Heilige Haute Couture

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Heilige Haute Couture
Jesus und Maria und ihre Garderoben
Von Hans-Volkmar Findeisen
Sendung: Freitag, 16. Dezember 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Charlotte Grieser
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Sprecher:
Vor einigen Jahren veröffentlichte die Zeitschrift National Geographic eine Reportage
über einen abstrus wirkenden Brauch in einer Region Mexikos: Berichtet wurde über
Frauen, die sich an Karfreitag in die Kirche begeben, um den nackten Heiland vom
Kreuz zu nehmen und der Skulptur des Erlösers ihre rosaroten Schlüpfer
überzuziehen. Die Unterhosen zierte eine gestickte Rose - das Symbol der Liebe und
Fruchtbarkeit. Im buddhistischen Thailand sind Figuren ähnlich unseren
Spielzeugpuppen gerade der letzte Schrei. Die Menschen dort tragen sie in den
Tempel, lassen sie segnen und nehmen sie wieder mit nach Hause, um mit ihnen
ihre Tage und Nächte zu verbringen. Die Kleidung wechselt je nach Anlass. Viele
beschreiben diese neue Lebensgemeinschaft mit den geheiligten Puppen als äußerst
beglückend.
Atmo:
Archivar Kloster Wienhausen liest Inventarliste der Heiligenkleider (1671) vor.
Sprecher:
Mit heiligen Bildwerken zu leben, sie zu bekleiden, aber auch zu waschen, zu
küssen, zu bekochen, sie sogar zu stillen oder die Figuren gegebenenfalls von
Ungeziefer zu befreien, von solch abstrusen Brauchtümern ist Europa weit entfernt.
Denkt man. Tatsächlich ist der lebensechte Umgang mit religiösen Bildwerken,
insbesondere das Bekleiden von Jesuskindern und Marienfiguren, ein zentrales
Motiv der abendländischen Kulturgeschichte.
Gesänge
Ansage:
Heilige Haute Couture – Jesus, Maria und ihre Garderoben. Eine Sendung von HansVolkmar Findeisen.
Atmo :
Archivar Kloster Wienhausen liest Inventarliste der Heiligenkleider (1671) vor.
Sprecher:
Beispiel: das Kloster Wienhausen bei Celle. Hier liest der Archivar aus einer alten
Kleider-Inventarliste vor. Viele Heiligenfiguren in Europa besaßen umfangreiche
Garderoben und fleißige Garderobieren, die sich darum kümmerten, etwa die Frau
des spanischen Diktators Francisco Franco. Ein Ehrenamt! Nicht zuletzt mit dem
Weihnachtsfestkreis sind die Bekleidungsrituale eng verbunden.
Die Kunsthistorikerin und gelernte Restauratorin Charlotte Klack-Eitzen von der
Universität Hamburg hat eine lange Reise durch die europäische Geschichte der
Figurenbekleidung hinter sich gebracht und viel gefunden. Ihr Fazit:
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Charlotte Klack-Eitzen:
Das war überall ganz üblich und ist es noch immer, also sowohl in Süddeutschland,
aber auch in Italien, in Spanien, aber auch in Belgien gibt es sehr viele bekleidete
Skulpturen.
Atmo:
Rundgang Kloster Wienhausen: Altes Türschloss wird geöffnet, Schritte
Sprecher:
Schwieriger als die Dokumentation der gegenwärtigen Bräuche ist es, zu den
Anfängen des Skulpturen-Kleiderkults im 13. Jahrhundert zurückzufinden. Eine
Schlüsselstellung in unseren Breiten nimmt wiederum das ehemalige
Zisterzienserinnenkloster Wienhausen bei Celle ein. Es wurde während der
Reformation in ein lutherisches Damenstift umgewandelt, das unter der Leitung einer
evangelischen Äbtissin als Konvent bis heute existiert. Seine historischen Schätze
locken eine Vielzahl von Besuchern an.
Atmo:
Äbtissin erklärt "eine der Figuren mit Ornaten" (Auferstehungschristus)
Sprecher:
Äbtissin von Randows Konvent besitzt rund zwanzig heilige Kleidchen. Das kleinste
bedeckt grade mal die Fläche einer Hand, das größte könnte auch zu einem Baby
passen. In den letzten Jahren hat man den Schatz wiederentdeckt und aufwendig
restauriert. Die Textil-Restauratorin Tanja Weißgraf, die im benachbarten Kloster
Lüne arbeitet, hat jahrelang an der Konservierung der Wienhauser Kleidchen
gearbeitet.
Tanja Weißgraf:
An Geweben haben wir Gewebe ab dem 13. Jahrhundert vermutlich, 13. bis 15.
Jahrhundert, Samte, gemusterte Seidengewebe aus Italien, aus dem Orient, aus
China eine Seide ganz besonders. Darüber hinaus wurden Seidenfäden für die
Stickereien verarbeitet, Flussperlen, die wiederum aus heimischen Flüssen
stammten, aber auch Schmucksteine und Schmuckbleche, die sogenannten
Brakteaten, geprägte Schmuckbleche, und es wurden auch Fellstreifen an die
Kleidchen angesetzt, die Hermelin imitierten.
Sprecher:
Ein Heiligenkleid folgt seinen eigenen Schnitttechniken. Oft wurde es den Figuren auf
der sichtbaren Seite nur wie ein Lätzchen umgehängt und am Rücken mit Bändern
befestigt. Andere, komplette Gewänder besaßen Aussparungen, etwa um sie einer
Maria mit Jesuskind auf dem Arm so überziehen zu können, dass das Kind sichtbar
blieb. Anfangs zählten nur Wert und Herkunft der kostbaren Kleider. Richtige Moden
und komplett durchgestylte Garderoben wurden erst mit Anbruch der Neuzeit üblich.
Etwa im Zeitalter der Entdeckung Amerikas, als das Jesuskind sich je nach
Gelegenheit mit einem farbenfrohen Papageno-Dress aus Papageienfedern in Szene
setzte oder in der Zeit des Barock, als die heiligen Skulpturen-Röcke sich an der
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Kleiderpracht des französischen Hofes orientierten und sogar Schühchen, Söckchen
und Unterwäsche besaßen.
Atmo:
Restaurationswerkstatt: Nähen mit Rundnadeln aus Augenchirurgie
Sprecher:
Im Mittelalter war noch jedes einzelne Gewand wie ein großes Puzzlespiel, jedes
bestand aus kleinen und kleinsten Teilen. Tanja Weißgraf und ihre Chefin, die
Restauratorin Wiebke Haase, arbeiten vielfach mit dem Mikroskop und
mikrochirurgischen Instrumenten, wie man sie eher im Operationssaal vermuten
würde – zum Beispiel Nadeln, die eigentlich für Augenoperationen gedacht sind.
Wiebke Haase:
Bei dem einen Gewand hatten wir roten Samt, also der Eindruck war roter Samt. Er
war aber im Prinzip zusammengesetzt aus bis zu acht verschiedenen Samten. Also,
ich spreche jetzt nicht von einzelnen Fragmenten, sondern unterschiedlichen
Geweben. Und das bedeutet, also sie haben dann schon auch Puzzle-Arbeit
betrieben, um diese Schnitteile zusammenzusetzen, für die Arme, für den vorderen
Latz, der auch noch verziert war, immer mit einem Besatzstreifen, darauf Brakteaten
und die Perlen, die es jetzt zum Teil gar nicht mehr gibt.
Sprecher:
Eine besondere Schneiderwerkstatt besaßen die Nonnen nicht. Den Mittelpunkt des
kollektiven Lebens bildete der Chor der Kirche. Er war Ort für Andacht und
offensichtlich auch Arbeit. Denn als die Restauratoren dort die Dielen anhoben,
fanden sie ihre Vermutung bestätigt: Im sogenannten Nonnenstaub unter dem Boden
lag so Einiges, was im Laufe der Jahrhunderte durch die Ritzen der Dielen gefallen
war.
Charlotte Klack-Eitzen:
Bei der Menge von Nadeln, die man da gefunden hat, muss es so gewesen sein. Sie
müssen eigentlich da in ihren Stühlen gesessen haben, und die Nadeln sind ihnen
durch die Fußbodenbretter hindurchgefallen. Sie sind ihnen runtergefallen,
irgendjemand hat dann gefegt, wutsch weg waren sie (lacht) und im Nonnenstaub
verschwunden.
Sprecher:
Im Nonnenstaub des Klosters Wienhausen fanden sich aber nicht nur Nadeln,
sondern auch Kleiderfragmente, eine kleine Jesusfigur aus Alabaster im
Handschmeichlerformat, Webbrettchen und sogar Brillen. Wienhausen besitzt eine
der ältesten Brillensammlungen der Welt. Die Brillen der Nonnen geben Zeugnis
davon, auf welche Fusselarbeit sich die geistlichen Damen einließen und welcher
Aufwand bei der Ausstattung der Miniatur-Skulpturen gemacht wurde …,
Wiebke Haase:
… dass es nur das Beste sein sollte für diese Skulpturenkleidchen. Also, sie sind mit
Sicherheit nicht von sich und ihrer eigentlichen Bekleidung ausgegangen. Denn
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diese Gewebe, die sie verwendet haben, kamen im Nonnenalltag nicht vor: roter
Seidensamt, blauer Seidensamt, gemusterte Lucca-Seiden mit Silberbroschierung,
das gab’s mit Sicherheit nicht im Alltag einer Nonne.
Atmo:
geistliche Musik
Sprecher:
Wienhausen stand im Zentrum einer geradezu epochalen Entwicklung. Im
Hochmittelalter, im Zeitalter der Gotik also, kam das religiöse Leben in Schwung:
Nicht allein die intellektuelle Theologie der Scholastiker bestimmte von nun an das
spirituelle Terrain. Auf der anderen Seite wurde nun auf einmal heilige Geschichte
lebensecht nachgespielt und sinnlich inszeniert. Heilige Bilder und Figuren,
gelegentlich waren es auch als Heilige verkleidete Kleriker oder Nonnen, sprachen,
bluteten und weinten. Engel flatterten durch die Gotteshäuser, gezogen von
Schnüren, Seilen und unsichtbaren Mechaniken. Aus den sogenannten
Himmelslöchern der Kirchengewölbe regnete es Oblaten, Rosenblätter, geweihtes
Wasser, und gelegentlich fiel auch mal eine Hilfskraft herab, wenn sie nicht
aufpasste.
Johannes Tripps ist Professor für Kunstgeschichte und unterrichtet an der Fakultät
für Medien der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur in Leipzig. Tripps zählt
international zu den Pionieren in Sachen liturgische Inszenierungen des Hoch- und
Spätmittelalters. Seine Forschungen zeigen eine sehr menschliche Form der
Begegnung mit dem Heiligen, die man heute wieder zu entdecken beginnt. Beispiele
für diese verlorenen Traditionen findet man in Straßburg, Augsburg, Biberach oder
etwa Schwäbisch Hall.
Johannes Tripps:
Es ist vor allem, weil die Städte an Macht und Reichtum gerade im 13. und 14.
Jahrhundert enorm neben den weltlichen und den kirchlichen Adel als Auftraggeber
treten, dass eben auch die Städte gerade Heiligengeschichte, heilige Geschichte
enorm inszenieren in ihren Kirchengebäuden. Und da ist ein wunderschöner Fall
eben Sankt Michael in Schwäbisch Hall, wo wir mehrere Ringe im Gewölbe haben
und eben wissen, dass ein Ring dazu diente, an Mariä Himmelfahrt die Mutter Gottes
ins Gewölbe hochzuziehen, also Mariä Himmelfahrt nachzuspielen, im nächsten
Christi Himmelfahrt, und im Chor hat man dann an Pfingsten die Heiliggeisttaube
fliegen lassen und hat brennende Wergbällchen, also gezupften groben Flachs,
nachgeworfen, um diese Feuerzungen zu symbolisieren, die über Apostel und die
Maria kamen. Das heißt, die Kirche, das Kirchengebäude wird immer mehr zu einer
Art Erlebnisraum, wo man die einzelnen Stadien des Kirchenjahres und der
Kirchenfeste tatsächlich inszenieren kann und daran teilnehmen.
Atmo:
Liturgie
Sprecher:
Religionen haben generell einen großen Hang zum Textilen: Das Verhüllen und
Verschleiern mit Tüchern oder Vorhängen steht für den Wunsch der Menschen, das
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Heilige und seine Kräfte zu bändigen und bei Bedarf für sich nutzbar zu machen. Es
gehört zu den Totenritualen, zum antiken Tempelkult beziehungsweise zum Kult des
antiken und byzantinischen Gott-Kaisertums. Skulpturen des Kaisers wurden wie
richtige Menschen in die Provinzen gefahren, Kerzen entzündet, Weihrauch
verbrannt, und das Volk huldigte ihnen und sang das kyrie eleison. Diesen
Herrscherkult hat die Kirche mit der Zeit auf Christus und die Heiligen übertragen.
Die Abbilder des Heiligen waren selbst wie ihr Urbild zu richtigen Personen
geworden, zu sogenannten handelnden Bildwerken, wie die Kunsthistoriker sie
nennen. Italien und insbesondere Florenz dienten als wichtiger Brückenkopf bei der
Vermittlung der antiken und byzantinischen Traditionen in den Westen. Insbesondere
die Kreuzzugszeit, als 1204 die Kreuzfahrerheere Konstantinopel überfielen und
seiner Kunstwerke und Reliquienschätze beraubten, blieb für den abendländischen
Bildkult nicht folgenlos. Die "maniera greca", die byzantinische Auffassung, dass es
nicht von Menschenhand gemachte Bildwerke gab, beeinflusste die religiöse Kunst.
Doch während die östlichen Ikonen starr und unbeweglich waren, versuchte der
Westen, die Heiligen und das Heilige realistisch und bewegt darzustellen.
Nicht zufällig tauchten die ersten Figuren des Jesuskindes, sogenannte Bambini, in
Florenz und in der Toskana auf. Dort propagierte insbesondere Franz von Assisi den
Kult um das Jesuskind. Im 13. Jahrhundert explodierte der Kult um die JesusBambini förmlich. Besonders in Mechelen bei Antwerpen wurden damals Figuren fast
wie am Fließband produziert.
Charlotte Klack-Eitzen:
Sie haben so eine porzellanmäßige Bemalung, ganz hell rosa, sehr fein, immer so
leicht geschlitzte Augen, goldene Haare und so ein verschmitztes Lächeln auf dem
Gesicht (lacht), und sie stehen auf kleinen Sockeln, stehen frei und haben die Arme
irgendwie mit einer kleinen goldenen Kugel und einem Segensgestus nach vorne
gestreckt und eignen sich deshalb besonders gut zum Bekleiden.
Sprecher:
Nicht nur im engeren kirchlichen Bereich, sondern auch in den Privathäusern, auf
Hausaltären und in Privatkapellen hielten die Bambini Einzug - zum Gebrauch das
ganze Jahr über. Jesuskind-Figuren wurden in Florenz etwa den Frauen bei der
Hochzeit als Teil ihrer Aussteuer geschenkt. Bald widmeten sich die auch in
Deutschland weit verbreiteten Hausbücher, eine Art Knigge bürgerlicher
Lebensführung, unter anderem dem richtigen und segensreichen Umgang und der
Pflege der Jesuskinder durch die Bürgersfrauen. Dabei ging es nicht nur um
Kleidung, sondern etwa auch um die Speisung der Jesusse, die mitunter eigene
Miniatur-Tische und -Gedecke besaßen und mitsamt Vater Joseph, Mutter Maria,
Opa Joachim und Großmutter Anna an den Mahlzeiten ihrer Gastfamilien
teilzunehmen pflegten. Was sie nicht aßen oder besser: nicht essen konnten,
bekamen die Armen. Selbst ungebildete Laien auf dem Lande, die bei weitem nicht
die Mittel besaßen, um die kostbaren Jesusfiguren selbst zu kaufen und
auszustatten, legten großen Wert darauf, beim Skulpturenkult nicht hinter die Klöster
zurückzufallen.
Atmo:
Gesänge
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Sprecher:
Alt ist die Vorstellung, dass die Nonnen Bräute Christi seien. Aber erst im
Hochmittelalter wurde sie popularisiert, und man übertrug die weltlichen
Hochzeitsbräuche auch auf den Bereich der Frauenklöster. Der Eintritt in den
abgeschlossenen Bereich des Klosters, in die Klausur, bedeutete einen Abschied
von der Welt draußen – für immer. Im Mittelalter war es üblich, selbst Kleinkinder den
Klöstern zu übereignen. Die dort allgegenwärtigen Jesuspuppen passten in die
kindliche Welt der Orden. Hatte ein junges Mädchen das Alter erreicht, um als 16oder 18-Jährige das Ordensgelübde abzulegen, führte es der Vater wie bei einer
bürgerlichen Hochzeit an die Klostertür, um die Tochter Christus als Braut zu
übergeben. Zur Aussteuer gehörte selbstverständlich auch eine Jesusfigur aus Holz
oder Alabaster. Die Kunsthistorikerin Charlotte Klack-Eitzen:
Charlotte Klack-Eitzen:
Man weiß auch, dass solche Jesuskinder den Nonnen geschenkt wurden in dem
Moment, als sie ins Kloster eintraten. Und einerseits wurden sie dann so als
Trösterlein bezeichnet, eben um den Abschied zu erleichtern, aber andererseits eben
auch sicherlich als Andachtsbild für sie persönlich. Und es wird dann auch
beschrieben, dass sie dann schon bekleidet waren. Also ein Ratsherr aus Köln hat
geschrieben, dass seine Tochter ein Jesuskind bekam: "Es gab keinen schöneren im
Kloster mit einem samtenen Rock und einer Reliquie vom Blut Jesu hatte er
umhängen", ja.
Sprecher:
Im Boom der heiligen Bildwerke spiegelt sich der tiefe Riss, der im Hochmittelalter
die Kirche durchzog und bis heute durchzieht: Auf der einen Seite formierte sich der
Klerus als universitär gebildeter und lateinisch sprechender Theologen-Stand. Er
beanspruchte das Monopol, den Text der Bibel dogmatisch korrekt auszulegen. Auf
der anderen Seite stand die Volksreligiosität der ungebildeten Laien und der
Klosterfrauen. Laien und Frauen besaßen nach der gängigen theologischen und
medizinischen Erkenntnis ein poröses Gehirn. Dieses erlaubte ihnen die
Heilsgeschichte nicht über den Bibeltext, sondern nurmehr über belebte Bilder zu
erfassen. Die mystische Vision, die meditative Hingabe an heilige Bildwerke, bildete
den Türöffner, der es dem einfachen Gläubigen ermöglichte, sich dem Göttlichen zu
nähern. Zu diesen Türöffnern zählten nicht nur Skulpturen-Kleider, sondern auch
eine ganze Reihe weiterer heiliger Textilien, die seinerzeit mit einem Male das
spirituelle Leben befeuerten: in wertvolle Stoffe verpackte Reliquien, das
Schweißtuch, das Veronika Jesus auf dem Weg nach Golgatha gereicht haben soll,
Grabtücher wie das in Turin oder der Schleier, mit dem Maria Jesu Nacktheit am
Kreuz bedeckt haben soll.
Wie stellte sich der mittelalterliche Mensch Jesus am Kreuz vor? War er nackt oder
bekleidet? Im Hochmittelalter wurde die Frage, in welchem Spannungsverhältnis das
Textile zum Nackten stehe, ausgiebig diskutiert. Die Kunsthistoriker kennen nicht nur
nackte Jesuskinder, sondern auch eine ganze Reihe Darstellungen des
erwachsenen Jesus, wie er splitternackt am Kreuz hängt. Aber zu einer
abschließenden Klärung der Frage "nackt oder angezogen" ist man nie gekommen.
Viel wichtiger war für die Gläubigen der übergeordnete Gedanke vom Blutopfer
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Christi. Alles drehte sich um das Blut. Bereits das bei Geburt und Beschneidung
vergossene Blut las man als Verweis auf das Martyrium am Kreuz. Die Erzählungen
von Weihnachten und Ostern bildeten eine Einheit, egal ob man sich Jesus nun
nackt vorstellte oder bekleidet wie einen König.
Charlotte Klack-Eitzen:
Eine besonders schöne Geschichte, finde ich, ist ja das Kleid, das er ohne Naht
getragen hat und um das die Soldaten würfeln während der Kreuzigung. Das sieht
man ja ganz oft auf den Altarbildern. Und in Hamburg gibt es auf einem einzigen
Altar eine Maria, die ein Kleid mit vier Stricknadeln strickt, ein Kleid, das er als Kind
schon hätte anziehen können, das mit ihm mitwächst, weil die Strickmaschen ja
flexibel sind. Und sie trägt also durch ihre Strickerei zu seiner Passionsgeschichte
bei, könnte man sagen. Und das ist eben auch das Selbstverständnis der Nonnen im
Umgang mit dem Jesuskind, dass sie eben auch dazu beitragen zu diesem
Erlösungswerk.
Atmo:
Gesänge
Sprecher:
Die hoch- und spätmittelalterliche Mystik hatte sich einen Gott zum Anfassen
geschaffen. Sein Leib war menschlich und anschaulich geworden.
Atmo:
Restaurierungswerkstatt: Suche nach dem kleinsten Kleidchen (9,5 cm) und dessen
im Nonnenstaub gefundenem Gegenstück, miederartig geschnittenes vermutliches
Christkindgewand
Sprecher:
Auch die Jesuskleider im Kloster Wienhausen geben viel von dieser neuen
gedanklichen Orientierung preis. Manche sind nicht pompös, sondern eher kess
geschnitten, miederartige Hängerchen, wie die Restauratorinnen sagen. Kein
Wunder, denn das Hochmittelalter war zudem die Zeit der Minne, geprägt von einer
subtilen, zurückgehaltenen Erotik. Die machte auch vor den Klostermauern nicht halt.
Im Gegenteil.
Charlotte Klack-Eitzen:
Grade in Nonnenklöstern gibt es Quellen, die eben zeigen, dass die Nonnen ein sehr
intimes Verhältnis zu diesen Figuren entwickelt haben. Es gab Wiegen, in diese
Wiegen konnten diese Figuren hineingelegt werden. Sie wurden gewickelt, sie
wurden bekleidet. Die Nonne berichtet darüber, dass das Kind nicht in seiner Wiege
bleiben wollte, sondern lieber zu ihr ins Bett möchte, und dass sie ihm dann auch
nachgegeben hat und was für ein wunderbares Erlebnis es gewesen sei, mit Jesus
zusammen zu schlafen sozusagen (lacht). Das ist sicher auch so gewesen, aber ich
denke nicht in dem Maße, wie wir das vielleicht denken. Aber die Männer der
damaligen Zeit haben das natürlich sehr stark wahrgenommen und haben das auch
mit großem Misstrauen betrachtet.
8
Atmo:
Orgelmusik
Sprecher:
Schon alt ist etwa die Kritik an den Beschneidungsandachten und dem Spiel um das
Enthüllen des Geschlechtsteils, des sogenannten "Zäserleins" des Jesusknabens.
Das Wort Zäserlein bezeichnete im Mittelalter einen Blütenstängel, vulgär den Penis.
Die Beschneidung galt als erstes "kleines" Blutopfer Jesu. Klöster wie Gutenzell bei
Biberach besaßen bekleidete Jesusfiguren mit einem speziell eingenähten Eingriff für
den chirurgischen Eingriff, der bei der Beschneidungsandacht nachgespielt wurde.
Aber schon die Tatsache, dass Jesuskinder nach Auffassung vieler Nonnen partout
ein plastisch ausgearbeitetes Geschlecht besitzen mussten, löste bei kirchlichen
Würdenträgern heftige Abwehrreaktionen aus. Der Kunsthistoriker Johannes Tripps:
Johannes Tripps:
Wir haben da vor allem die Kritik des Predigers am Straßburger Münster, Geiler von
Kaysersberg 1517, wo er eben klagt, dass jedes Christkind ein Zeserlin haben muss.
Darauf würden die Nonnen achten, und wenn das Christkind das nicht habe, würde
man’s zurück weisen. Das Kind muss dieses Geschlechtsteil besitzen, dass wenn
man vorne das Mäntelchen öffnet zu der Beschneidungsandacht, dass man die
Sache dann auch sieht.
Sprecher:
Erst auf dem Konzil von Trient, rund 150 Jahre später, wurden die Christkind-Figuren
geschlechtslos. Überhaupt aber haben erst das moderne Denken und die Aufklärung
dem Spiel mit den heiligen Garderoben und damit allem "Priestertrug" und
"Dockenwerk" – benannt nach dem Begriff "Docke" für "Puppe" - in Mitteleuropa den
Garaus gemacht. In Klöstern wie Wienhausen, das nach der Reformation in ein
lutherisches Damenstift umgewandelt wurde, wurden die heiligen Docken, die
heiligen Puppen, wie schriftliche Quellen belegen, dennoch lange in Ehren gehalten.
Luther selbst war anders als andere Reformatoren kein Bilderstürmer. Gegen heilige
Bildwerke hatte er prinzipiell nichts einzuwenden, wenn sie den Gläubigen nicht zu
tief in die Tasche griffen wie im Falle einer Madonnenfigur mit einem geldgierigen
Christuskind, die dem Kurfürst von Sachsen gehörten.
Johannes Tripps:
Wir haben ja eine berühmte Quelle aus Luthers Tischreden, dass der Kurfürst von
Sachsen im Bauernkrieg ein Bild bekommen habe, ein Marienbild, da könne sich das
Christkind dem Frommen zuwenden oder von ihm abwenden, je nachdem wie viel er
der Kirche gestiftet habe, und das Ganze würde mit Hilfe von Seilzügen, Schnüren,
Drähten gemacht, und das sei Vexiererei, also man habe den, der gestiftet hat,
getäuscht. Denn habe er viel gegeben, habe sich das Christkind ihm zugewendet
und ihn gesegnet, habe er wenig gegeben, habe sich das Christkind abgewendet.
Die Frage ist nur, ob’s die Laien nicht wirklich gesehen haben, ob das Ganze nicht in
Heiliges Spiel fällt. Das heißt, der Laie war in einer Kirche des 15. Jahrhunderts mit
mechanischem Spielwerk bestens vertraut, und ich glaube deshalb eben, dass
Luther eher reformatorische Propaganda ist und dass die Leute das sehr wohl als
Heiliges Spiel erkannt haben, wenn eine Figur sich da bewegt hat.
9
Atmo:
Orgelmusik
Sprecher:
Religion und Kirche als performativ, als kunstvoll bespielter Raum. Das Himmlische
verkörpert sich in heiligen Gewändern. Glaubt man dem Experten, so hat sich der
mittelalterliche Mensch von dem Vexierspiel nicht täuschen lassen. Dumm war er
nicht. Aber einen anderen Horizont besaß er gegenüber den Heutigen gleichwohl. In
den heiligen Garderoben wird eine andere Form von Religion sichtbar, eine
geschaute und inszenierte Frömmigkeit. Nur an wenigen Orten Europas ist diese
mittelalterliche Tradition erhalten geblieben, etwa in den Bekleidungsritualen um die
schwarze Madonna im Kloster Einsiedeln in der Schweiz oder beim sogenannten
Gnadenbild im Aachener Dom. Heute, im Zeitalter des Visuellen, erlebt diese Form
der Volksfrömmigkeit eine heimliche Renaissance.
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