SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Heilige Haute Couture Jesus und Maria und ihre Garderoben Von Hans-Volkmar Findeisen Sendung: Freitag, 16. Dezember 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Charlotte Grieser Regie: Felicitas Ott Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. 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Sprecher: Mit heiligen Bildwerken zu leben, sie zu bekleiden, aber auch zu waschen, zu küssen, zu bekochen, sie sogar zu stillen oder die Figuren gegebenenfalls von Ungeziefer zu befreien, von solch abstrusen Brauchtümern ist Europa weit entfernt. Denkt man. Tatsächlich ist der lebensechte Umgang mit religiösen Bildwerken, insbesondere das Bekleiden von Jesuskindern und Marienfiguren, ein zentrales Motiv der abendländischen Kulturgeschichte. Gesänge Ansage: Heilige Haute Couture – Jesus, Maria und ihre Garderoben. Eine Sendung von HansVolkmar Findeisen. Atmo : Archivar Kloster Wienhausen liest Inventarliste der Heiligenkleider (1671) vor. Sprecher: Beispiel: das Kloster Wienhausen bei Celle. Hier liest der Archivar aus einer alten Kleider-Inventarliste vor. Viele Heiligenfiguren in Europa besaßen umfangreiche Garderoben und fleißige Garderobieren, die sich darum kümmerten, etwa die Frau des spanischen Diktators Francisco Franco. Ein Ehrenamt! Nicht zuletzt mit dem Weihnachtsfestkreis sind die Bekleidungsrituale eng verbunden. Die Kunsthistorikerin und gelernte Restauratorin Charlotte Klack-Eitzen von der Universität Hamburg hat eine lange Reise durch die europäische Geschichte der Figurenbekleidung hinter sich gebracht und viel gefunden. Ihr Fazit: 2 Charlotte Klack-Eitzen: Das war überall ganz üblich und ist es noch immer, also sowohl in Süddeutschland, aber auch in Italien, in Spanien, aber auch in Belgien gibt es sehr viele bekleidete Skulpturen. Atmo: Rundgang Kloster Wienhausen: Altes Türschloss wird geöffnet, Schritte Sprecher: Schwieriger als die Dokumentation der gegenwärtigen Bräuche ist es, zu den Anfängen des Skulpturen-Kleiderkults im 13. Jahrhundert zurückzufinden. Eine Schlüsselstellung in unseren Breiten nimmt wiederum das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Wienhausen bei Celle ein. Es wurde während der Reformation in ein lutherisches Damenstift umgewandelt, das unter der Leitung einer evangelischen Äbtissin als Konvent bis heute existiert. Seine historischen Schätze locken eine Vielzahl von Besuchern an. Atmo: Äbtissin erklärt "eine der Figuren mit Ornaten" (Auferstehungschristus) Sprecher: Äbtissin von Randows Konvent besitzt rund zwanzig heilige Kleidchen. Das kleinste bedeckt grade mal die Fläche einer Hand, das größte könnte auch zu einem Baby passen. In den letzten Jahren hat man den Schatz wiederentdeckt und aufwendig restauriert. Die Textil-Restauratorin Tanja Weißgraf, die im benachbarten Kloster Lüne arbeitet, hat jahrelang an der Konservierung der Wienhauser Kleidchen gearbeitet. Tanja Weißgraf: An Geweben haben wir Gewebe ab dem 13. Jahrhundert vermutlich, 13. bis 15. Jahrhundert, Samte, gemusterte Seidengewebe aus Italien, aus dem Orient, aus China eine Seide ganz besonders. Darüber hinaus wurden Seidenfäden für die Stickereien verarbeitet, Flussperlen, die wiederum aus heimischen Flüssen stammten, aber auch Schmucksteine und Schmuckbleche, die sogenannten Brakteaten, geprägte Schmuckbleche, und es wurden auch Fellstreifen an die Kleidchen angesetzt, die Hermelin imitierten. Sprecher: Ein Heiligenkleid folgt seinen eigenen Schnitttechniken. Oft wurde es den Figuren auf der sichtbaren Seite nur wie ein Lätzchen umgehängt und am Rücken mit Bändern befestigt. Andere, komplette Gewänder besaßen Aussparungen, etwa um sie einer Maria mit Jesuskind auf dem Arm so überziehen zu können, dass das Kind sichtbar blieb. Anfangs zählten nur Wert und Herkunft der kostbaren Kleider. Richtige Moden und komplett durchgestylte Garderoben wurden erst mit Anbruch der Neuzeit üblich. Etwa im Zeitalter der Entdeckung Amerikas, als das Jesuskind sich je nach Gelegenheit mit einem farbenfrohen Papageno-Dress aus Papageienfedern in Szene setzte oder in der Zeit des Barock, als die heiligen Skulpturen-Röcke sich an der 3 Kleiderpracht des französischen Hofes orientierten und sogar Schühchen, Söckchen und Unterwäsche besaßen. Atmo: Restaurationswerkstatt: Nähen mit Rundnadeln aus Augenchirurgie Sprecher: Im Mittelalter war noch jedes einzelne Gewand wie ein großes Puzzlespiel, jedes bestand aus kleinen und kleinsten Teilen. Tanja Weißgraf und ihre Chefin, die Restauratorin Wiebke Haase, arbeiten vielfach mit dem Mikroskop und mikrochirurgischen Instrumenten, wie man sie eher im Operationssaal vermuten würde – zum Beispiel Nadeln, die eigentlich für Augenoperationen gedacht sind. Wiebke Haase: Bei dem einen Gewand hatten wir roten Samt, also der Eindruck war roter Samt. Er war aber im Prinzip zusammengesetzt aus bis zu acht verschiedenen Samten. Also, ich spreche jetzt nicht von einzelnen Fragmenten, sondern unterschiedlichen Geweben. Und das bedeutet, also sie haben dann schon auch Puzzle-Arbeit betrieben, um diese Schnitteile zusammenzusetzen, für die Arme, für den vorderen Latz, der auch noch verziert war, immer mit einem Besatzstreifen, darauf Brakteaten und die Perlen, die es jetzt zum Teil gar nicht mehr gibt. Sprecher: Eine besondere Schneiderwerkstatt besaßen die Nonnen nicht. Den Mittelpunkt des kollektiven Lebens bildete der Chor der Kirche. Er war Ort für Andacht und offensichtlich auch Arbeit. Denn als die Restauratoren dort die Dielen anhoben, fanden sie ihre Vermutung bestätigt: Im sogenannten Nonnenstaub unter dem Boden lag so Einiges, was im Laufe der Jahrhunderte durch die Ritzen der Dielen gefallen war. Charlotte Klack-Eitzen: Bei der Menge von Nadeln, die man da gefunden hat, muss es so gewesen sein. Sie müssen eigentlich da in ihren Stühlen gesessen haben, und die Nadeln sind ihnen durch die Fußbodenbretter hindurchgefallen. Sie sind ihnen runtergefallen, irgendjemand hat dann gefegt, wutsch weg waren sie (lacht) und im Nonnenstaub verschwunden. Sprecher: Im Nonnenstaub des Klosters Wienhausen fanden sich aber nicht nur Nadeln, sondern auch Kleiderfragmente, eine kleine Jesusfigur aus Alabaster im Handschmeichlerformat, Webbrettchen und sogar Brillen. Wienhausen besitzt eine der ältesten Brillensammlungen der Welt. Die Brillen der Nonnen geben Zeugnis davon, auf welche Fusselarbeit sich die geistlichen Damen einließen und welcher Aufwand bei der Ausstattung der Miniatur-Skulpturen gemacht wurde …, Wiebke Haase: … dass es nur das Beste sein sollte für diese Skulpturenkleidchen. Also, sie sind mit Sicherheit nicht von sich und ihrer eigentlichen Bekleidung ausgegangen. Denn 4 diese Gewebe, die sie verwendet haben, kamen im Nonnenalltag nicht vor: roter Seidensamt, blauer Seidensamt, gemusterte Lucca-Seiden mit Silberbroschierung, das gab’s mit Sicherheit nicht im Alltag einer Nonne. Atmo: geistliche Musik Sprecher: Wienhausen stand im Zentrum einer geradezu epochalen Entwicklung. Im Hochmittelalter, im Zeitalter der Gotik also, kam das religiöse Leben in Schwung: Nicht allein die intellektuelle Theologie der Scholastiker bestimmte von nun an das spirituelle Terrain. Auf der anderen Seite wurde nun auf einmal heilige Geschichte lebensecht nachgespielt und sinnlich inszeniert. Heilige Bilder und Figuren, gelegentlich waren es auch als Heilige verkleidete Kleriker oder Nonnen, sprachen, bluteten und weinten. Engel flatterten durch die Gotteshäuser, gezogen von Schnüren, Seilen und unsichtbaren Mechaniken. Aus den sogenannten Himmelslöchern der Kirchengewölbe regnete es Oblaten, Rosenblätter, geweihtes Wasser, und gelegentlich fiel auch mal eine Hilfskraft herab, wenn sie nicht aufpasste. Johannes Tripps ist Professor für Kunstgeschichte und unterrichtet an der Fakultät für Medien der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur in Leipzig. Tripps zählt international zu den Pionieren in Sachen liturgische Inszenierungen des Hoch- und Spätmittelalters. Seine Forschungen zeigen eine sehr menschliche Form der Begegnung mit dem Heiligen, die man heute wieder zu entdecken beginnt. Beispiele für diese verlorenen Traditionen findet man in Straßburg, Augsburg, Biberach oder etwa Schwäbisch Hall. Johannes Tripps: Es ist vor allem, weil die Städte an Macht und Reichtum gerade im 13. und 14. Jahrhundert enorm neben den weltlichen und den kirchlichen Adel als Auftraggeber treten, dass eben auch die Städte gerade Heiligengeschichte, heilige Geschichte enorm inszenieren in ihren Kirchengebäuden. Und da ist ein wunderschöner Fall eben Sankt Michael in Schwäbisch Hall, wo wir mehrere Ringe im Gewölbe haben und eben wissen, dass ein Ring dazu diente, an Mariä Himmelfahrt die Mutter Gottes ins Gewölbe hochzuziehen, also Mariä Himmelfahrt nachzuspielen, im nächsten Christi Himmelfahrt, und im Chor hat man dann an Pfingsten die Heiliggeisttaube fliegen lassen und hat brennende Wergbällchen, also gezupften groben Flachs, nachgeworfen, um diese Feuerzungen zu symbolisieren, die über Apostel und die Maria kamen. Das heißt, die Kirche, das Kirchengebäude wird immer mehr zu einer Art Erlebnisraum, wo man die einzelnen Stadien des Kirchenjahres und der Kirchenfeste tatsächlich inszenieren kann und daran teilnehmen. Atmo: Liturgie Sprecher: Religionen haben generell einen großen Hang zum Textilen: Das Verhüllen und Verschleiern mit Tüchern oder Vorhängen steht für den Wunsch der Menschen, das 5 Heilige und seine Kräfte zu bändigen und bei Bedarf für sich nutzbar zu machen. Es gehört zu den Totenritualen, zum antiken Tempelkult beziehungsweise zum Kult des antiken und byzantinischen Gott-Kaisertums. Skulpturen des Kaisers wurden wie richtige Menschen in die Provinzen gefahren, Kerzen entzündet, Weihrauch verbrannt, und das Volk huldigte ihnen und sang das kyrie eleison. Diesen Herrscherkult hat die Kirche mit der Zeit auf Christus und die Heiligen übertragen. Die Abbilder des Heiligen waren selbst wie ihr Urbild zu richtigen Personen geworden, zu sogenannten handelnden Bildwerken, wie die Kunsthistoriker sie nennen. Italien und insbesondere Florenz dienten als wichtiger Brückenkopf bei der Vermittlung der antiken und byzantinischen Traditionen in den Westen. Insbesondere die Kreuzzugszeit, als 1204 die Kreuzfahrerheere Konstantinopel überfielen und seiner Kunstwerke und Reliquienschätze beraubten, blieb für den abendländischen Bildkult nicht folgenlos. Die "maniera greca", die byzantinische Auffassung, dass es nicht von Menschenhand gemachte Bildwerke gab, beeinflusste die religiöse Kunst. Doch während die östlichen Ikonen starr und unbeweglich waren, versuchte der Westen, die Heiligen und das Heilige realistisch und bewegt darzustellen. Nicht zufällig tauchten die ersten Figuren des Jesuskindes, sogenannte Bambini, in Florenz und in der Toskana auf. Dort propagierte insbesondere Franz von Assisi den Kult um das Jesuskind. Im 13. Jahrhundert explodierte der Kult um die JesusBambini förmlich. Besonders in Mechelen bei Antwerpen wurden damals Figuren fast wie am Fließband produziert. Charlotte Klack-Eitzen: Sie haben so eine porzellanmäßige Bemalung, ganz hell rosa, sehr fein, immer so leicht geschlitzte Augen, goldene Haare und so ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht (lacht), und sie stehen auf kleinen Sockeln, stehen frei und haben die Arme irgendwie mit einer kleinen goldenen Kugel und einem Segensgestus nach vorne gestreckt und eignen sich deshalb besonders gut zum Bekleiden. Sprecher: Nicht nur im engeren kirchlichen Bereich, sondern auch in den Privathäusern, auf Hausaltären und in Privatkapellen hielten die Bambini Einzug - zum Gebrauch das ganze Jahr über. Jesuskind-Figuren wurden in Florenz etwa den Frauen bei der Hochzeit als Teil ihrer Aussteuer geschenkt. Bald widmeten sich die auch in Deutschland weit verbreiteten Hausbücher, eine Art Knigge bürgerlicher Lebensführung, unter anderem dem richtigen und segensreichen Umgang und der Pflege der Jesuskinder durch die Bürgersfrauen. Dabei ging es nicht nur um Kleidung, sondern etwa auch um die Speisung der Jesusse, die mitunter eigene Miniatur-Tische und -Gedecke besaßen und mitsamt Vater Joseph, Mutter Maria, Opa Joachim und Großmutter Anna an den Mahlzeiten ihrer Gastfamilien teilzunehmen pflegten. Was sie nicht aßen oder besser: nicht essen konnten, bekamen die Armen. Selbst ungebildete Laien auf dem Lande, die bei weitem nicht die Mittel besaßen, um die kostbaren Jesusfiguren selbst zu kaufen und auszustatten, legten großen Wert darauf, beim Skulpturenkult nicht hinter die Klöster zurückzufallen. Atmo: Gesänge 6 Sprecher: Alt ist die Vorstellung, dass die Nonnen Bräute Christi seien. Aber erst im Hochmittelalter wurde sie popularisiert, und man übertrug die weltlichen Hochzeitsbräuche auch auf den Bereich der Frauenklöster. Der Eintritt in den abgeschlossenen Bereich des Klosters, in die Klausur, bedeutete einen Abschied von der Welt draußen – für immer. Im Mittelalter war es üblich, selbst Kleinkinder den Klöstern zu übereignen. Die dort allgegenwärtigen Jesuspuppen passten in die kindliche Welt der Orden. Hatte ein junges Mädchen das Alter erreicht, um als 16oder 18-Jährige das Ordensgelübde abzulegen, führte es der Vater wie bei einer bürgerlichen Hochzeit an die Klostertür, um die Tochter Christus als Braut zu übergeben. Zur Aussteuer gehörte selbstverständlich auch eine Jesusfigur aus Holz oder Alabaster. Die Kunsthistorikerin Charlotte Klack-Eitzen: Charlotte Klack-Eitzen: Man weiß auch, dass solche Jesuskinder den Nonnen geschenkt wurden in dem Moment, als sie ins Kloster eintraten. Und einerseits wurden sie dann so als Trösterlein bezeichnet, eben um den Abschied zu erleichtern, aber andererseits eben auch sicherlich als Andachtsbild für sie persönlich. Und es wird dann auch beschrieben, dass sie dann schon bekleidet waren. Also ein Ratsherr aus Köln hat geschrieben, dass seine Tochter ein Jesuskind bekam: "Es gab keinen schöneren im Kloster mit einem samtenen Rock und einer Reliquie vom Blut Jesu hatte er umhängen", ja. Sprecher: Im Boom der heiligen Bildwerke spiegelt sich der tiefe Riss, der im Hochmittelalter die Kirche durchzog und bis heute durchzieht: Auf der einen Seite formierte sich der Klerus als universitär gebildeter und lateinisch sprechender Theologen-Stand. Er beanspruchte das Monopol, den Text der Bibel dogmatisch korrekt auszulegen. Auf der anderen Seite stand die Volksreligiosität der ungebildeten Laien und der Klosterfrauen. Laien und Frauen besaßen nach der gängigen theologischen und medizinischen Erkenntnis ein poröses Gehirn. Dieses erlaubte ihnen die Heilsgeschichte nicht über den Bibeltext, sondern nurmehr über belebte Bilder zu erfassen. Die mystische Vision, die meditative Hingabe an heilige Bildwerke, bildete den Türöffner, der es dem einfachen Gläubigen ermöglichte, sich dem Göttlichen zu nähern. Zu diesen Türöffnern zählten nicht nur Skulpturen-Kleider, sondern auch eine ganze Reihe weiterer heiliger Textilien, die seinerzeit mit einem Male das spirituelle Leben befeuerten: in wertvolle Stoffe verpackte Reliquien, das Schweißtuch, das Veronika Jesus auf dem Weg nach Golgatha gereicht haben soll, Grabtücher wie das in Turin oder der Schleier, mit dem Maria Jesu Nacktheit am Kreuz bedeckt haben soll. Wie stellte sich der mittelalterliche Mensch Jesus am Kreuz vor? War er nackt oder bekleidet? Im Hochmittelalter wurde die Frage, in welchem Spannungsverhältnis das Textile zum Nackten stehe, ausgiebig diskutiert. Die Kunsthistoriker kennen nicht nur nackte Jesuskinder, sondern auch eine ganze Reihe Darstellungen des erwachsenen Jesus, wie er splitternackt am Kreuz hängt. Aber zu einer abschließenden Klärung der Frage "nackt oder angezogen" ist man nie gekommen. Viel wichtiger war für die Gläubigen der übergeordnete Gedanke vom Blutopfer 7 Christi. Alles drehte sich um das Blut. Bereits das bei Geburt und Beschneidung vergossene Blut las man als Verweis auf das Martyrium am Kreuz. Die Erzählungen von Weihnachten und Ostern bildeten eine Einheit, egal ob man sich Jesus nun nackt vorstellte oder bekleidet wie einen König. Charlotte Klack-Eitzen: Eine besonders schöne Geschichte, finde ich, ist ja das Kleid, das er ohne Naht getragen hat und um das die Soldaten würfeln während der Kreuzigung. Das sieht man ja ganz oft auf den Altarbildern. Und in Hamburg gibt es auf einem einzigen Altar eine Maria, die ein Kleid mit vier Stricknadeln strickt, ein Kleid, das er als Kind schon hätte anziehen können, das mit ihm mitwächst, weil die Strickmaschen ja flexibel sind. Und sie trägt also durch ihre Strickerei zu seiner Passionsgeschichte bei, könnte man sagen. Und das ist eben auch das Selbstverständnis der Nonnen im Umgang mit dem Jesuskind, dass sie eben auch dazu beitragen zu diesem Erlösungswerk. Atmo: Gesänge Sprecher: Die hoch- und spätmittelalterliche Mystik hatte sich einen Gott zum Anfassen geschaffen. Sein Leib war menschlich und anschaulich geworden. Atmo: Restaurierungswerkstatt: Suche nach dem kleinsten Kleidchen (9,5 cm) und dessen im Nonnenstaub gefundenem Gegenstück, miederartig geschnittenes vermutliches Christkindgewand Sprecher: Auch die Jesuskleider im Kloster Wienhausen geben viel von dieser neuen gedanklichen Orientierung preis. Manche sind nicht pompös, sondern eher kess geschnitten, miederartige Hängerchen, wie die Restauratorinnen sagen. Kein Wunder, denn das Hochmittelalter war zudem die Zeit der Minne, geprägt von einer subtilen, zurückgehaltenen Erotik. Die machte auch vor den Klostermauern nicht halt. Im Gegenteil. Charlotte Klack-Eitzen: Grade in Nonnenklöstern gibt es Quellen, die eben zeigen, dass die Nonnen ein sehr intimes Verhältnis zu diesen Figuren entwickelt haben. Es gab Wiegen, in diese Wiegen konnten diese Figuren hineingelegt werden. Sie wurden gewickelt, sie wurden bekleidet. Die Nonne berichtet darüber, dass das Kind nicht in seiner Wiege bleiben wollte, sondern lieber zu ihr ins Bett möchte, und dass sie ihm dann auch nachgegeben hat und was für ein wunderbares Erlebnis es gewesen sei, mit Jesus zusammen zu schlafen sozusagen (lacht). Das ist sicher auch so gewesen, aber ich denke nicht in dem Maße, wie wir das vielleicht denken. Aber die Männer der damaligen Zeit haben das natürlich sehr stark wahrgenommen und haben das auch mit großem Misstrauen betrachtet. 8 Atmo: Orgelmusik Sprecher: Schon alt ist etwa die Kritik an den Beschneidungsandachten und dem Spiel um das Enthüllen des Geschlechtsteils, des sogenannten "Zäserleins" des Jesusknabens. Das Wort Zäserlein bezeichnete im Mittelalter einen Blütenstängel, vulgär den Penis. Die Beschneidung galt als erstes "kleines" Blutopfer Jesu. Klöster wie Gutenzell bei Biberach besaßen bekleidete Jesusfiguren mit einem speziell eingenähten Eingriff für den chirurgischen Eingriff, der bei der Beschneidungsandacht nachgespielt wurde. Aber schon die Tatsache, dass Jesuskinder nach Auffassung vieler Nonnen partout ein plastisch ausgearbeitetes Geschlecht besitzen mussten, löste bei kirchlichen Würdenträgern heftige Abwehrreaktionen aus. Der Kunsthistoriker Johannes Tripps: Johannes Tripps: Wir haben da vor allem die Kritik des Predigers am Straßburger Münster, Geiler von Kaysersberg 1517, wo er eben klagt, dass jedes Christkind ein Zeserlin haben muss. Darauf würden die Nonnen achten, und wenn das Christkind das nicht habe, würde man’s zurück weisen. Das Kind muss dieses Geschlechtsteil besitzen, dass wenn man vorne das Mäntelchen öffnet zu der Beschneidungsandacht, dass man die Sache dann auch sieht. Sprecher: Erst auf dem Konzil von Trient, rund 150 Jahre später, wurden die Christkind-Figuren geschlechtslos. Überhaupt aber haben erst das moderne Denken und die Aufklärung dem Spiel mit den heiligen Garderoben und damit allem "Priestertrug" und "Dockenwerk" – benannt nach dem Begriff "Docke" für "Puppe" - in Mitteleuropa den Garaus gemacht. In Klöstern wie Wienhausen, das nach der Reformation in ein lutherisches Damenstift umgewandelt wurde, wurden die heiligen Docken, die heiligen Puppen, wie schriftliche Quellen belegen, dennoch lange in Ehren gehalten. Luther selbst war anders als andere Reformatoren kein Bilderstürmer. Gegen heilige Bildwerke hatte er prinzipiell nichts einzuwenden, wenn sie den Gläubigen nicht zu tief in die Tasche griffen wie im Falle einer Madonnenfigur mit einem geldgierigen Christuskind, die dem Kurfürst von Sachsen gehörten. Johannes Tripps: Wir haben ja eine berühmte Quelle aus Luthers Tischreden, dass der Kurfürst von Sachsen im Bauernkrieg ein Bild bekommen habe, ein Marienbild, da könne sich das Christkind dem Frommen zuwenden oder von ihm abwenden, je nachdem wie viel er der Kirche gestiftet habe, und das Ganze würde mit Hilfe von Seilzügen, Schnüren, Drähten gemacht, und das sei Vexiererei, also man habe den, der gestiftet hat, getäuscht. Denn habe er viel gegeben, habe sich das Christkind ihm zugewendet und ihn gesegnet, habe er wenig gegeben, habe sich das Christkind abgewendet. Die Frage ist nur, ob’s die Laien nicht wirklich gesehen haben, ob das Ganze nicht in Heiliges Spiel fällt. Das heißt, der Laie war in einer Kirche des 15. Jahrhunderts mit mechanischem Spielwerk bestens vertraut, und ich glaube deshalb eben, dass Luther eher reformatorische Propaganda ist und dass die Leute das sehr wohl als Heiliges Spiel erkannt haben, wenn eine Figur sich da bewegt hat. 9 Atmo: Orgelmusik Sprecher: Religion und Kirche als performativ, als kunstvoll bespielter Raum. Das Himmlische verkörpert sich in heiligen Gewändern. Glaubt man dem Experten, so hat sich der mittelalterliche Mensch von dem Vexierspiel nicht täuschen lassen. Dumm war er nicht. Aber einen anderen Horizont besaß er gegenüber den Heutigen gleichwohl. In den heiligen Garderoben wird eine andere Form von Religion sichtbar, eine geschaute und inszenierte Frömmigkeit. Nur an wenigen Orten Europas ist diese mittelalterliche Tradition erhalten geblieben, etwa in den Bekleidungsritualen um die schwarze Madonna im Kloster Einsiedeln in der Schweiz oder beim sogenannten Gnadenbild im Aachener Dom. Heute, im Zeitalter des Visuellen, erlebt diese Form der Volksfrömmigkeit eine heimliche Renaissance. ***** 10
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