17.01.2017, Der Fall Amri - Fehler im Antiterrorkampf

Manuskript
Beitrag: Der Fall Amri –
Fehler im Antiterrorkampf
Sendung vom 17. Januar 2017
von Andreas Halbach, Joe Sperling und Felix Zimmermann
Anmoderation:
Zwölf Tote, fünfzig teils Schwerstverletzte und eine ratlose
Republik. Auch vier Wochen nach dem Anschlag in Berlin sind
noch viele Fragen offen. Vor allem diese: Wie kann es sein, dass
Anis Amri seinen mörderischen Plan ausführen konnte, obwohl er
den Sicherheitsbehörden lange bekannt war? Hätte der Staat den
Anschlag verhindern können? Zumindest gab es verpasste
Möglichkeiten, zeigen unsere Autoren.
Text:
Brandenburg an der Havel. Gedenkgottesdienst gestern Abend.
O-Ton Pfarrer:
Wir sind hier, weil die Trauer uns verbindet.
Zwei Opfer des Berliner Anschlags stammen von hier.
Nachmittags in Berlin, Parlamentarisches Kontrollgremium. Es
geht um Behördenversagen und wer dafür verantwortlich ist.
O-Ton Hans-Christian Ströbele, B‘90/GRÜNE, MdB, Mitglied
Parlamentarisches Kontrollgremium:
Für mich steht nach der heutigen Sitzung fest, es sind
schwere Fehler gemacht worden. Aber nach der heutigen
Sitzung muss ich davon ausgehen, keiner ist schuld.
Zwölf Tote, mehrere Dutzend Verletzte, eine ratlose Republik:
Warum konnten die Behörden den Täter nicht dingfest gemacht,
bevor er den Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt steuerte,
und wer ist dafür verantwortlich?
Klar ist: Geboren wurde Anis Amri in Tunesien, nach vier Jahren
Haftstrafe aus Italien eingereist. Illegal in Deutschland. Er
beantragte Asyl als Anis Amir in Karlsruhe (22.7.2015); eine
Woche später als Mohammed Hassan in Berlin (28.7.2015); in
der Folgewoche als Mohamed Hassa in Dortmund (3.8.2015);
dort auch als Ahmed Almasri (28.10.2015); am nächsten Tag
unter diesem Namen auch in Münster (29.10.2015); dann zum
zweiten Mal in Berlin (Dezember 2015) - mal war er Ahmad
Zarzour, mal Ahmad Zaghloul. Mal Tunesier, mal Ägypter, mal
Libanese. Neun Aliaspersonalien insgesamt.
Im April vergangenen Jahres erstattet das Landeskriminalamt
Nordrhein-Westfalen Strafanzeige wegen Leistungsbetrugs und
Falschbeurkundung, will einen Haftbefehl. Die Staatsanwaltschaft
Duisburg kennt zu diesem Zeitpunkt acht der neun falschen
Namen, eröffnet ein Strafverfahren, lehnt aber den Haftbefehl ab.
Und erklärt auf Nachfrage von Frontal 21 schriftlich, es ein nur ein
Schaden von,
Zitat:
„…162,80 EUR …“
entstanden. Damit sei
„….der Erlass eines Haftbefehls unverhältnismäßig
gewesen.“
Amris falsche Identitätsangaben seien nur Ordnungswidrigkeiten,
deshalb,
Zitat:
„… lagen Anhaltspunkte für ein damit verbundenes
strafbares Verhalten nicht vor.“
Neun Identitäten, Sozialbetrug - und trotzdem nicht strafbar? Jens
Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbunds war selbst
verblüfft:
O-Ton Jens Gnisa, Vorsitzender Deutscher Richterbund:
Ehrlich gesagt, war ich, als ich diese Rechtsauffassung
überprüft habe, auch überrascht. Ich war im ersten Anflug
davon ausgegangen, dass es in der Tat eine Straftat ist. Aber
die Rechtsprechung geht auf Grund dieser Gesetzeslage
dahin, dass es keine Straftat ist. Ich denke man wird es als
Gesetzgeber sehr gut vertreten können, hier die
Strafvorschriften entsprechend auszuweiten.
Thomas de Maizière hat diese Idee schon bei der
Innenministerkonferenz im Sommer gehört. Damals forderte die
Bund-Länder-Koordinierungsstelle Integriertes
Rückkehrmanagement von den Innenministern die „Schaffung
einer gesonderten Strafnorm bei Identitätsverschleierung mit
entsprechend hohem Strafrahmen im AufenthG
[Aufenthaltsgesetz]“.
Allerdings ohne Ergebnis. Die erste Chance, Amri festzusetzen,
gescheitert am geltenden Recht. Und so bleibt der Gefährder, ISSympathisant, der von der „Tötung von Ungläubigen“ phantasiert,
auf freiem Fuß.
Innenminister in Nordrhein-Westfalen ist Ralf Jäger. Er habe sich
nichts vorzuwerfen, die Sicherheitsbehörden seien an die Grenze
des Rechtsstaates gegangen, sagt er:
O-Ton Ralf Jäger, SPD, Innenminister Nordrhein-Westfalen,
am 5.01.2017:
Ein Rechtsstaat muss gerichtsfest belegen, dass jemand
eine Straftat konkret plant. Die Überwachungen in Berlin
haben nichts ergeben. Das LKA hat sechs Monate, ein halbes
Jahr lang diese Person überwacht und abgehört und solche
Erkenntnisse nicht gewinnen können.
Kein Fehler also? Sein Parteifreund Heiko Maas sieht das anders:
O-Ton Heiko Maas, SPD, Bundesjustizminister, am
12.01.2017 in ZDF-Sendung Maybrit Illner:
Es kann sich nach dem, was da geschehen ist, und nach
dem, was man mittlerweile weiß, niemand hinsetzen und
sagen, es sind keine Fehler gemacht worden.
Wen er konkret meint, verrät er nicht.
Friedrichshafen, Ende Juli 2016. Hier hätte die kriminelle Karriere
des Terroristen Amri enden können. Er sitzt in einem Reisebus
von Berlin nach Zürich, die Berliner Polizei weiß das, lässt den
Bus und Amri kontrollieren, er hat zwei gefälschte italienische
Ausweise dabei, ist ausreisepflichtig, wird in der
Justizvollzugsanstalt Ravensburg inhaftiert, einem Richter
vorgeführt.
O-Ton Matthias Grewe, Direktor Amtsgericht Ravensburg:
Der Richter ist zunächst einmal hingefahren, hat ihn
angehört und hat dann angeordnet, weil nichts mehr in
Erfahrung zu bringen war von der eigentlichen
Ausländerbehörde in Nordrhein-Westfalen, dass er bis zum
Ablauf des folgenden Montags,18 Uhr, in Haft bleibt, damit
man mal klären kann, wie sind die Voraussetzungen und
kann abgeschoben werden.
Montags drauf lässt die Ausländerbehörde Kleve Amri wieder
laufen. Warum? Gegenüber Frontal 21 erklärt der Kreis Kleve,
Zitat:
„Eine Abschiebehaft zur Aufenthaltsbeendigung (…) ist nach
der aktuellen Rechtslage nicht zulässig, solange keine
zeitliche Einschätzung der Dauer des Verfahrens zur
Beschaffung von Passersatzpapieren möglich ist.“
Amri hat keine tunesischen Papiere, daher sieht Kleve sich nicht
in der Lage, ihn abzuschieben. Wenn nicht innerhalb von drei
Monaten Passersatzpapiere aus Tunesien zu erwarten sind, sagt
das Amt, dürfe auch keine Abschiebehaft verhängt werden. Doch
das gilt nur, wenn der Abzuschiebende nicht selbst an der
Verzögerung schuld ist.
O-Ton Jens Gnisa, Vorsitzender Deutscher Richterbund:
Aus meiner Sicht war das Handeln der Behörde in Kleve
etwas mutlos. Man hätte hier sicherlich juristisch den Weg
verfolgen können, die Dreimonatsfrist nicht zur Anwendung
zu bringen. Die Dreimonatsfrist heißt, ich kann einen
Ausländer nicht innerhalb von drei Monaten abschieben, zum
Beispiel weil die Passersatzpapiere nicht da sind, dann darf
ich ihn erst gar nicht in Haft nehmen. Aber wenn er es
verschuldet hat, dann darf ich das tun. Und das kann man
hier bei Amri vertreten, weil er unter zig verschiedenen
Identitäten aufgetreten ist.
Warum hat die Ausländerbehörde des Kreises Kleve nicht
wenigstens den Versuch unternommen, bei einem Haftrichter für
Amri Abschiebehaft zu beantragen? Das fragen wir den Kreis
Kleve. Kleve verweist lapidar auf ein Papier des NRWInnenministeriums, nachdem ein Haftantrag nicht erfolgreich
gewesen wäre.
Armin Laschet, CDU-Oppositionsführer, sieht die Schuld beim
Düsseldorfer Innenminister:
O-Ton Armin Laschet, CDU, Vorsitzender Landtagsfraktion
Nordrhein-Westfalen:
Die Ausländerbehörde in Kleve hat die Bitte geäußert, dass
er in Haft bleibt. Aber der Innenminister hat entschieden,
nein, er ist freizulassen. Und das wird aufzuklären sein, was
hat ihn denn dazu bewegt? Was sind die Hintergründe,
weshalb man einen, der in Abschiebehaft sitzt, in einem
anderen Land mit einer Weisung aus Nordrhein-Westfalen
bittet, freizulassen.
Amri jedenfalls ist am Abend des 1. August wieder auf freiem
Fuß. Die zweite Chance, ihn aufzuhalten, ist verpasst. Dann
taucht er ab. Zweimal noch versuchen die Behörden Amri hier in
der Unterkunft in Emmerich anzutreffen. Obwohl Tunesien ihn als
Staatsbürger Ende Oktober akzeptiert, immer noch kein
Haftbefehl, kein Versuch einer Abschiebehaft.
Kurze Zeit später die dritte Chance. Tunesische und
marokkanische Sicherheitsbehörden melden sich beim BKA,
insgesamt dreimal. Sie berichten, Amri sei Anhänger des
Islamischen Staats, habe Kontakt zu IS-Mitgliedern in Libyen.
Amri wolle in Deutschland „ein Projekt ausführen“ und suche ISKontakte.
Das BKA informiert das LKA Nordrhein-Westfalen. Amri ist in
zwischen als „Foreign fighter“ im Polizeisystem Inpol
eingestuft.
Am 2.November wird ein Treffen des Gemeinsamen
Terrorabwehrzentrums, GTAZ, in Berlin einberufen. Alle
Geheimdienste und Landespolizeien beraten über den Gefährder
- inzwischen zum siebten Mal - und befinden - trotz der
Warnungen aus Marokko - laut Bericht für den NRWInnenausschuss:
„dass auch weiterhin kein konkreter Gefährdungssachverhalt
zur Person von AMRI erkennbar sei“.
Wie kann das sein? Das Bundesinnenministerium erklärt auf
Nachfrage, das sei derzeit Gegenstand eines laufenden
Ermittlungsverfahrens.
Wenige Tage nach dieser Fehlentscheidung im Gemeinsamen
Terrorabwehrzentrum findet eine bundesweite Großrazzia gegen
Abu Walaa. Abu Walaa gilt als Repräsentant des Islamischen
Staates in Deutschland. Er und vier weitere führende Köpfe des
IS werden festgenommen. Anis Amri hatte Kontakt zu diesen
Leuten, war hier in Abu Walaas Hildesheimer Moschee.
Zur seiner mutmaßlichen Terrorzelle gehört auch Boban S.,
Deutsch-Serbe, Chemie-Ingenieur, er gilt als gefährlich. Er wurde
hier in seiner Wohnung im Dortmunder Norden verhaftet. Amri
habe hier zeitweilig gewohnt, erinnert sich ein Nachbar.
O-Ton Giovanni de Simonis, Nachbar des Terrorverdächtigen
Boban S.:
Ja, den hab ich öfter gesehen. Anfang des Jahres 2016.
Januar, Februar.
Die Sicherheitsbehörden glauben, in der Wohnung von Boban S.
soll Amri radikalisiert worden sein.
O-Ton Frontal21:
Hier im Haus gab’s Schulungen?
O-Ton Giovanni de Simonis, Nachbar des Terrorverdächtigen
Boban S.:
Ja, hier waren ständig 20, 30 Leute, donnerstags oder auch
dienstags.
Wieso nahmen die Behörden Abu Walaa und Komplizen fest, und
für Amri interessierte sich niemand?
O-Ton Giovanni de Simonis, Nachbar des Terrorverdächtigen
Boban S.:
Ich frag mich, wie der noch fünf Wochen nach der Festnahme
von Boban S. hier noch frei rumlaufen konnte und den
Anschlag noch verüben konnte. Also, ja, wie das passieren
konnte.
Die dritte Chance vertan: Amri blieb untergetaucht. Dann am 19.
Dezember saß er am Steuer des Lkw auf dem Breitscheidplatz.
O-Ton André Hahn, DIE LINKE, MdB, Mitglied im
Parlamentarischen Kontrollgremium:
Wenn dann Menschenleben zu beklagen sind im Ergebnis,
dann ist das ein Behördenversagen, für das es auch
Verantwortliche geben muss. Alle sagen, wir haben Fehler
gemacht, aber niemand will es gewesen sein. Das kann am
Ende nicht die Konsequenz sein, deshalb muss dringend
weiter aufgeklärt werden, und zwar nicht nur im
Kontrollgremium im Geheimen, sondern auch im
Innenausschuss und notfalls in einem parlamentarischen
Untersuchungsausschuss.
Beschlossen ist lediglich eine Taskforce des Parlamentarischen
Kontrollgremiums. Die soll klären, wer wann welche Fehler
gemacht hat. - Im Geheimen.
Abmoderation:
Niemand kann sich hinsetzen und sagen, es sind keine Fehler
gemacht worden, meint der Bundesjustizminister. Geschieht aber.
Jedenfalls hat bislang noch keine Behörde Fehler zugegeben und
kein Politiker Verantwortung übernommen. Morgen will der
Bundesinnenminister den Innenausschuss des Bundestages über
den Stand der Ermittlungen informieren.
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