Leseprobe zum Titel: Süddeutsche Zeitung (24.12.2016)

A M WO C H E N E N D E
HF1
MÜNCHEN, WEIHNACHTEN, 24./25./26. DEZEMBER 2016
ILLUSTRATION: STEPHANIE WUNDERLICH
WWW.SÜDDEUTSCHE.DE
72. JAHRGANG / 51. WOCHE / NR. 298 / 3,20 EURO
Endlich
Weihnachten
Nach einem Advent in Überlänge
und einem Jahr, in dem
es viel zu streiten gab, wird es
Zeit für Winnetou Seite 41,
Walt Disney Seite 11
und Zuversicht Seite 4
(SZ) Weihnachten bringt dem gläubigen
Christen Licht und Freude, weil der Heiland zur Welt kam, und es bringt den anderen weniger Gläubigen oder Andersgläubigen ein großes Freizeitdepot. Wie
viel von diesem Mischungsverhältnis bei
jedem Einzelnen Glaube, wie viel profane
Erholung ist, bleibt spirituell unergründbar. Wozu auch? Der Modedesigner Harald Glööckler zum Beispiel sieht aus, als
würde er sich das ganze Jahr tierisch auf
Weihnachten freuen, so viel Glitzerzeug
ziert seine Klamotten und sein Gesicht.
Es ist immer, als finge es gerade an zu
schneien, wenn er zur Tür hereinkommt.
Dieser Harald Glööckler hat nun in den
letzten Sekunden des Weihnachtscountdowns gesagt, er sei ein begeisterter
Kirchgänger. Selbst so ein starkes Signal
schrumpft allerdings schnell wieder auf
die Misere menschlicher Kleinmütigkeit,
denn der Satz lautet zitatgerecht: „Ich gehe gern in Kirchen, wenn sie leer sind.“
Damit hat Harald Glööckler wohl zum
Ausdruck gebracht, dass er Weihnachten
nicht in die Kirche gehen wird. Denn das
ist der einzige Moment im Jahr, in dem
die Kirchen nicht leer sind. Glööckler hat
das gewiss mit Sensibilität für den feierlichen Nachhall und die erhabene Stille in
verlassenen Sakralräumen festgestellt.
Vielleicht aber auch mit der Erfahrung
eines RTL-Stars, der weiß, was mit einer
Kirche geschieht, wenn jemand wie er
glitzernd und funkelnd hereinschneit
und sie augenblicklich zum Harald-Glööckler-Dom macht. Nur er und der Heiland und die Frage: Wer bringt mehr
Licht in das Dunkel unserer unbequem
geschnittenen, schlecht sitzenden Existenz? An Heiligabend wird bei ihm zu
Hause in Kirchheim an der Weinstraße
übrigens so ausgiebig gefeiert, dass er
laut dpa über den ersten Weihnachtstag
kaltblütig sagt: „Da hole ich den Heiligabend nach.“
Wir kennen Donald Trump und seinen
nächtlichen Schreibrhythmus noch nicht
wirklich gut, aber das klingt nach einem
Fall für den designierten Twitterpräsidenten. Der will Weihnachten nicht
kampflos den atheistischen Freizeitnutznießern überlassen und hat angekündigt, in seinem Amerika werde der ordentliche Weihnachtsgruß „Merry Christmas“ wieder Priorität haben. Trump
zieht mit der Formel „Frohe Weihnachten“ gegen all jene zu Felde, die sich einfach „Happy Holidays“ und ein paar schöne Ferientage wünschen. Er weiß nämlich, dass Urlaub dem Urlaubenden erlaubt, einfach nichts zu tun, noch nicht
mal zu arbeiten oder wenigstens Geld zu
verdienen. Deshalb wird der Urlaub in
den USA schon lange unter den gefährlichen Substanzen geführt und auf wenige
Tage im Jahr beschränkt. Wer arbeitet,
sündigt nicht, Weihnachten soll weiter Arbeit bleiben, Arbeit am Herd, am Gabentisch, unterm Baum. Erholen kann man
sich danach. Am besten bei der Arbeit zwischen den Jahren.
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Ende einer Flucht
„Gräben
nicht vertiefen“
Anis Amri, der mutmaßliche Attentäter von Berlin, wird in Mailand von der Polizei erschossen.
Wieso konnte er trotz einer europaweiten Fahndung unerkannt bis nach Italien kommen?
Bundespräsident Gauck warnt
davor, Feindbilder zu schüren
von ronen steinke
Nach bangen Tagen ist die Fahndung
nach dem flüchtigen Terrorverdächtigen
Anis Amri in der Nacht auf Freitag zu Ende
gegangen. Der Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Terroranschlag
auf einen Berliner Weihnachtsmarkt begangen hat, bei dem am Montagabend
zwölf Menschen getötet und fast fünfzig
weitere verletzt wurden, ist in Mailand gefasst und bei einer Schießerei mit der Polizei getötet worden. Bundesinnenminister
Thomas de Maizière äußerte sich „erleichtert, dass von diesem Attentäter keine Gefahr mehr ausgeht“. Er beglückwünschte
die italienischen Behörden und bedankte
sich bei den beiden Mailänder Polizisten,
die den Flüchtigen gestellt hatten.
Was bleibt, ist die Frage nach den politischen Konsequenzen. Am Tatort in Berlin
liegengelassene Papiere, aber auch Fingerabdrücke sprechen dafür, dass der junge
Tunesier am Steuer des Lastwagens gesessen hatte, der am Montagabend neben der
Gedächtniskirche in eine Menschenmenge raste. Der Täter war von dort geflüchtet, den Behörden war es nicht gelungen,
ihn zu stellen. Wie sich nun herausstellte,
floh Amri mit dem Zug: erst nach Frankreich, nach Chambéry im Südosten des
Landes, dann nach Turin und weiter nach
Mailand. Dort kam er am Freitag um ein
Uhr früh an; ungehindert von der europaweiten Fahndung gegen ihn. Erst dort geriet er in eine Polizeikontrolle.
Amri eröffnete sofort das Feuer auf die
Beamten, ein Polizist wurde an der Schulter verletzt. Bei dem anschließenden Feuergefecht wurde Amri tödlich getroffen.
In der Zwischenzeit hatte sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) eher zaghaft zu Amri bekannt. Erst nach seinem
Tod am Freitag veröffentlichte die Gruppe zum Beleg auch ein Video, das angeblich Amri zeigen soll, der europäischen
„Kreuzfahrern“ Rache schwört.
Es ist nicht das erste Mal, dass der IS
sich eines Anschlags in Deutschland bezichtigt. Bereits im Sommer wurde
Deutschland von zwei Attentaten getroffen, in Würzburg und dann in Ansbach.
Auch jene Täter, die als Flüchtlinge nach
Deutschland gekommen waren, beriefen
sich auf den IS. Es ist allerdings das erste
Mal, dass Deutschland derart dramatisch
getroffen worden ist. Bei den Anschlägen
in Würzburg und Ansbach war neben den
Attentätern selbst niemand ums Leben
gekommen.
Dass Amri erst in Mailand gestoppt werden konnte, zeigt, wie leicht es heute ist,
im Europa der offenen Grenzen unerkannt zu reisen. Dass er bereits seit dem
vergangenen Jahr in seine Heimat Tunesien abgeschoben werden sollte, macht indes deutlich, wie groß die Schwierigkeiten
bei der Rückführung Ausreisepflichtiger
sind. „Wir werden jetzt mit Nachdruck
prüfen, inwieweit staatliche Maßnahmen
verändert werden müssen“, kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag
an. Sie habe mit dem tunesischen Präsidenten Beji Caïd Essebsi telefoniert und
ihm „gesagt, dass wir den Rückführungsprozess (...) noch deutlich beschleunigen
Außerdem in
dieser Ausgabe
Umgehen mit der Angst: Freie Gesellschaften und der Terror
Seite 2
1000 Kilometer durch Europa: Die letzte
Fahrt von Anis Amri
Seite 3
Gefährder genauer beobachten:
Kommentar von Kurt Kister
Seite 4
Aus den Augen, aus dem Sinn: Die Rolle
der Berliner Behörden
Seite 6
Polizisten sichern den Tatort nach der Schießerei am Mailänder Bahnhof. Amri hatte bei einer Kontrolle sofort das Feuer auf die Beamten eröffnet. F.: DANIELE BENNATI/AP
und die Zahl der Zurückgeführten weiter
erhöhen müssen“. Tunesische Behörden
hatten sich lange geweigert, Amri zurückzunehmen.
Die deutschen Sicherheitsbehörden
hatten den mutmaßlichen Terroristen bereits seit Monaten als islamistischen Gefährder auf dem Schirm, ohne dass er jedoch in Haft genommen und abgeschoben worden wäre. In Berlin war Amri sogar bis September von der Polizei observiert worden.
Was die Beamten dabei zu sehen bekamen, war allerdings nicht das Verhaltensmuster eines typischen Islamisten. Amri
bewegte sich im Milieu der Kleindealer
am Görlitzer Park, verkaufte Drogen, einmal prügelte er sich in einer Berliner Bar,
mutmaßlich aufgrund eines Streits mit einem anderen Dealer. Er zeigte in dieser
Zeit keine Verbindungen mehr zu Kontaktpersonen der islamistischen Szene, er besuchte auch nicht mehr die einschlägigen
Moscheen. Deutsche Gerichte hatten die
Überwachungsmaßnahmen gegen ihn
schon einmal verlängert, im September
aber erklärten sie: Auf dieser Grundlage
könne man Amri nicht weiter observieren.
So gelang es ihm, wieder abzutauchen.
Die Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt beobachten derzeit noch
fast 550 weitere islamistische Gefährder.
Nur der kleinere Teil von ihnen ist wirklich in Deutschland auf freiem Fuß, so wie
es Anis Amri war. Etwa die Hälfte von ihnen befindet sich nach Angaben des BKA
derzeit im Irak oder in Syrien, von den übrigen sitzen etwa 80 in Deutschland in
Haft. Demnach bleiben etwa 190 Gefährder, die sich frei bewegen und von denen nicht alle lückenlos überwacht werden können. In der Berliner Regierungskoalition besteht Einigkeit, zumindest für
diejenigen Gefährder, die Flüchtlinge
sind, einen neuen Abschiebehaftgrund
„Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“
einzuführen.
Berlin – Bundespräsident Joachim
Gauck hat angesichts von Wut und Ängsten nach dem Anschlag in Berlin zu einem weiter menschlichen Miteinander
aufgerufen und vor dem Schüren von
Feindbildern gewarnt. „Gerade in Zeiten
terroristischer Attacken sollten wir die
Gräben in unserer Gesellschaft nicht vertiefen, weder Gruppen pauschal zu Verdächtigen noch Politiker pauschal zu
Schuldigen erklären“, sagte Gauck in seiner letzten Weihnachtsansprache. Sie
wird am 25. Dezember ausgestrahlt. Das
bedeute nicht, auf Auseinandersetzungen über die Flüchtlingspolitik oder über
weitere Sicherheitsmaßnahmen zu verzichten, sagte Gauck. Es gelte aber,
Augenmaß und die Achtung vor dem politischen Gegner zu bewahren. „Und wir
sollten uns gerade in diesen Tagen besinnen auf das, was Weihnachten ausmacht
und über die Christen hinaus Teil unserer
Kultur geworden ist.“ sz
Seite 7
Flugzeugentführung
unblutig beendet
Valletta – Eine Flugzeugentführung ist
in Malta ohne Blutvergießen zu Ende gegangen. Die beiden Entführer der aus Libyen stammenden Passagiermaschine
hätten sich ergeben, teilte der maltesische Regierungschef Joseph Muscat am
Freitagnachmittag mit. Zuvor waren
mehr als 100 Passagiere und Crewmitglieder freigelassen worden. Die Maschine
der Afriqiyah Airways war auf dem Weg
vom libyschen Sabha nach Tripolis entführt worden. sz
Seite 8
MIT STELLENMARKT
Dax ▶
Dow ▶
Euro ▶
Xetra 16:30 h
11445 Punkte
N.Y. 16:30 h
19915 Punkte
16:30 h
1,0445 US-$
- 0,08%
- 0,02%
+ 0,0010
Armes reiches Deutschland
DAS WETTER
Die Bundesrepublik steht wirtschaftlich gut da, doch nirgendwo in der Euro-Zone verteilt sich der Wohlstand so ungleich
München – Die meisten Bundesbürger besitzen deutlich weniger als andere Europäer. Das geht aus einer Studie der europäischen Zentralbank (EZB) hervor. Danach
sammelt der mittlere deutsche Haushalt
ein Nettovermögen von 60 000 Euro an,
die Bürger im Schnitt von 18 Euro-Staaten
dagegen mehr als 100 000 Euro. Weil das
mittlere Vermögen unter anderem in allen Euro-Krisenstaaten höher ausfällt als
in Deutschland, könnten die Ergebnisse
vor der Bundestagswahl 2017 scharfe Kontroversen auslösen.
Die Daten bestätigen die Tendenz einer
EZB-Studie von 2013. Somit ist die Bundesrepublik zwar seit Langem Europas
wirtschaftlicher Motor. Bei einem Großteil der Bevölkerung kommt davon aber
wenig an. Die Hälfte der deutschen Haushalte besitzt nach Abzug von Schulden
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null bis höchstens 60 000 Euro. In den Euro-Krisenstaaten Zypern und Italien, das
gerade wegen Bankenproblemen im Fokus steht, liegt das mittlere Vermögen bei
170 000 beziehungsweise knapp 150 000
Euro. Franzosen kommen auf knapp doppelt so viel wie die Deutschen. Selbst Portugal und Griechenland weisen einen
höheren Wert auf als die Bundesrepublik.
Das mittlere Vermögen bezeichnet den
Betrag, bei dem genau die Hälfte der Haushalte eines Landes mehr besitzt und die
andere Hälfte weniger. Statistiker halten
diesen Wert für genauer als Durchschnitte, weil es den Durchschnitt nach oben
treibt, wenn ein Land sehr viele Reiche
hat. In der Bundesrepublik klafft das Vermögen von Armen und Reichen nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung so stark auseinander
wie nirgends sonst in der Euro-Zone. Es
gibt viele Firmen in Familienbesitz. Die
reichsten zehn Prozent der Deutschen vereinen mehr als 60 Prozent des ganzen Vermögens auf sich. Betrachtet man bei der
EZB-Studie die Durchschnitte, fällt die
Bilanz der Deutschen besser aus. Sie liegen dennoch hinter Italienern, Franzosen,
Spaniern und vielen kleinen Nationen.
Eine Erklärung für das geringe Vermögen der Deutschen ist ihre Geldanlage.
Nur jeder zehnte besitzt Aktien, aber die
Mehrheit Lebensversicherungen oder
Sparkonten, die oft kaum Gewinn abwerfen. Außerdem wohnen nur etwa 40 Prozent im eigenen Haus. Dagegen besitzen
70 bis 80 Prozent der Italiener und Spanier Immobilien, die einst günstig erworben
wurden und zum Teil erhebliche Wertsteigerungen erfahren haben. Auch geringer
Verdienst erklärt die Unterschiede. Laut
Sachverständigenrat der Bundesregierung bilden Haushalte unter 2000 Euro
Nettoeinkommen im Schnitt gar kein Vermögen. Sie verschulden sich.
Die EZB-Studie ist auch deshalb brisant, weil Deutschland und andere EuroPartnerstaaten wie Griechenland, Spanien, Portugal und Zypern mit Milliardenkrediten vor der Pleite gerettet haben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel argumentierte nach der ersten Studie 2013, andere
Nationen seien reicher, doch die Rentenansprüche würden nicht berücksichtigt.
Nach damaligen Daten der OECD war die
Rente im Vergleich zum Lohn allerdings
in Deutschland nicht höher als in Südeuropa. Dafür arbeiteten die Deutschen länger
als Italiener, Spanier oder Griechen.
alexander hagelüken Wirtschaft
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