscheiden sind, nachdem religiöse, traditionelle und konventionelle Antworten darauf an Verbindlichkeit verloren haben: Die moderne Freiheit durchquert den Magen des Selbst. Einst mussten Menschen froh sein, überhaupt etwas zu essen zu bekommen, bestenfalls gehörte eine einzige Sorte von Joghurt dazu. Die moderne Kultur brachte eine Befreiung von diesen bedrückenden Zuständen. Eine große historische Errungenschaft ist die weitgehende Befreiung moderner Gesellschaften vom Hunger, aber wie jede Befreiung führt auch diese nicht von selbst schon zu Formen der Freiheit: 10 Sorten Joghurt, und jetzt? Von den Nahrungsmitteln, die im Übermaß zur Verfügung stehen, wird zunächst im selben Übermaß, wahllos und unreflektiert, Gebrauch gemacht, mit einigen Konsequenzen, die sich daraus für den Körper ergeben, vor allem für den Körperumfang. In dieser Situation habe ich eine erste, grundlegende Wahl zu treffen: Mich gänzlich ignorant gegen Ernährungsfragen zu verhalten oder mich kundig zu machen, denn immerhin geht es um die Ernährung des eigenen Körpers, wenn nicht auch noch die Ernährung von Anderen, noch dazu Kindern. Als Epoche der Freiheit ist die Moderne zwangsläufig eine Epoche der Wahl; als solche ist sie für die Individuen tagtäglich erfahrbar. Man kann sagen, dass dies in der Moderne selbst zu einer Notwendigkeit geworden ist: Wählen zu müssen. Das erste Dilemma der modernen Wahlfreiheit besteht darin, dass die Wahlfreiheit zum Wahlzwang wird. Mit den Möglichkeiten wachsen die Zwänge der Wahl, und damit sind noch nicht die Zwänge gemeint, die zu einer bestimmten Wahl hin drängen: Eigentlich gibt 3 es 1000 Joghurts, aber jemand möchte, dass ich nur diese 10 vorfinde, alle von einer Firma. Ich könnte fragen, wo die anderen 990 sind, könnte mich dann aber definitiv nicht mehr entscheiden. Mit der größeren Wahlfreiheit wird der Verdruss größer, ständig wählen und dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. Selbst wenn ich die Wahlmöglichkeiten negiere oder ignoriere, ändert dies nichts daran, dass sie existieren. Entscheide ich mich dafür, einfach nicht zu wählen, muss ich auch diese Entscheidung erst treffen, mit fatalen Folgen, denn in der Epoche der Wahl ist auch die Nichtwahl eine Wahl: Wenn ich nicht wähle, muss ich ohne Joghurt nachhause gehen. Und was esse ich dann? Dann muss ich schon wieder wählen. Der Erfahrung, wählen zu müssen, korrespondiert diejenige, es doch nicht zu können – zweites Dilemma der modernen Wahlfreiheit: Die moderne Kultur hat sich zwar aufopfernd um eine Ausweitung der Möglichkeiten, nicht aber um eine Ausbildung des Könnens bemüht, wie das geht, eine Wahl vorzubereiten und zu treffen. Mit der Idee der Wahlfreiheit ist schlicht auch die Aufgeklärtheit und Mündigkeit vorausgesetzt worden, die nötig ist, um eine eigene Wahl zu treffen, aber damit ist die Wahl, wenn es denn eine gibt, keineswegs schon von selbst getroffen. Welcher Joghurt ist denn nun der richtige für mich? Sollte ich mich für mehr Bewusstheit und Überlegung entscheiden, muss ich mich eingehender mit Joghurt befassen. Zu allem Überfluss werden nach der Wahl, wenn sie mir demnächst gelingen sollte, die Probleme noch größer, denn jede Realisierung einer Möglichkeit bedeutet, auf die Realisierung anderer Möglichkeiten verzichten zu müssen. Dieses dritte Dilemma der modernen Wahlfreiheit ist eine besonders schmerzliche Erfahrung in einer Epoche, die eine solche Vielzahl an verlockenden Möglichkeiten bietet, dass die Versuchung nahe liegt, sie alle realisieren zu wollen. Da dies das einzige ist, was nicht möglich ist, bedeutet jede Wahl Verzicht, und das ist schmerzlich. Was heißt das für den Joghurt? Einer muss es sein! Der Rest ist Verzicht. Wenn ich mit Überlegung und Abwägung nicht weiterkomme, hilft nur eine willkürliche Entscheidung: Ich greife blind ins Regal. Wenn ich schon, anders als einst Sokrates, an der Unzahl von Dingen nicht vorbeikomme, bleibt mir nichts Anderes übrig. Eine kluge Vorgehensweise aber berücksichtigt die verschiedensten Aspekte der Ernährung, um sie abzuwägen und einzuschätzen, Sensibilität zu gewinnen, auch das verfügbare Wissen heranzuziehen, ohne dabei Wissenschaft mit letzter Gewissheit zu verwechseln, denn morgen wird es vielleicht schon wieder neue Erkenntnisse geben. Was ist das also für ein Joghurt, den ich hier mitnehme, braucht ihn mein Körper oder nicht? Welcher Joghurt birgt welche Inhaltsstoffe, und wie werden sie produziert, konserviert, bearbeitet, verpackt und transportiert? Denn der Joghurt hat erwünschte oder unerwünschte Konsequenzen nicht nur in meinem Körper, sondern auch am Ort seiner Produktion und auf dem Weg zu mir. Mit seiner Aufnahme in mich gehe ich eine intime Beziehung zu seiner Herkunft, zu den Bedingungen von Produktion und Transport ein. Die sozialen Bedingungen der Arbeitsverhältnisse oder die ökologischen Bedingungen einer Freisetzung von Schadstoffen bei Herstellung und Transport wirken auf direkte oder indirekte Weise auf meine eigenen Lebensbedingungen zurück. 4 Wenn wirklich, wie es heißt, die Liebe durch den Magen geht, dann gilt dies auch für die Liebe zu mir selbst: Der Joghurt kann mir nicht egal sein. Die Ernährung ist ein Ausdruck der Selbstbeziehung, ein intimer Akt, den ein Mensch tagtäglich mit sich vollzieht – intimer noch als die zeitweilige innige Berührung eines anderen Menschen beim erotischen Akt, denn es geht um eine dauerhafte Verschmelzung mit dem, was ich „zu mir nehme“. Stoffe und Materialien nehme ich tief in mich auf, sie durchwandern den Körper von oben nach unten, sondern ihre Substanzen ab und vermischen sich mit den Säften des Körpers. Beim Joghurt denken viele, entscheidend sei die Frage der Geschmacksrichtung, aber genau das kann in die Irre führen. Denn jeder Geschmack, der nicht zum Joghurt selbst gehört, muss künstlich erzeugt und haltbar gemacht werden. Das geht nicht ohne Mittel und ihre Folgen: Das zentrale Problem moderner Ernährung sind Zusatzstoffe, chemische Farbstoffe, Konservierungsstoffe, Geschmacksverstärker, auch „Fruchtzubereitungen“, die wiederum zugesetzter Aromastoffe bedürfen, immer mit der Gefahr, dass das Immunsystem des Körpers davon irritiert wird und allergisch darauf reagiert. Eine mögliche Antwort wäre die Mäßigung meiner Ansprüche, um in Anlehnung an Sokrates zu sagen: „Wie viele Joghurts gibt es doch, die ich nicht brauche!“ Das ist ein banales Beispiel, wenngleich sehr bedeutsam für den Alltag. Es lässt sich auch auf eine weniger banale, fraglos existenzielle Entscheidung fürs ganze Leben beziehen, nämlich: Mit wem soll ich durchs Leben gehen? Sicherlich, es gibt Unterschiede: Menschen stehen nicht zur Wahl wie Joghurtbecher. Sollte man jedenfalls meinen. Im Internet aber vielleicht doch. Die Liebe und der Joghurt: Das ist ein noch zu wenig erforschtes Thema. Vielleicht kann die Joghurt-Erfahrung helfen, in der Liebe weiterzukommen: Muss ich alle Angebote wahrnehmen, die auf dem Markt sind? Sind alle Angebote auf dem Markt? Weiß ich, was ich wirklich brauche? Brauche ich künstliche Aromen und Fruchtbeimischungen oder genügt mir der natürliche Geschmack? Sollte ich außer den gefühlten Impulsen, denen ich vielleicht allzu bereitwillig folge, auch einige Informationen berücksichtigen, bevor ich eine Entscheidung treffe? Muss ich mit dem Anderen alles erleben, wovon ich träume, oder kann es auch nur ein Teil davon sein? Erfahrungsgemäß wachsen die Chancen der Liebe mit der Mäßigung der Ansprüche an den Anderen. Dazu animieren könnte die Einsicht, dass ich selbst dessen Ansprüchen ja auch nicht restlos genügen kann. Anders als der Joghurt, dessen Genuss selten ekstatisch ausartet, braucht die Liebe noch dazu eine Fähigkeit zur Ekstase, um einige ihrer Möglichkeiten auszuschöpfen, zumindest manchmal. Ähnlich wie der Joghurt erfordert die Liebe jedoch auch eine Fähigkeit zur Askese, eine Fähigkeit zum Verzicht auf Möglichkeiten, jedenfalls gelegentlich, um beispielsweise nicht ständig den sexuellen Trieben folgen zu müssen, die immer neue Wünsche hervortreiben, zuhause und anderswo. Der Verzicht ermöglicht, damit leben zu lernen, dass nicht immer alle Wünsche in Erfüllung gehen können, schon weil ein anderer Mensch andere Wünsche hat und weil er, wie ich selbst, nicht zur bloßen Wunscherfüllungsmaschine degradiert werden will. Unverzichtbar ist der Verzicht nicht unbedingt aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen der Lebbarkeit: Die Konzentration auf die Realisierung weniger Möglichkeiten 5 intensiviert das Leben und die Liebe und verhindert eine Zerstreuung der Kräfte. Abhängig ist das nur von einer Einübung in die Zurückhaltung, mit der auf der eigenen Seite ein Spielraum der Freiheit entsteht, der im Gegenzug auch dem Gegenüber mehr Freiraum verschafft. Ohne Erwartungsdruck kann der Andere nun darauf warten, dass sein eigenes Begehren sich wieder bemerkbar macht. Wenn er wahrnimmt, dass ich so sehr auf ihn eingehe, ist er auch eher bereit, seinerseits mir wieder entgegenzukommen. Mit asketischer Hilfe wird die zeitweilige Distanz zueinander besser erträglich, in der die Anregung und Erregung neuen Atem schöpft: Die Unlust ist die natürliche Auszeit der Lüste, in der sie sich erholen können, sofern sie nicht ständig zur Wiederholung gezwungen werden, die ihre Intensität abschwächt. Askese ist die Vorbereitung zur Ekstase, und je länger die asketische Selbstbegrenzung durchgehalten wird, desto heftiger fällt auch wieder die ekstatische Entgrenzung aus. Wir gewinnen viel, wenn wir auch mal verzichten können. Mit der Mäßigung des Begehrens können sich erfahrungsgemäß auch andere Ebenen der Beziehung besser entfalten, sodass diese, wie das im 21. Jahrhundert so schön heißt, „breiter aufgestellt“ ist. Mäßigung heißt, auf ein Maß zu achten. Das ist nicht einfach. Wie schwierig es ist, das richtige Maß zu treffen, erweist sich daran, dass es stets aufs Neue verfehlt wird, meist nach wechselnden Seiten hin. In den Versuchen, alles richtig zu machen, erinnert ein Mensch an einen Betrunkenen, der mal links und mal rechts in den Straßengraben fällt, sich auf diese Weise aber, statistisch gesehen, genau in der Mitte der Straße hält. Oder, wie Aristoteles, der Denker des Maßes, im 4. Jahrhundert v. Chr. nüchtern meinte: Es sei unvermeidlich, „gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen“. Im Wanken zwischen Übermaß und Untermaß, zwischen Übertreibung und Untertreibung ist das Maß erst zu finden, das als das angemessene erscheint. Das heißt für uns: Mal zuviel Joghurt mit Geschmack, mal zuwenig, mal zuviel Nähe in der Liebe, mal zuwenig. Zu keinem Zeitpunkt ist der Prozess des Zuviel und Zuwenig abgeschlossen, immer handelt es sich um eine Pendelbewegung wie beim Atmen, das auch für das Leben und die Liebe so typisch ist. Die christliche Kultur war von ihren Anfängen an allerdings darauf angelegt, jedes exzessive Zuviel zu vermeiden. Übermaß und Übertreibung sollten gar nicht erst vorkommen. Der erste in einer langen Reihe von Kirchenvätern, Clemens von Alexandrien, forderte im 2./3. Jahrhundert n. Chr. Überlegung und Zurückhaltung bei den Lüsten des Essens, Trinkens und der Aphrodisia. Einfach und anspruchslos sollte alles sein, Schwelgereien hatten im christlichen Leben keinen Platz. Etwas Genuss, ja, aber maßvoll. Clemens ging da sehr ins Detail, plädierte für schmackhaftes Vollkornbrot als Grundnahrungsmittel, fand ein wenig Wein am Abend für Ältere statthaft, zumal im Winter, da sonst die Lebenswärme erkalte, und den sexuellen Lüsten sollte man sich nicht in solchem Maße hingeben, „als wäre man nur für den Geschlechtsverkehr geschaffen worden“. Alle christliche Kultur konnte freilich nichts daran ändern, dass Menschen Exzesse liebten, aus diesem Grund konnte sie gegen die Tradition des Faschings, der Fastnacht, des Karnevals nicht ankommen. Darauf sollte jedoch die Askese folgen, eine 6 Zeit der Zurückhaltung und sogar der Enthaltsamkeit, mit Berufung auf Jesus und sein Fasten in der Wüste. Letzten Endes ist es trotz allem der Einzelne, der sein eigenes Maß zwischen Zuviel und Zuwenig finden muss. Das Maß, um das es in seiner persönlichen Lebens- und Liebeskunst geht, steht nicht von vornherein fest; es kann, je nach Situation und Konstitution, auch ein Über- oder Untermaß damit gemeint sein. Nur die Verausgabung, die das extreme Übermaß liebt, lässt sich kaum auf Dauer leben – aufgrund von Erschöpfung ist auch sie auf ein Atemholen angewiesen, das im zeitweiligen Verzicht geschieht. Ebenso wenig lebbar dürfte die Leidenschaftslosigkeit sein, die jedes Übermaß flieht – sie bedarf der gelegentlichen Belebung in einer Aufwallung. Möglich wären interessante Überkreuzungen, wie etwa der asketische Exzess: Durch die Übung des Verzichts den nachfolgenden Genuss zu vervielfachen. Oder die exzessive Asketik: Mit dem Verzicht auf Vieles und einer Reduktion auf Eines sich nur noch diesem Einen zu widmen und es in höchster Intensität zu erfahren. Es könnte dabei einen untergründigen Bezug zu den eigenen Vorstellungen vom Leben geben, insbesondere zur Frage nach Sinn, von der Menschen in der modernen Kultur immer häufiger umgetrieben werden. Was hat Mäßigung mit Sinn zu tun? Die Frage nach einem Maß für das eigene Selbst ist zugleich eine Frage nach dem Sinn: Was erscheint mir sinnvoll, was nicht? Um das, was sinnvoll erscheint, auszuwählen und festzulegen, Anderes nachrangig zu behandeln, dazu sind in moderner Zeit Experimente nötig. Abweichend von Sokrates könnte ich mir also sagen: „Wie viele Dinge gibt es doch, die ich mal ausprobieren sollte“. Um mich dann auf etwas festzulegen und mich auf etwas zu konzentrieren, statt vieles oder alles haben zu wollen, mich in meinen Ansprüchen zu begrenzen und mich nicht irgendwie zu verhalten, sondern der eigenen Haltung und dem Verhalten Formen zu geben und Grenzen zu setzen. Alles ist möglich? Ja, das ist der verführerische Spruch der Moderne, aber sich auf alles einzulassen hieße, nichts mehr zustandezubringen. Das geht auch anders, und wir können dabei die Gewissheit haben: Jede Art unseres Verhaltens wirkt zurück auf die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Zeit, in der wir leben. Wenn wir unsere Zeit mäßigen wollen, sollten wir selbst zur Mäßigung in der Lage sein. Dass dies bislang eine große und seltene Kunst ist, könnte eine willkommene Herausforderung darstellen. Sollte es uns aber nicht auf Anhieb gelingen, sie zu bewältigen, sollten wir nachsichtig mit uns selbst sein: Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte mussten so viele Menschen mit so viel Überfluss zurechtkommen. Nie musste das gelernt werden, und bis wir es erlernen, wird einige Zeit vergehen, es wird vielleicht mehrere Generationen dauern. Zu einem größeren Problem wird das allerdings beim Umgang mit ökologischen Ressourcen, die es scheinbar im Überfluss gibt. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns hier noch fürs Erlernen der Selbstbegrenzung zur Verfügung steht. In einer solchen Situation wäre es sicherlich klug, es nicht darauf ankommen zu lassen. Aber auch hier lernen wir wohl nur durch Erfahrung, und das heißt in der Regel, durch schmerzliche Erfahrung. Wer letztere scheut, setzt auf Überlegung und Abwägung. Andere tun das nicht unbedingt, das ist misslich, aber das ist ja auch beim Joghurt und in der Liebe so. *** 7 Zum Autor: Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Umfangreiche Vortragstätigkeit, seit 2010 auch in China und Südkorea. www.lebenskunstphilosophie.de Buchpublikationen: Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. Sexout. Und die Kunst, neu anzufangen, 2015, Insel Verlag.
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