THEMA Rot- & Rehwild: Ist die Winter fütterung noch zeitgemäß? Immer wieder wird über Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Winterfütterung von Rot- und Rehwild diskutiert. Zahlreiche Jäger, für die diese Maßnahme immer als fester Bestandteil der Hege galt, sind verunsichert. Macht die oft mit sehr großem Aufwand betriebene Winterfütterung heute noch Sinn? – 1. Teil: Rotwild. Dr. Miroslav Vodnansky Mitteleuropäisches Institut für Wildtierökologie Wien – Brünn – Nitra L ange Zeit galt die Winterfütterung von Rot- und Rehwild als verpflich tende und in ihrer Bedeutung un umstrittene Maßnahme der jagdlichen Praxis. Daher wurde sie als Fütterungs gebot in den Notzeiten auch in den Jagdgesetzen verankert, wobei der Begriff der „Notzeit“ nicht konkret definiert ist. Seit einiger Zeit wird jedoch die Zweck mäßigkeit der Winterfütterung immer wieder angezweifelt. Dies oft unter der Begründung, dass die „unnatürliche“ Nahrungsversorgung die physiologische Anpassung der Wildtiere auf winterliche Bedingungen – wie es manchmal interpretiert wird – beeinträchtige. Die Erkenntnisse, auf denen diese Argumentation aufgebaut ist, sind jedoch nichts Neues. Seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass sowohl beim Rot- als auch beim Rehwild der Stoffwechsel im Winter herabgesetzt und somit auch der Nahrungsbedarf geringer als in anderen Jahres zeiten ist. Das Gleiche wurde bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren bei den nordamerikanischen Hirscharten – Wapiti, Weißwedelhirsch und Maultierhirsch – sowie dem Elch festgestellt und mehr- 10 ww0115_s1012.indd 10 fach beschrieben. Der Grund für den geringeren Nahrungsbedarf dieser Wild arten im Winter liegt in ihrer hervor ragenden Anpassung an den saisonal bedingten Wechsel der klimatischen Bedingungen und die natürliche Verringerung ihres Äsungsangebots. Ist die Winter fütterung unter diesen Gesichtspunkten überhaupt sinnvoll? Und ist sie bei dem heutigen Verständnis der Jagd als nachhaltige, restriktiv aneignende Nutzung natürlicher Ressourcen überhaupt zeit gemäß? Um diese Fragen beantworten zu können, muss zu allererst klargestellt werden, was mit dieser Maßnahme angestrebt wird und unter welchen Bedingungen sie erfolgen soll. Dabei ist wiederum zu unterscheiden, ob es sich um Rotoder um Rehwild handelt. Notwendigkeit beim Rotwild? Beim Rotwild ist die Winterfütterung nur mit dem Schutz des Waldes bei Erhaltung stabiler – nicht überhöhter – Rotwild bestände zu begründen. Kein anderes Argument ist fachlich relevant! In Wirklichkeit gibt es im heutigen RotwildVer breitungsareal, selbst bei intensiver menschlicher Landschaftsnutzung, kaum Gebiete, in denen es ohne Winterfütterung nicht überleben könnte, sofern es freie Standortwahl hätte und die Wildschäden bei ausschließlicher Selbstversorgung keine Rolle spielen würden. Deshalb ist es so, dass das Rotwild die Winterfütterung grundsätzlich nicht benötigt, sondern der Mensch sie braucht, um seine eigenen Interessen zu wahren. Und es geht dabei nicht ausschließlich um jagdliche und wirtschaftliche Interessen, denn die Erhaltung einer stabilen Rotwildpopulation in geeigneten Habitaten ist nicht nur jagdwirtschaftlich wünschenswert, sondern liegt auch im landeskulturellen und somit öffentlichen Interesse. In den heutigen Lebensräumen wird diese Wildart aber durch den Menschen in jene Standorte verdrängt, die ihren physiologischen Bedürfnissen von Natur aus zumindest zeitweise nicht optimal entsprechen. Weil das Rotwild durch starke Besiedlung und intensive Verbauung der Landschaft in den tieferen Lagen von seinen WEIDWERK 1/2015 18.12.2014 11:19:23 THEMA Aufgrund der ungleichen räumlichen Verteilung des Rotwildes im Winter kann es selbst bei geringeren Bestandesdichten in bevorzugten Aufenthaltsräumen zu einem viel zu starken Äsungsdruck und somit zu Schäden kommen. Um dies zu vermeiden, ist beim Rotwild eine Fütterung auf geeigneten Standorten – selbst bei niedrigen Beständen – sinnvoll. Damit der angestrebte, schadensminimierende Effekt der Winterfütterung tatsächlich erreicht wird, muss diese unbedingt den physiologischen Anforderungen des Rotwildes entsprechen. Bei einem falsch gewählten Fütterungsstandort, einer fehlerhaften Fütterungstechnik oder einem wenig geeigneten Winterfutter kann die Fütterung sogar eine gegenteilige Wirkung erzielen, und die Wildschadensituation wird zusätzlich angeheizt! Geht es aber primär um die Vermeidung von Wildschäden, dann muss das vor gelegte Futter neben der geeigneten Nährstoffzusammensetzung auch über eine hohe geschmackliche Attraktivität verfügen. Deshalb ist es vor allem dort, wo die Fütterung eine besonders hohe Lenkungswirkung erreichen soll, oft erforderlich, auch andere Futtermittel als nur „Erhaltungsfutter“ einzusetzen. So wäre der Erhaltungsbedarf des Rotwildes im Winter allein mit gutem Wiesenheu ausreichend zu decken. Allerdings ist die Lenkungswirkung des Heues selbst bei bester Qualität oft nicht so groß, um das Rotwild in schneearmen Wintern und WEIDWERK 1/2015 ww0115_s1012.indd 11 noch mehr bei Tauwetter im Frühjahr standorte ausreichend an die Fütterungs zu binden. Diese befinden sich vielfach gerade dort, wo sich das Rotwild unter diesen Bedingungen ansonsten nicht aufhalten würde. Gerade in derartigen Situationen kann die zusätzliche Vorlage von geschmacklich sehr attraktiven Futtermitteln, wie zum Beispiel Mais- oder Grassilage, besonders sinnvoll sein. Schälen und verbeißen Ein weiteres, schwerwiegendes Problem ist die häufige Beunruhigung. Das Rotwild hat in seinem natürlichen, täglichen Äsungszyklus mehrere über den ganzen Tag verteilte Äsungsphasen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass das Rotwild Fütterungs standorte auch tagsüber auf suchen und sich dort möglichst lange ungestört aufhalten kann. Ansonsten wird sein Nahrungsbedarf nur bis zu einem gewissen Teil durch die Fütterung gedeckt – und der Rest durch die Aufnahme verfügbarer Naturäsung. Was das für die Praxis bedeutet, kann man sich anhand eines einfachen Rechenbeispiels vor Augen führen. Deckt das Rotwild beispielsweise nur etwa die Hälfte seines Nahrungsbedarfs durch die Fütterung, beträgt die zusätzliche Aufnahme von Naturäsung in den umliegen- den Einständen immer noch etwa 1–2 kg je Stück und Tag. Bei einem Rudel mit 10 Stück bedeutet dies eine Menge von etwa 10–20 kg Naturäsung. Auch wenn nur ein verhältnismäßig kleiner Teil davon aus Baumtrieben und Baumrinde besteht, sind Schäden in den Einständen trotz Winterfütterung eigentlich nicht zu verhindern. Wenn das Durchschnitts gewicht der abgebissenen Baumtriebe bei etwa 5 g liegt, würde die tägliche zusätz liche Aufnahme von 10 kg Naturäsung einem Äquivalent von rund 2.000 Trieben entsprechen. Selbst dann, wenn nur ein Teil dieses Verbisses wirklich schadens relevant wäre, würde dies einen beträcht lichen Schaden bedeuten! Verweilt das Rotwild, dessen Nahrungsbedarf nicht ausreichend an der Fütterung gedeckt wird, tagsüber in schälanfälligen Einständen, nimmt es wiederum verstärkt Baumrinde auf. In unseren Versuchen etwa betrug der Umfang der Stamm schälung beim Rotwild, das nur etwa die Hälfte seines Bedarfs durch die Aufnahme des an der Winterfütterung vor gelegten Futters (Wiesenheu) gedeckt hat, bei jungen Fichten im Durchschnitt nahezu 0,4 m² Stammfläche je Stück und Tag. Im Vergleich dazu war bei Rotwild, das mit geschmacklich attraktivem Futter ausreichend versorgt wurde, die zusätz liche Aufnahme der Baumrinde minimal. Rotwild, dessen Nahrungsbedarf nicht ausreichend an der Winterfütterung gedeckt werden kann, nimmt verstärkt Baumrinde auf – Schälschäden sind die Folge! Foto Dr. Miroslav Vodnansky natürlichen Überwinterungsräumen weit gehend abgeschnitten worden ist, muss es daher oft ganzjährig in den ursprünglich nur als Sommereinstände genutzten Räumen verbleiben. An diesen Stand orten besteht für diese Wildart jedoch in den meisten Fällen vom Herbst bis ins späte Frühjahr ein qualitativer und quantitativer Nahrungsengpass, der als Grundursache für die Entstehung von Wildschäden gilt. Unter diesen unnatür lichen Bedingungen ist die Winterfütterung eine Notmaßnahme, mit deren Hilfe der durch Menschen verursachte Äsungsmangel im Winter überbrückt und das Ausmaß der dadurch hervorgerufenen Schäden verringert werden kann. 11 18.12.2014 11:19:25 THEMA Sinnlos & schädlich? Gelegentlich wird behauptet, dass eine über den Erhaltungsbedarf hinausgehende Nährstoffversorgung durch die Fütterung im Winter eine schädliche Auswirkung auf den Organismus des Rotwildes haben könne. Tatsächlich besteht das Problem einer möglichen Überversorgung bei Futter mit viel zu hohem Eiweißgehalt. Manche Jäger glauben immer noch, dass Kondition und Geweih bildung der Hirsche durch die Vorlage bestimmter, extrem eiweißhaltiger Futtermittel positiv beeinflusst werden könne. Die intensive Fütterung mit einem solchen Futter ist aber aus physiologischen Gründen grundsätzlich falsch und daher abzulehnen! Wie wissenschaft liche Untersuchungen bewiesen haben, ist der tatsächliche Eiweißbedarf des Rotwildes im Winter sehr gering. Selbst die Bildung eines starken Geweihs stellt in dieser Zeit noch keine besonderen Anforderungen an die Versorgung mit Eiweiß. Zudem besitzt das Rotwild, ähnlich wie alle anderen Wiederkäuer, die hervorragende Fähigkeit, das Nahrungseiweiß bei eingeschränkter Zufuhr äußerst sparsam zu nutzen: Ist wenig Eiweiß in der Nahrung enthalten, wird es im Organismus der Wiederkäuer äußerst effizient verwertet. Ein wesentlicher Teil des Eiweißbedarfs wird nämlich bei den Wiederkäuern von jenem Eiweiß gedeckt, das die im Pansen in großen Mengen vorkommenden Mikro organismen (Bakterien und einzellige Protozoen) während ihres Wachstums bilden. Bei einem über den Bedarf hinausgehenden Angebot wird 12 ww0115_s1012.indd 12 hingegen das im Überschuss zugeführte Eiweiß vermehrt als Energiequelle genutzt. Die Nutzung von Nahrungseiweiß zur Deckung des Energiebedarfs ist allerdings mit erhöhten Energieverlusten für den Stoffwechsel verbunden. Die Eiweißbausteine werden im Zuge komplizierter Stoffwechselvorgänge im Organismus in energiehaltige Verbindungen umgebaut und die überflüssigen Stoff wechsel produkte (vor wiegend Harnstoff) aus dem Körper ausgeschieden. Aus diesem Grund ist eine über mäßige Eiweißver sorgung des Rotwildes im Winter nicht nur absolut sinnlos, sondern sogar schädlich. Ein Eiweißgehalt von etwa 8 % in der Nahrung (bezogen auf die Trockensubstanz) ist für das Rotwild im Winter völlig ausreichend. Demnach weisen die in der Rotwildfütterung am meisten verwendeten Futtermittel, wie Wiesenheu, Gras- und Maissilage, einen dem Bedarf entsprechenden Eiweißgehalt auf. Angepasste Wildbestände Da das Rotwild durch die Fütterung während der Winterperiode vom natürlichen Äsungsangebot weitgehend unabhängig wird, kann diese Maßnahme wesentlich zur Entlastung des Lebensraumes beitragen. Ist der Rotwildbestand aber viel zu hoch, können trotzdem – vor allem im Frühjahr und im Sommer – stärkere Verbiss- bzw. Schälschäden auftreten. Da die Fütterung die Erhaltung eines beinahe beliebig hohen Rotwildbestandes über den Winter ermöglicht, sind Menge und Qualität der in der Vegetationsperiode verfügbaren Naturäsung für die tatsäch liche Lebensraumkapazität ausschlaggebend. Somit ist die entsprechende Anpassung der Wildbestände an den Lebensraum eine Grundvoraussetzung für die Vermeidung von Wildschäden. Erst dann kann die Winterfütterung ihre Funktion wirklich erfüllen. Die weitere unabdingbare Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie richtig und konsequent durchgeführt wird. Durch eine zu kurze Fütterungs periode, einen falsch gewählten Fütterungsstandort, unzureichende und un regelmäßige Futtervorlage oder ungeeignetes Futter können Wildschäden sogar erhöht werden. Bei richtiger Durchführung kann die Winterfütterung des Rotwildes im Hinblick auf die Vermeidung von Wildschäden als sinnvolle Maßnahme bezeichnet werden. Bei den derzeit vorhandenen Lebensraumbedingungen kann man oft gar nicht auf sie verzichten! Andererseits darf aber nicht verheimlicht werden, dass mit ihr auch Probleme verbunden sind. Dazu zählt vor allem das Risiko einer leichteren Übertragung von Krankheiten im Bereich der Fütterungsstandorte. Dabei geht es nicht nur um Parasiten, sondern in extremen Fällen auch um die Erreger bestimmter Infektionskrank heiten, die sich vor allem dann leicht verbreiten können, wenn sich das Rotwild bei den Fütterungen in großer Anzahl sammelt. Dieses Thema wird in einer der weiteren Folgen dieser Serie noch ausführlicher behandelt. Der 2. Teil – Fütterung des Rehwildes – folgt in einer der nächsten Ausgaben. Das an den Winter angepasste Rotwild benötigt die Winterfütterung nicht – der Mensch braucht sie aber zur Wahrung seiner eigenen Interessen! Foto Michael Breuer Foto Rainer Bernhardt Wiesenheu, Grasund Maissilage sind die am meisten verwendeten Futtermittel und verfügen über einen ausge wogenen Nähr stoffgehalt WEIDWERK 1/2015 18.12.2014 11:19:29
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