Professor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz
Vorlesung Staatsrecht II – Grundrechte
§ 11 Allgemeiner Gleichheitssatz und besondere Gleichheitsätze
I.
Allgemeiner Gleichheitssatz
Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich.
Mensch ist jede natürliche oder juristische Person mit Ausnahme von juristischen Personen
des öffentlichen Rechts, die sich allerdings auf den allgemeinen Gleichheitssatz berufen können, soweit er im Zusammenhang mit anderen, ausnahmsweise anwendbaren Grundrechten
steht (z. B. wissenschaftsrelevante Ungleichbehandlung einer Universität).
Der Prüfungsumfang ist im Übrigen – vergleichbar Art. 2 Abs. 1 GG – universell, erfasst also
prinzipiell jedwedes relationierbare Verhalten. 1
1.
Ungleichbehandlung
Der Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GG ist betroffen bei
-
einer Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem oder
-
nach inzwischen herrschender, obgleich nicht unbestrittener Auffassung auch: bei der
Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.
Um eine Ungleichbehandlung zu begründen, müssten Personen, Personengruppen oder Sachverhalte vergleichbar sein, aber rechtlich unterschiedlich behandelt werden (bzw. vice versa).
Bezugspunkt ist der gemeinsame, gruppenbildende Oberbegriff (genus proximum), von dessen angemessener Definition freilich die weitere Prüfung abhängt.
Beispiel: Helmpflicht für Motorradfahrer und Mopedfahrer.
1.
Wäre die Obergruppe „Verkehrsteilnehmer“, läge eine Ungleichbehandlung in Bezug z.
B. auf Rad- und Autofahrer vor. Dieser Unterschied lässt sich dann aber möglicherweise
durch unterschiedliche Risikoexposition rechtfertigen.
2.
Wäre die Obergruppe „Kraftradfahrer“, läge keine Ungleichbehandlung im Innenverhältnis vor, allenfalls wäre die Gleichbehandlung von Motorrädern und Mopeds zu prüfen. Dann stellt sich aber erst recht die Frage der äußeren Ungleichheit (sub 1.).
Letztlich muss also die Vergleichsgruppe nach Maßgabe des jeweiligen Rechtfertigungsbedarfs festgelegt werden.
2.
Rechtfertigung
Eine Ungleichbehandlung (respektive Gleichbehandlung) könnte gerechtfertigt sein.
1
Vgl. Jarass, in: ders./Pieroth, Art. 3 Rn. 6.
a)
Willkürformel
Nach der Willkürformel des BVerfG liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor,
wenn wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich
gleich behandelt wird. Willkürlich ist objektiv zu verstehen um meint das Fehlen vernünftiger Erwägungen bzw. sachlicher Gründe. Im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers muss die Unsachlichkeit der Differenzierung muss evident
sein.
b)
Verhältnismäßigkeit
Eine bloße Willkürkontrolle bleibt indes unzulänglich, wenn die Differenzierung weitreichende Auswirkungen auf den persönlichen Statuts des Betroffenen hat. Bei Ungleichbehandlungen geringerer Intensität soll hingegen lediglich die Willkürformel gelten und im Wege einer Evidenzkontrolle nur zu prüfen sein, ob sich irgendein sachlicher
Grund für die Ungleichbehandlung anführen lässt.
Das BVerfG hat daher seine so genannte „neuen Formel“ entwickelt. Das Gleichheitsgebot ist danach verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche
Behandlung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtfertigen könnten.
c)
Gleichheit durch Verfahren
Soweit der Staat Auswahl- oder Verteilungsentscheidung trifft (z. B. Bewerberauswahl,
Bestellung zum Insolvenzverwalter, Beschaffungsvorgang, etwa ein Bauauftrag), dann
muss diese Entscheidung diskriminierungsfrei ergehen, also auf Sachgründen beruhen.
Wenn sich dies entweder mangels materieller Maßstäbe nur schwer objektivieren lässt
(Kontrolldefizit) oder jedenfalls eine Chance auf Begünstigung überhaupt eine Teilnahme am Wettbewerb voraussetzt, sind aus Art. 3 Abs. 1 GG richtigerweise qualifizierte Anforderungen an das Verfahren zu stellen, etwa:
II.
-
öffentliche Ausschreibung;
-
Transparenz der Zuschlagskriterien bzw. des Stellenprofils;
-
Einbeziehung nur von Angeboten/Bewerbungen, die den formalen Kriterien genügen;
-
keine diskriminierende Verfahrensgestaltung (z. B. geheime Vorgespräche mit einem Bieter; Abweichung von der Ausschreibung);
-
Dokumentationspflichten.
Besondere Gleichheitssätze
Art. 3 Abs. 1 GG ist nachrangig gegenüber besonderen Diskriminierungsverboten. Diese finden sich insbesondere in
•
Art. 6 Abs. 1 GG: Besonderer Schutz von Ehe und Familie verbietet auch eine Benachteiligung, die an Ehe oder Familie anknüpft.
Hinweis: Das BVerfG hat die Spezialität des Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber Art. 3 Abs. 1
GG nicht in Bezug auf die Eingetragene Lebenspartnerschaft nach LPartG angewandt,
sondern vielmehr Differenzierungen hier an Art. 3 Abs. 1 GG gemessen und diese als
mittelbare Anknüpfung an eine sexuelle Orientierung besonders strengen Rechtsfertigungsanforderungen unterworfen. „Geht die Privilegierung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt
der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht. Denn
aus der Befugnis, in Erfüllung und Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Förderauftrags die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu privilegieren, lässt sich kein in Art. 6
Abs. 1 GG enthaltenes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen. Es ist verfassungsrechtlich nicht begründbar, aus dem besonderen Schutz
der Ehe abzuleiten, dass andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind […]. Hier bedarf es jenseits der bloßen
Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der gemessen am jeweiligen Regelungsgegenstand und -ziel die Benachteiligung anderer Lebensformen rechtfertigt.“ 2 Ob diese Ausgangsannahme der Systematik der Art. 3, 6 GG entspricht, erscheint eher fraglich, weil hier die Spezialität des Art. 6 Abs. 1 GG ausgeblendet wird. Das BVerfG hat diese Rechtsprechung inzwischen in einer Serie gleichförmig
begründeter Entscheidungen bestätigt und darf daher als etabliert gelten.
•
Art. 33 Abs. 2-3 GG: besondere Gleichbehandlungsgebote in Bezug auf den öffentlichen Dienst.
•
Art. 3 Abs. 2 GG: Gleichberechtigung von Männern und Frauen mit Gebot zur aktiven
Förderung der Gleichstellung. Diese Regelung kann iRd Verhältnismäßigkeit ggf. auch
Eingriffe in andere Freiheitsrechte rechtfertigen, wobei die Einzelheiten hier in der
Rspr. noch kaum geklärt sind.
•
Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Im
Gegensatz zu Abs. 3 enthält Abs. 3 ein striktes Differenzierungsverbot. Differenzierungen sind nur zulässig, wenn diese auf kollidierendes Verfassungsrecht gestützte werden können. 3 Nach überwiegender (aber bestrittener) Auffassung sollen zudem objektive Faktoren, die bereit in dem jeweiligen Merkmal angelegt sind, 4 vgl. etwa Regelungen des Mutterschutzes in der Schwangerschaft, die nur Frauen betreffen, aber konkrete
Schutzbedürfnisse abbilden. Auch insoweit ist eine strikte Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Auch mittelbare Benachteiligung, bei denen nicht direkt an eines der genannten
Merkmale angeknüpft wird, aber sich eine formal neutrale Norm in der sozialen Wirklichkeit substantiell zu Lasten oder zu Gunsten einer bestimmten Gruppe auswirkt.
Bsp.: Eine Regelung, die weder an das Geschlecht anknüpft noch Merkmale verwendet,
die von vornherein nur Frauen oder nur Männer treffen können, die aber Frauen
aufgrund rechtlicher oder tatsächlicher Umstände der Mutterschaft gegenüber
2
BVerfGE 124, 199 (226).
BVerfGE 121, 241 (257).
4
Jarass, in: ders./Pieroth, Art. 3 Rn. 134.
3
Männern benachteiligt, unterliegt nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG strengen Rechtfertigungsanforderungen. 5
•
5
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Behinderung im Sinne der Verfassung bezeichnet nach herkömmlichem Verständnis die „Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung,
die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht“. 6
Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbietet eine Benachteiligung. „Benachteiligung bedeutet
nachteilige Ungleichbehandlung […]. Behinderte werden zum Beispiel benachteiligt,
wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen
durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offen stehen“. 7 Nicht ausgeschlossen
ist damit (im Kontrast zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) eine Bevorzugung, weil gerade besondere Fördermaßnahmen, die auf eine soziale Gleichstellung/Enthinderung hinwirken
und Nachteile ausgleichen, nicht ausgeschlossen werden sollten. Die Bestimmung richtet sich daher vor allem gegen eine Ausgrenzung behinderter Menschen von der sozialen Teilhabe. Insoweit wird bezogen auf Diskriminierungen wegen der jeweiligen Eigenschaft ein generelles Anknüpfungsverbot begründet, das nicht allein durch sachliche
Gründe überwunden werden kann. Dies schließt eine Benachteiligung zwar nicht generell aus. Notwendig für eine ausnahmsweise (verfassungsimmanent zu begründende)
Rechtfertigung ist allerdings, dass eine spezifische Benachteiligung unerlässlich ist, um
Nachteilen, die unabweisbar aus einer Behinderung folgen, Rechnung zu tragen. 8
BVerfGE 132, 72.
BVerfGE 96, 288 (301); 99, 341 (356 f.).
7
BVerfGE 99, 341 (357).
8
BVerfGE 99, 341 (357).
6