Deutsches Ärzteblatt 1977: A-2207

Die Information:
Bericht und Meinung
ZITATE
Universität —
Was ist
daraus
geworden .. .
Als über die Zeiten bewährtes
Unterrichtsprinzip diente Ihnen
der überzeugende Leitsatz des
Demokrit: ,Viel denken, nicht
viel wissen, ist zu pflegen.' Nur
eine solche Unterrichtsmaxime
garantiert, daß nicht gelernt
wird ,für die Schule, sondern
für das Leben'. Sie, lieber Herr
Professor, haben daher in Ihren
begeisternden und geschickt
das eigene Denken anregenden
Vorlesungen zunächst jene
Denkvorgänge herausgearbeitet, aus denen sich die wissensnotwendigen Fakten ergeben.
So wurden Tatsachen verständlich und einprägsam.
Wenn Politiker angesichts
der von ihnen gewollten und
daher mitverschuldeten geradezu astronomischen Zahl von
Studenten, deren verantwortungsbewußte sachgerechte
Ausbildung heute sehr erschwert ist, Konzentration auf
die Lehre — vorübergehend sogar auf Kosten der UniversitätsForschung' fordern (Walter
Scheel: ,Reden und Interviews'
[2], 1. Juli 1975 bis 30. Juni
1976, S. 193), dann müssen sie
das Urteil hinnehmen: Wer solches fordert, scheint gar nicht
zu verstehen, warum Universitäten überhaupt forschen' (Kurt
Reumann, FAZ Nr. 120, 4. 6.
1976, S. 12). Denn die Durchführung dieser Forderung ist m.
E. gleichbedeutend mit einer
langwährenden und letztlich
tödlichen Strangulation der
deutschen Forschungs-, Lehrund Lern-Universität, die trotz
Nazi-, Kriegs- und Nachkriegsmisere aufgeholt hatte und bereits in vielen Fächern wieder
international anerkannt war.
Jetzt sind wir wirklich in einen
,Bildungsnotstand' geworfen,
den man uns vor Jahren — damals eine Fiktion nur — an die
Wand gemalt hat.
Ihre Hauptvorlesungen — ich
erinnere mich mit heller Freude
und mit großem Gewinn auch
für meine eigenen Kollegs, außerdem besonders an die in
Form und Niveau glanzvollen
von L. Aschoff und S. J. Thannhauser — gehören heute nicht
mehr zum Pflichtensoll der Studenten. An ihre Stelle ist die
,Paukschule` getreten (Otto P.
Hornstein, Rheinischer Merkur
Nr. 41, S. 32, 1976). Da Unterricht und neue Prüfungsmethode in Umkehrung des Postulates des Demokrit zu ,viel wissen
und nicht viel denken' verleiten,
werden unsere derzeitigen Studenten, so steht zu befürchten,
in Leben und Beruf leicht beeinfluß- und steuerbar, also
letztlich bequeme und gläubige
Untertanen, wie Funktionäre
sein.
In politischen Ideologien befangen sind bestimmte Universitäten überdies auf dem besten
Wege zur ‚Tendenzuniversität'.
Sie sehen nicht die Gefahren
von Kooperationsverträgen mit
den Gewerkschaften oder wollen nicht verstehen, daß ,die Lebensbedingungen unabhängiger wissenschaftlicher Hochschulen' dabei ‚verkannt' werden (Bernhard Rüthers, FAZ Nr.
239, 23. 10. 1976, S. 13).
Das Lehrbuch als Studienhilfe
wird oft im ersten Eifer von
noch wenig erfahrenen Neulingen gekauft, um bald das Bücherbrett zu zieren. Gelernt,
besser gepaukt, wird nach Fragensammlungen, die die Postulate eines Lernzielkatalogs erfüllen sollen. Auch durch dieses
Narkotikum werden interessierte und begabte junge Menschen dem Prinzip des ,Nürnberger Trichters' ausgeliefert.
DEUTSCHES ÄRZTEBL ATT
Mit Überlegungen zur Qualität
eines derart ‚instruierten' Ärztestandes der Zukunft brauchen
wir uns nicht aufzuhalten und
das außerdem nicht, weil für die
Zulassung zum Studium
menschliche Qualitäten überhaupt nicht mitbestimmend
sind. Allein die computerresistente Punktzahl ist das ,Sesam
öffne dich' zur Überwindung
des Numerus clausus. ,Der Numerus clausus begünstigt das
Strebertum. Wenn die Deutschen erst einmal erlebt haben,
daß eine ganze Generation von
‚Einser-Schülern' Ärzte geworden sind, werden sie sich
scheuen, zum Arzt zu gehen.'
(Peter Glotz, Rheinischer Merkur vom 28. 11. 1975, S. 8, und
Stuttgarter Zeitung vom 15. 11.
1975, S. 3.)
Die kranke Universität von
heute freilich heilen zu wollen,
ist eine herkulische Aufgabe.
Wir alle müssen daher mit heißem Herzen und klugem Verstand daran mitarbeiten und für
diese unerläßlich notwendige
erstrangige nationale Aufgabe
eintreten. Der ,wissenschaftliche Elfenbeinturm' darf dabei
nicht unser Dauerdomizil sein
(Giselher Schmidt, Rheinischer
Merkur Nr. 36, 1976, S. 18). Es
gibt keine Alternative zu dem
kategorischen Imperativ eines
unserer größten zeitgenössischen Pädiater Robert Debrö:
,Combattre? Certes! Se rösigner? Non.' (Robert Debrö: Ce
que je crois. Bernard Grasset,
Paris 1976, S. 219.) . ."
Auszüge aus einem Gedenkartikel von Prof. Dr. Josef Ströder
(Würzburg) zur hundertsten
Wiederkehr des Geburtstags
Carl Temmermann Noeggeraths, des 1952 verstorbenen
langjährigen pädiatrischen Ordinarius der Universität Freiburg i. Br., in „Der Kinderarzt",
Heft 4/77.
Heft 37 vom 15. September 1977
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